3Paul Mason
Faschismus
Und wie man ihn stoppt
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
Erste Auflage dieser Ausgabe 2022
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
© Paul Mason, 2021
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
Umschlagfoto: Peter Dazeley / Getty Images
eISBN 978-3-518-77006-1
www.suhrkamp.de
5Für die Antifaschisten – die vergangenen, die gegenwärtigen und die zukünftigen
»Die Geschichte lehrt uns, dass Ideen tödlich sein können.«
Karl Loewenstein, antifaschistischer Jurist und Politikwissenschaftler, 19371
Die Faschisten sind zurück – aber warum?
Was wäre, wenn das NS-Regime eine Zeitmaschine erfunden und sich in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs entschlossen hätte, eine SS-Einheit in die Zukunft zu schicken, um das »Vierte Reich« zu errichten? Für welches Jahr wäre wohl die Landung programmiert worden?
75 Jahre dürften damals wie ein angemessener Zeitraum erschienen sein. Die meisten Zeugen des Holocaust würden bis dahin tot sein. Machen wir ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, im März 2020 landet ein Trupp nationalsozialistischer Zeitreisender in Europa. Die Mitglieder der Einheit sind schockiert vom Ultraliberalismus der westlichen Gesellschaft. Sie staunen über unsere digitalen Technologien, und zu ihrem Entsetzen stellen sie fest, dass die Musik von Afroamerikanern die Welt erobert hat. Aber dann …
Dann sehen sie, dass hinduistische Mobs in Delhi mit Eisenstangen auf linke Studenten einprügeln. Sie sehen, dass die rechtsextreme Partei Vox die spanischen Medien mit einer gewalttätigen Rhetorik gegen Migranten, Feministen und die Linke überflutet und damit bei der Parlamentswahl 2019 3,7 Millionen Stimmen gewonnen hat. Sie entdecken, dass eine Million chinesische Muslime in Anlagen interniert worden sind, die große Ähnlichkeit mit Konzentrationslagern haben – und dass sich offenbar niemand dafür interessiert.
Als sie erst einmal herausgefunden haben, wie das Internet funktioniert, und wissen, was ein Meme ist, bringt sie eine Karikatur, in der ein Frosch mit dem Namen »Honk Honk10ler« zu sehen ist, zum Lächeln. Ihr Lächeln wird breiter, als sie erfahren, dass in Deutschland eine Bundeswehreinheit aufgelöst worden ist, weil sie von Neonazis infiltriert war. Als sie tiefer schürfen, stellen sie fest, dass alle Ideen in ihren Köpfen – rassische Reinheit, männliche Suprematie, Antisemitismus und Führerkult – weltweit in Discord-Kanälen und Whatsapp-Gruppen verbreitet werden und Millionen wütende Anhänger haben.
Als sie sich eingewöhnt haben, wird ihnen klar, dass sich etwas noch Größeres zusammenbraut. Es ist eine Krankheit. Sie tötet Menschen. Als sich das Virus Covid-19 in den Vereinigten Staaten ausbreitet, sehen sie, wie rechtsextreme Demonstranten, von denen einige automatische Waffen tragen, durch die Straßen ziehen und das Recht einfordern, sich mit dieser Krankheit anzustecken.
George Floyd wird ermordet. In den Internetforen der Alt-Right brodelt die Vorfreude: Es ist so weit, »Boogaloo« ist da, das Codewort der weißen Suprematisten für einen zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. Zehntausende Demonstranten, die auf die Straße gehen, um gegen die Ermordung Floyds zu protestieren, werden von rechtsextremen Milizen attackiert, die teilweise mit der Polizei unter einer Decke stecken.1
Trump verliert die Wahl, aber da sie aus den dreißiger Jahren angereist sind, kann das, was als Nächstes geschieht, unsere Faschisten nicht überraschen: Trump ruft einen rassistischen Mob auf, sich in Washington vor dem Kapitol zu versammeln, und stachelt die Menge dazu auf, das Gebäude zu stürmen. Es überrascht die Zeitreisenden auch nicht, dass Parlamentarier der Republikanischen Partei den Angriff rechtfertigen. Schließlich war es in den dreißiger Jahren eine unter Politikern verbreitete Praxis, Gewalt zu legitimieren.
