Jennifer Clement
Auf der Zunge
Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
Suhrkamp Verlag
Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.
Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.
Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.
Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von
§ 44b UrhG vor.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets
der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.
Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung
des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München
Umschlagfoto: Patrick Miller
eISBN 978-3-518-77222-5
www.suhrkamp.de
O, stürmisch Volk, in Dir wohnt keine Treue.
Geoffrey Chaucer
Die Canterbury-Erzählungen, ›Die Erzählung des Klerk‹
Und wenn ich träume, dass du mein bist, bist du mein,
Denn all unsere Freuden sind bloß Fantasie.
John Donne
Elegy X: The Dream
Auf der Zunge
Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffsmanns.
Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.
An ihrem Körper klebt der Geruch vom Zug des Zugmanns und vom Feuer des Feuerwehrmanns.
Die Frau läuft und sieht hoch in einen Wald aus Feuertreppen. Die Metallleitern sind draußen an den Häusern montiert und führen vom Bürgersteig hoch, am Haus hoch, bis hoch zum Dach. Die schwarzroten Gerüste, die Stufen und waagerechten Podeste aus Stahlgittern, werfen Schatten an die Mauern.
An einem der Absätze hängen drei Paar Jeans und ein Paar rote Socken über dem rostigen roten Geländer. Auf einem anderen stehen Blumentöpfe. Grün gefleckte schwarze Stöcke, die in ein paar Monaten Blätter und Blüten tragen, stecken in der Erde.
Das Geflecht aus stählernen Treppen umringt und überragt sie, und auch die Tauben, Amseln und Schwalben nisten und hocken im Schatten des Metalls.
Die Frau will die Leitern hoch in den Himmel klettern.
Unter den geriffelten Schatten der Feuertreppen führt ihr Weg sie auf und ab durch die Straßen der Insel.
Während sie das Kreuzundquer der bebuchstabten Avenues und nummerierten Straßen kreuzt, spricht sie mit Fremden. Unbekannte Hände berühren ihre Hände, berühren ihre Wange, berühren ihr Haar, und unbekannte Münder hauchen auf ihr Haar, ihre Wange, ihre Hände.
Jeden Abend, wenn sie spät nach Hause kommt, fragt ihr Mann: »Wo bist du gewesen?«
An ihrem Körper klebt die Erinnerung an das Verbrechen des Verbrechers.
An ihrem Körper klebt der Geruch vom Feuer des Feuerwehrmanns.
Sie ist das Fleisch des Schlachters.
Sie ist der Klang der Gebete des Ablasspredigers.
Ihre Ehe endete an einem Tag in einer Woche in einem Monat in einem Jahr. Es war ein Moment, und sie wurde eins – ein Mensch statt ein Teil von zwei. In jenem Moment schloss sie die Augen und erinnerte sich an ihre Stimme am Tag ihrer Trauung, als sie sagte »Ja« und »Ich will!«.
»War es wirklich an einem Tag? In einem Moment? War das möglich? Kann man das Ende einer Liebe sehen, wenn es so weit ist, oder nur im Rückblick?«
Ihre Ehe endete im Frühling, als die ersten Aprilschauer auf die Stadt fielen und die Regentropfen auf den Feuerleitern rot vom Rost waren. Es war ein Tag, an dem die Stadt sich im neuen Frühling krümmt und knarrt und splittert.
An diesem Tag wusste sie, sie würde die Kerzen neben den Vorhängen brennen lassen, würde barfuß laufen, mit Streichhölzern spielen, an Wände malen, die Finger in die Steckdose stecken, falschen Alarm schlagen, die Haustür offen lassen, über Rot gehen, im Dunkeln das Haus verlassen, mit einem Stift in der Hand laufen, falschen Alarm schlagen, Süßigkeiten von Fremden annehmen, falschen Alarm schlagen, hinter einem Pferd herlaufen und vor Anbruch des Tages das Haus verlassen.
Die Frau denkt an ihren Hochzeitstag, sie läuft durch die Straßen und schaut in den blauen Himmel zwischen den Häusern. An jenem Tag hat sie alles richtig gemacht und Unglück und Neid und den Zorn der Geisterwelt abgewehrt. Sie trug einen Schleier und in der Hand eine Kerze, um die Dämonen zu verscheuchen, die das Licht fürchten.
Am Hochzeitsmorgen stand sie unter der Chuppa, die Schutz und Obdach verspricht. Siebenmal umkreiste sie ihren Bräutigam, lief immer wieder um ihn herum wie um einen Baum, um Gott zu zeigen, was für eine wichtige Rolle ihr Mann in ihrem Leben spielt.
Die Frau hörte die Sieben Segnungen und sagte: »Gesegnet seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums.«
Als sie dort unter dem Baldachin stand, dachte die Frau, ein Stück Stoff kann ein Stück Himmel sein kann ein Schleier sein kann ein Tempel sein kann eine Wolke sein. Sie hörte die Worte »Der Du alle Dinge zu Deiner Herrlichkeit erschaffen hast … der Du den Mann erschaffen hast … der Du den Mann nach Deinem Ebenbilde erschaffen hast … der Du Freude und Glück erschaffen hast … der Du den Bräutigam mit der Braut erfreust.«
Am Ende der Hochzeit zertrat ihr Mann das Weinglas, und obwohl er es in ein Taschentuch gewickelt hatte, flogen die Scherben in alle Richtungen. Ein paar Splitter und Scherben landeten auf ihren weißen Satinslippern. Die Frau wusste, sie war eine Braut, die durch die Ruine des Tempels lief.