Mirjam Wittig
An der Grasnarbe
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
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Umschlaggestaltung: Nurten Zeren, Berlin
eISBN 978-3-518-77242-3
www.suhrkamp.de
Unter deiner Führung werden etwa noch verbliebene Spuren unseres Frevels ihre Wirkung verlieren und so die Lande von ständiger Furcht befreien. […] Die Erde muss keine Hacke mehr erdulden, die Rebe keine Sichel; auch der starke Pflüger wird seine Stiere vom Joch befreien. Die Wolle muss nicht mehr lernen, verschiedene Farben vorzutäuschen, vielmehr wird der Widder auf der Wiese sein Fell von selbst bald in lieblich rotem Purpur, bald in krokusfarbenem Gelb erstrahlen lassen; von selbst wird weidende Lämmer Scharlach kleiden.
Vergil, Eclogae
An der Grasnarbe
In Paris konzentriere ich mich die ganze Zeit auf anderes, um nicht, es wird mir hier nicht, auf dem Weg nicht, es wird diesmal: Ich atme rechtzeitig tief ein und aus, falte die Lunge auf, die Lunge wieder ein wie eine Papiertüte entlang ihrer Knicke.
Wenn ich die Augen einen Moment über das Blinzeln hinaus schließe, sehe ich wieder einen, sehe ihn in die Luft gehen, mich unter einen Sitz klappen, sehe ich die Explosion, den Kopf eingezogen, fühle die Druckwelle, höre, sehe, wie einer ein Zeichen und dann etwas drückt, ein Zeichen macht und etwas schreit, und dann ist alles zerfetzt. Ich öffne die Augen. Als ob ich wüsste, was eine Druckwelle mit dem Körper macht.
Ich atme und atme und konzentriere mich möglichst darauf, ich beachte die Gepäckstücke nicht, die Gepäckstücke von Männern (auf allen Bildern und Audiospuren sind es Männer), ich beachte ihre Tagesrucksäcke nicht, ihre Gürteltaschen, Koffer, Tüten, Reisetaschen. Ich höre die Kofferrollen nicht, die über die Schwellen der Rolltreppen klacken oder über die Platten am Boden. Es klackt ohne mich. Auf die Lungenflügel, meine im Brustkorb eingeknickten Flügel, konzentriere ich mich, auf meine Schritte, auf den Weg. Durch die gewölbten Fenster fällt schon die Dämmerung, in der Halle laufen die Menschen in Feierabendströmen, hunderte Nachhausewege, Pendelschritte in die Bahn, in die Nachbarstädte oder die Banlieues. Alle kennen sich aus in den identisch aussehenden tunnelartigen Passagen, kein Zögern ist zu erkennen, niemand fingert nach wenigen Schritten schon wieder, noch einmal, ein letztes Mal noch die Fahrkarte aus dem Rucksack, als wäre sie ein Kompass.
Es funktioniert. Ich kann die Ordnung halten. Ich beachte das helle Rattern der Gepäckwagen nicht (Gepäckwagen, wie sie auf den Aufnahmen des Brüsseler Flughafens zu sehen waren, einer darauf trug einen Fischerhut, schlimm genug, ein Hütchen war das, ein unfassbar banales Detail). Ich sehe niemanden lang genug an für einen echten Verdacht, einen unerträglichen Verdacht, den ich nie wiedergutmachen kann. Wie ich keine dieser Situationen wieder einholen kann, zurückdrehen, ich kann nicht einfach zu einem hingehen und sagen: Es tut mir leid. Tut mir leid, wirklich, dass ich einen wie dich, nein, konkret dich für einen Mörder halte – das ist mein Fehler. Stattdessen sehe ich die Platten am Boden an und Pfeile darauf, die mir den Weg zum Bahnsteig weisen. Durch die Passage und hinunter, zur Metro, einen der Schächte hinunter, tiefer gelegen und wärmer ist es hier, hier unten in den U-Bahn-Schächten, den U-Bahn-Gedärmen.
Am Bahnsteig ist die Wasserflasche in meiner Hand wie ein Baseballschläger aus Alu, das denke ich nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ein wenig Beruhigung liegt trotzdem darin. Ich trinke in kleinen Schlucken, um mich heben und senken die anderen die Brustkörbe, eng an mir, nah, fast nackennah, ihre Atemwolken. Im Gedränge ist das nicht einzuschätzen, ob einer in meiner Nähe so einen Gürtel umgeschnallt oder etwas in seiner Sporttasche – ob da einer nervös aussieht, übernächtigt, wie einer, der gleich eine Pistole zieht.
Den blanken Boden kann ich am Gleis nur selten sehen, so viele Schuhe stehen darauf.
Die Bahn fährt ein, Luft kommt mit ihr aus dem Schacht und reißt an den Bändern meines Rucksacks, der Wind macht ein Geräusch, als er so aus dem Tunnel platzt. Ich muss die Schultern erst wieder entkrampfen. Vor mir stößt eine aus der U-Bahn, eine junge Frau stößt zu einem hin, als sich die Türen öffnen, wird von ihm begrüßt. Ich drehe den Kopf zu ihnen hinüber, um den Moment der aufkommenden Münder nicht zu verpassen, ihr großes Lächeln vorher und dann die Gesichter, wie sie an den Lippen heftig aufschlagen.