Was tun die Besucher aus der faschistischen Vergangenheit, 11während die extreme Rechte einen vierjährigen Aufstand gegen die Regierung Biden beginnt? Sie kaufen Popcorn, entspannen sich und genießen das vergnügliche Spektakel. Ihre Mission war nicht erforderlich.
Der Faschismus ist zurück – ohne dass jemand nachhelfen musste. Etwas anderes war bereits da. Aber was? Und was können wir dagegen tun? In diesem Buch werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten.
Als meine Generation in den siebziger Jahren Skinheads »Nie wieder!« zurief, verstanden wir diesen Slogan nicht als Ziel, sondern als Tatsache. Der Faschismus war Geschichte: ein Produkt für immer beseitigter gesellschaftlicher Hierarchien, ein Phänomen, das durch eine Art von Wirtschaftskrise heraufbeschworen worden war, die sich nie wiederholen würde. Wir hatten gute Gründe für diesen Glauben. Der Historiker Ernst Nolte, der im Jahr 1963 die erste vergleichende Studie des internationalen Faschismus vorgelegt hatte, hatte das Phänomen für »tot« erklärt. Wir hätten alle möglichen Varianten des Faschismus gesehen, schrieb Nolte: Diese historische Episode sei abgeschlossen.2
Als die digitale Ära anbrach und Staaten und Unternehmen ihr Monopol auf Informationen verloren, hatte es den Anschein, als könnten die Eliten nie wieder die öffentliche Meinung manipulieren wie einst Hitler und Mussolini. Noch im Jahr 2008 konnte der Historiker Giuseppe Finaldi in einem Lehrbuch über Mussolini schreiben: »Der Faschismus sagt uns heute nichts mehr, und viele seiner Obsessionen wirken nicht nur absurd, sondern unverständlich.«3 Wir nahmen an, dass der Faschismus nie wiederauferstehen könne, da wir die Wahrheit über ihn herausgefunden hatten.
Mittlerweile ist klar, dass alle diese Annahmen falsch waren.
12Im Lauf des vergangenen Jahrzehnts sind rechts vom Mainstream-Konservatismus drei politische Bewegungen aufgeblüht: Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und autoritärer Konservatismus. Eine ganze Teildisziplin der Politikwissenschaft beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen den drei Strömungen und hat zahlreiche Typologien, Definitionen und Etiketten entwickelt.4
Rechtsextremisten befürworten normalerweise einen »Rassenkrieg«, begehen Gewaltakte und kämpfen offen für die Beseitigung der Demokratie. Rechtspopulisten bekämpfen die Menschenrechte, stigmatisieren Minderheiten, versuchen, die Massen zu mobilisieren, sind jedoch im Allgemeinen nicht gewalttätig, sondern konzentrieren sich darauf, Wahlen zu gewinnen, wozu sie oft neue politische Parteien gründen. Autoritäre Konservative übernehmen die Rhetorik der Populisten, sind jedoch innerhalb von Mainstream-Parteien, Netzwerken der Elite und traditionellen staatlichen Institutionen tätig.
So weit die Theorie. Das Problem ist, dass diese drei Strömungen in der Realität begonnen haben, ganz bewusst Synergien zu erzeugen. Seit den neunziger Jahren nahmen die Politikwissenschaftler an, rechtspopulistische Parteien würden als Brandmauer gegen den eigentlichen Faschismus dienen. Tatsächlich ist das Gegenteil geschehen. Die Brandmauer hat Feuer gefangen.
Seit 2008 haben die Bewegungen rechts von der politischen Mitte eine gemeinsame Sprache, einen gemeinsamen Raum im Internet und ein gemeinsames Ziel gefunden: Sie wollen illiberale Demokratien errichten, die in der Lage sind, Koalitionen von Populisten und Autoritären dauerhaft an der Macht zu halten, den Rechtsstaat zu untergraben und die auf Regeln beruhende Weltordnung zu zerschlagen.
13In den zehner Jahren wurden drei der bevölkerungsreichsten Demokratien – die USA, Indien und Brasilien – rasch und gründlich untergraben. In mehr als der Hälfte der entwickelten Länder ist die Qualität der Demokratie in den letzten vierzehn Jahren gesunken. »Die Funktionstüchtigkeit des Staates, die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die Rechtsstaatlichkeit sind die Bereiche, in denen die meisten Einbußen zu beobachten sind«, erklärt die Monitoring-Gruppe Freedom House.5 Dieser als »demokratischer Verfall« bezeichnete Prozess hat unsere Widerstandskraft gegen den eigentlichen Faschismus verringert und einen Raum geschaffen, in dem die Faschisten operieren können.
Der französische Neofaschist Maurice Bardèche, der sein Leben der Leugnung des Holocaust widmete, sagte bereits 1961 eine Rückkehr des Faschismus in anderer Form voraus: »Mit einem anderen Namen, einem anderen Gesicht und ohne jeden Hinweis auf den Entwurf der Vergangenheit, in Gestalt eines Kindes, das wir nicht wiedererkennen, und mit dem Kopf einer jungen Medusa wird der Orden Spartas wiedergeboren werden.«6
Bardèche erklärte, nicht die SS-Einheiten und die Folterzellen hätten das Wesen des faschistischen Projekts ausgemacht, sondern sein Konzept von »Mensch und Freiheit«. Heute ist das faschistische Konzept von Mensch und Freiheit im Internet nur wenige Klicks entfernt, egal wonach man auf Youtube, Facebook oder Twitter sucht.
Meine Generation hat sich also geirrt. Wie sich herausgestellt hat, lagen die Wurzeln des Faschismus nicht in der spezifischen Klassendynamik Europas in den dreißiger Jahren. Es ist keine Massenarbeitslosigkeit erforderlich, um ihn hervorzubringen. Er ist nicht auf eine Niederlage im Krieg oder auf die Existenz staatlicher Radiosender angewiesen. Er ist 14ein wiederkehrendes Symptom des Systemversagens im Kapitalismus.
Und das entscheidende Versagen, von dem der Faschismus profitiert, ist nicht wirtschaftlicher, sondern ideologischer Natur. In normalen Zeiten stützt sich der Kapitalismus auf ein gleichermaßen passives und allgegenwärtiges System von Überzeugungen. Einfach um leben zu können, müssen wir glauben, dass die Märkte natürlich funktionieren, dass der Staat fair und gerecht ist, dass harte Arbeit belohnt werden wird, dass der technologische Fortschritt unser Leben sowie das unserer Kinder besser machen wird. Diese Überzeugungen stellen in ihrer Gesamtheit eine Ideologie dar. Wir reproduzieren und verstärken sie durch unsere tägliche Erfahrung am Arbeitsplatz, daheim und in allen Räumen dazwischen.
Der Faschismus setzt sich fest, wenn wir den Glauben an diese Alltagsideologie verlieren und nicht in der Lage sind, sie durch eine progressive Alternative zu ersetzen. Aber er ist eine andersartige Ideologie: Der Faschismus kann nur durch außergewöhnliche Erfahrungen verstärkt und in den Köpfen der Menschen reproduziert werden: durch Krieg, Viktimisierung und Genozid.
Historiker studieren den Faschismus traditionell unter drei Gesichtspunkten: als Ideologie, als Bewegung und als Regime. Obwohl er all das ist, lautet die Prämisse dieses Buchs, dass wir den Faschismus nur wirklich verstehen können, wenn wir ihn als Ergebnis eines Prozesses betrachten, nämlich eines Prozesses der sozioökonomischen Desintegration, die das Leben von Millionen Menschen durcheinanderbringt, ihr Selbstbild erschüttert, den Wunsch bei ihnen weckt, einen Haufen Lügen zu glauben und sich sogar aktiv an der Erfindung und Verbreitung dieser Lügen zu beteiligen.
Ich werde versuchen, folgende Fragen zu beantworten: Wel15che Faktoren treiben diesen Prozess heute an? Welche Faktoren trieben ihn in der Vergangenheit an? Und wie können wir ihm Einhalt gebieten?
Es ist klar, worin der Kern des heutigen faschistischen Glaubenssystems besteht: Die ethnischen Mehrheitsgruppen sind »Opfer« von Einwanderung und Multikulturalismus; die Errungenschaften des Feminismus sollten rückgängig gemacht werden; die Demokratie ist verzichtbar; Wissenschaft, Universitäten und Medien sind nicht vertrauenswürdig; die Nationen haben die Orientierung verloren und müssen ihre frühere »Größe« wiedererlangen; ein nicht näher bestimmtes katastrophales Ereignis wird die Dinge wieder ins Lot bringen.
Jeder Faschist glaubt all das und mehr; jeder rechtspopulistische Wähler glaubt mittlerweile einen Teil davon; der autoritäre rechte Politiker appelliert in verschlüsselter Form an einige dieser Überzeugungen, um Vorteil daraus zu schlagen. Ob ein Konservativer antifaschistisch ist, kann man daran erkennen, ob er bereit ist, all diese Überzeugungen in Wort und Tat zu bekämpfen.
Aber was die modernen Faschisten von den Populisten und Rechtskonservativen unterscheidet, ist ihr Endziel: ein globaler Rassenkrieg, der eine Welt der ethnischen Monokulturen hervorbringen und die moderne Gesellschaft beseitigen wird.
Die gegenwärtige Stärke des Faschismus kann nicht an den Wahlergebnissen gemessen werden: In den meisten westlichen Ländern geben die Faschisten normalerweise rechtspopulistischen Parteien ihre Stimme, die sich damit begnügen, die Verbindungen und den politischen Raum zu nutzen. Seine Position kann auch nicht anhand der Teilnehmerzahlen bei 16rechtsradikalen Kundgebungen beurteilt werden, denn die eigentliche Mobilisierung findet im Internet statt. Gegenwärtig kann man die Stärke des Faschismus am besten an der Präsenz seiner Ideen messen, die sich rasch in den sozialen Medien verbreitet haben.
Der Grund für ihre Ausbreitung ist offenkundig: Als im vergangenen Jahrzehnt die freie Marktwirtschaft versagte, die Globalisierung zurückgeschraubt wurde, der Klimawandel eine radikale Neudefinition unserer Prioritäten erforderlich machte und schließlich die Corona-Pandemie die wirtschaftlichen und geopolitischen Spannungen verschärfte, löste sich die Ideologie, die der Welt in den Augen vieler Menschen einen Sinn gegeben hatte, in ihre Bestandteile auf. Der Faschismus bietet an, diese Ideologie durch eine neue Utopie zu ersetzen, die auf Rassismus, Misogynie und Gewalt beruht.
Wir können diesen Prozess auf der individuellen Ebene verfolgen. In den vierziger Jahren äußerten manche die Ansicht, der Nationalsozialismus sei ein Produkt des »deutschen Charakters«. Die Philosophin Hannah Arendt hielt dem entgegen, dass er in Wahrheit durch die Desintegration des deutschen Charakters verursacht worden sei.7 Heute sind wir mit einem ähnlichen Problem konfrontiert, nämlich mit der Desintegration eines globalen menschlichen Charakters – jenes typischen »Selbst«, das im Verlauf der Globalisierung der freien Märkte entstand und jetzt im Dunkeln tappt, da das ganze System implodiert.
Auf der Suche nach einem Feind hat die extreme Rechte in Anlehnung an die nationalsozialistische Rhetorik der zwanziger Jahre dem »Kulturmarxismus« den Kampf angesagt. Aber da die Zahl der tatsächlichen Marxisten gering ist, müssen Feministen, People of Color, Klimaforscher, Geflüchtete, 17Rechtsanwälte und LGBTQ+-Personen stigmatisiert, schikaniert und durch »Doxxing« (Veröffentlichung persönlicher Information im Internet) aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden. Während der Pandemie wurde die Liste der Ziele um Vertreter der öffentlichen Gesundheitssysteme erweitert: In der rechtsextremen Folklore sind sogar Atemschutzmasken »marxistisch«.
Wenn wir eine Lehre aus den Geschehnissen im 20. Jahrhundert ziehen können, so diese: Haben einmal Millionen Menschen die faschistische Denkweise übernommen, so sind sie mit nicht weniger als der totalen Zerstörung zufrieden. Im Jahr 1945 flehte der Schriftsteller und Journalist Wassili Grossman nach einem Besuch des Vernichtungslagers Treblinka die kommenden Generationen an:
Jeder Mensch ist heute vor seinem Gewissen verpflichtet, […] vor dem Vaterland und der Menschheit mit der ganzen Kraft seiner Seele und Vernunft auf die Frage zu antworten: was hat den faschistischen Rassenwahn hervorgebracht, was muß geschehen, damit der Nazismus, der Hitlerismus, niemals wieder, weder auf dieser, noch auf der andern Seite des Ozeans auferstehen kann, nie wieder, bis in alle Ewigkeit?8
Er forderte uns nicht auf, darüber nachzudenken, wie schlimm der Faschismus war, welche gewaltigen Kosten er verursachte, wie irrational seine Ideen waren – sondern was ihn verursacht hatte. Seine Antwort beschreibt sehr gut, was heute geschieht: »Die imperialistische Idee der nationalen, rassenmäßigen oder irgendeiner anderen Sonderstellung hat die Hitlerleute logisch zur Errichtung von Maidanek, Sabibur, Belschiza, Oswienziem, Treblinka geführt.«9
Eine andere Bezeichnung für diesen Exzeptionalismus ist die Suprematie – der Weißen über People of Color, der Män18ner über Frauen, der »einheimischen« Bevölkerung über Einwanderer, der Kolonisten über die indigenen Völker des Globalen Südens. Grossman verstand, dass hinter jeder suprematistischen Ideologie ein genozidaler Impuls lauert, hinter dem sich – wie wir sehen werden – eine noch tiefere Sehnsucht nach der Selbstzerstörung verbirgt.
Im Holocaust wurden sechs Millionen Juden ermordet. Im Zweiten Weltkrieg wurden sechzig Millionen Menschenleben ausgelöscht, drei Viertel der Opfer waren Zivilisten.10 Es fällt uns schwer, diese Zahlen zu begreifen, aber eine zweite faschistische Ära könnte noch höhere Kosten verursachen.
Im Jahr 2018 besuchte ich das ehemalige Konzentrationslager Majdanek in der Nähe von Lublin, wo mindestens 80 000 Juden, Polen, Russen und andere Menschen ermordet worden waren. Mir fiel die instabile Konstruktion auf: ein paar Betonpfeiler von wenigen Zentimetern Durchmesser, ein doppelter Stacheldrahtzaun und ein paar Wachtürme aus Fichtenholz.11 Fünfhundert Insassen gelang die Flucht aus Majdanek. Heute würde niemand mehr aus einer für einen solchen Zweck errichteten Anlage entkommen.
Im 21. Jahrhundert würden an einem solchen Ort Gesichtserkennung, biometrische Identifizierung, elektrifizierter Klingendraht und Taser eingesetzt, um die KZ-Häftlinge unter Kontrolle zu halten. Die Umfriedung würde nicht mit Hunden und Suchscheinwerfern, sondern mit tödlichen automatischen Waffen gesichert. Das Lager wäre ein Wirtschaftsbetrieb mit eigener PR-Abteilung und einem Emissionszertifikat und hätte so wie Guantanamo einen Souvenirladen für Besucher und Personal.
Das Einzige, was man bräuchte, um ein modernes Gefängnis oder Auffanglager für Migranten in ein Todeslager zu verwandeln, wäre das, was die Nationalsozialisten an Orte 19wie Majdanek brachten: eine erbarmungslose Logik der Entmenschlichung.
Majdanek wurde von der Roten Armee befreit. Aber wer würde ein modernes Majdanek befreien? Diesmal ist die Gefahr absolut. Ein zweiter Sieg des Faschismus in einem großen Land würde das Überleben der Menschheit bedrohen.
Das Einzige, was ihn aufhalten wird, sind widerstandsfähige Institutionen und der Antifaschismus der Normalbürger. Aber wie könnte dieser Antifaschismus aussehen?
Von den siebziger bis in die neunziger Jahre war ich ein antifaschistischer Aktivist – erst in der Anti-Nazi League und dann in Anti-Fascist Action. Wir störten faschistische Veranstaltungen und wandten dabei Methoden an, die potenzielle zukünftige Teilnehmer abschrecken sollten. Wir gingen gemeinsam mit Zehntausenden Menschen auf die Straße, um die Schließung der Zentrale der British National Party (BNP) in London zu erzwingen, und holten uns bei den Auseinandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei blutige Köpfe.12 Wir wurden überwacht, schikaniert und von verdeckten Ermittlern infiltriert. Und wozu all das?
Indem wir die Faschisten von der Straße verdrängten, zwangen wir sie zu einem Umweg über die Wahlurnen, und mittlerweile sind die Vorstellungen, die in den achtziger Jahren von der BNP vertreten wurden, von der Konservativen Partei übernommen worden. Tory-Abgeordnete feiern ganz offen die Geschichte Großbritanniens als Sklavenhalternation und denken über die Massendeportation von Geflüchteten in Internierungslager auf abgelegenen Inseln nach. Mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder sehen im Islam eine »Bedrohung für die westliche Zivilisation« und für die »britische Lebensart«.13
20Als Kind spielte ich in der Bergbaustadt Leigh in Lancashire in aufgegebenen Bombenschutzkellern, deren Wände mit antifaschistischen Parolen aus dem Krieg übersät waren. Als ich mich im Jahr 2019 in Leigh am Labour-Wahlkampf beteiligte, hörte ich Männer meines Alters offen über eine ethnische Säuberung sprechen, deren Ziel die rumänischen Einwanderer sein sollten. »Man sollte sie nachts zuhause abholen, mit ihren Kindern in einen Laster setzen und nach Dover bringen«, lautete die Forderung. »Und was dann?«, fragte ich. Die Antwort war ein peinlich berührtes Grinsen.
All die Ziegelsteine, Flaschen und Schimpfworte, die wir den Skinheads in den siebziger Jahren entgegenschleuderten, verhinderten nicht, dass die hirnlosen Thesen von der weißen Suprematie in die Köpfe der Menschen eindrangen, als die globale Finanzkrise einen ideologischen Zusammenbruch auslöste.
Um den Faschismus zu stoppen, müssen wir dieselben Fragen beantworten, mit denen die Progressiven in den dreißiger Jahren konfrontiert waren: Wie können wir die Linke und die politische Mitte dazu bringen, die Bedrohung gemeinsam zu bekämpfen? Wie können wir den Rechtsstaat und das staatliche Gewaltmonopol verteidigen, die von rechtsextremen Bewegungen untergraben werden? Können Sicherheits- und Nachrichtendienste, die die Elite vor der Arbeiterklasse schützen, jemals wirksam eingesetzt werden, um die Demokratie vor dem Faschismus zu beschützen? Wie können wir durch Hoffnungslosigkeit und den Romantizismus der Gewalt radikalisierte Menschen zur Deeskalation bewegen? Wie können wir Demokratien wiederbeleben, die so korrupt und heruntergekommen sind, dass sie in den Augen vieler desillusionierter Menschen nicht wert sind, gerettet zu werden?
Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen, weil 21wir mit jeder Antwort unseren eigenen Status riskieren. Wenn Sie dieses Buch im Zug, im Café, am Strand oder in einem Klassenzimmer lesen, hat sein Umschlag bereits den Raum politisiert, in dem Sie sich befinden. Dank Donald Trump werden Sie mittlerweile überall stigmatisiert, wenn Sie sich als Antifaschist zu erkennen geben.
Ich erinnere mich noch lebhaft an den Augenblick, in dem ich erstmals verstand, dass es den Faschismus gab. Es war Mitte der sechziger Jahre, ich war etwa fünf Jahre alt. Der Fernseher war eingeschaltet, und es begann gerade eine Dokumentation über die Befreiung des KZs Bergen-Belsen. Meine Mutter, deren Vater ein polnischer Jude war, sprang auf und schaltete den Apparat aus. »Das werden wir uns nicht anschauen!«, schrie sie.
Sie war im Jahr 1935 zur Welt gekommen und hatte ihre Kindheit in dem Wissen verbracht, dass sie sterben würde, sollten die Deutschen England erobern. Später wurde mir klar, dass sie nicht mich, sondern sich selbst vor den Bildern schützen wollte. Aber es gelang ihr nicht. Wenige Augenblicke lang sahen wir einen Bulldozer, der einen Haufen ausgemergelter Körper in eine Grube schob.14
Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sowohl die Erinnerung an den Faschismus als auch die Versuche zu seiner Erforschung teilweise aktiv unterdrückt wurden. Im Kino lernten wir, dass das NS-Regime Menschen in von Stacheldrahtzäunen umgebene Lager gesteckt und manchmal getötet hatte, aber die Opfer, die ich als Kind in Filmen sah, waren zumeist keine Juden, sondern britische Kriegsgefangene.15
Dann kam das Tauwetter: In den siebziger Jahren stellten Fernsehserien wie Holocaust und Filme wie Cabaret das Bild, das sich die breite Öffentlichkeit von den Nationalsozialisten 22gemacht hatte, auf den Kopf. Die Menschen, die diese Schreckenstaten verübt hatten, wurden nicht länger nur als KZ-Wärter in Knobelbechern dargestellt – jetzt waren sie ganz normale Deutsche: die Vermieterin, die Putzfrau, der bisexuelle Kabarettstar.
Schließlich begann in den achtziger Jahren eine lange Zeit, in der der Faschismus in der Popkultur kommerzialisiert wurde. Eine Generation, die nichts zu befürchten hatte und nicht unter posttraumatischem Stress litt, konnte nach Belieben Filme, Romane, Serien, Komödien und sogar Pornos konsumieren, die in der Welt des Faschismus angesiedelt waren.
Gleichzeitig wuchs die Gedenkstätte in Auschwitz, und in aller Welt entstanden Denkmäler und Holocaustmuseen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit neuen Dokumenten aus den dortigen Archiven füllten.
Die Folge ist, dass wir heute mehr als jede frühere Generation darüber wissen, was der Faschismus angerichtet hat, als er an der Macht war. Aber viele Leute wissen besorgniserregend wenig darüber, wie die Faschisten an die Macht kamen. In den zahlreichen Filmen und Serien wird uns fast nie gezeigt, wie es möglich war, dass sich Millionen Menschen mit Begeisterung an der Ermordung von Juden, Roma, Homosexuellen und Sozialisten beteiligten, dass sie sich schon früher vorgestellt hatten, das zu tun, obwohl sie ihre Stimme zu jener Zeit anscheinend einfach Protestparteien gaben.
Deshalb konzentriere ich mich in diesem Buch nicht auf die Regime, sondern auf den Prozess, der den Faschismus an die Macht bringt, und frage: Wie gelang es den rechtsextremen Parteien, aus der Isolation auszubrechen? Welche psychologischen Merkmale nutzten sie aus? Und warum gelang es der Linken nicht, sie aufzuhalten? Wenn wir Antworten 23auf diese Fragen finden, können wir Strategien entwerfen, um zu verhindern, dass es erneut geschieht.
Um den Faschismus zu verstehen, brauchen wir eine Theorie. Eine Sammlung von Fakten wird nicht genügen. Aber das Auftauchen des heutigen Rechtsextremismus macht es erforderlich, dass fast alle Faschismustheorien, die in den letzten sechzig Jahren entwickelt wurden, überarbeitet werden.
Bis in die achtziger Jahre konnte man mit Fug und Recht behaupten, der Faschismus sei das gewesen, was in den dreißiger Jahren geschehen sei, und die überlebenden rechtsextremen Gruppen seien lediglich Nachwehen jener Zeit. In den neunziger Jahren konnte man argumentieren, es sei ein neuer Rechtspopulismus aufgetaucht, der jedoch nicht mit dem Faschismus gleichgesetzt werden könne. Doch heute sind wir Zeugen einer realen und bedrohlichen faschistischen Wiedergeburt. Und während sich dieser moderne Faschismus anderer Organisationsformen und einer anderen Sprache bedient, schöpft er aus denselben philosophischen Quellen wie seine frühere Version.
»Warum geschah es ein Mal?« ist eine ganz andere Frage als »Warum geschieht es erneut?«. Die zweite Frage führt uns zu einer weiteren: Werden wir den Faschismus immer von Neuem besiegen müssen, solange es das kapitalistische System gibt? Ich fürchte, die Antwort ist ja.
24
Der Marxismus stellte zumindest in seiner orthodoxen Form in den zwanziger Jahren eine falsche Theorie des Faschismus auf. In den dreißiger Jahren war die marxistische Faschismustheorie unausgegoren, und im letzten Jahrzehnt wurde sie inkohärent. Der klassische Marxismus betrachtete den Faschismus als Agenten der Finanzelite, dessen Mission darin bestehe, die organisierte Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit zu zerschlagen, um eine Revolution abzuwenden. Doch heute gibt es kein revolutionäres Proletariat und keine Massenarbeitslosigkeit; und keine ernst zu nehmende Fraktion der Hochfinanz will oder braucht den Faschismus.
Und trotzdem ist er zurück.
Seit den siebziger Jahren haben die Historiker die Disziplin der »vergleichenden Faschismusstudien« entwickelt, und die Sozialwissenschaftler bieten verhaltensbezogene Erklärungen an. Ich werde mich in diesem Buch kritisch mit ihren Erkenntnissen auseinandersetzen, weil dies angesichts der plötzlichen Rückkehr der Bedrohung keine akademische Frage mehr ist.
Unsere Aufgabe besteht darin, eine neue Theorie des Faschismus zusammenzusetzen, die auf der Arbeit von Wissenschaftlern beruht, aber in erster Linie von Aktivisten gestaltet und angewandt wird. Sie muss nicht nur auf der Theorie, sondern auch auf der Erfahrung beruhen und geeignet sein, sofort auf die Bedrohung zu reagieren.
Wir brauchen mehr als eine Definition, weil Definitionen keine Erklärungen sind. Eine Checkliste der gemeinsamen Merkmale der historischen faschistischen Parteien wird nicht 25erklären, warum die eine als irrelevante Sekte endete, während es die andere schaffte, den europäischen Kontinent zu erobern. Auch ist es schwierig, anhand einer Definition einen Prozess zu beschreiben, in dem Personen, Parteien und Bewegungen, die nicht faschistisch waren, den Faschismus übernahmen.
Doch da das Bedürfnis nach definitiven Erklärungen ausgeprägt ist, werde ich meine persönliche anbieten: Der Faschismus ist Furcht vor der Freiheit, geweckt durch eine Ahnung von Freiheit.
Er ist die gewaltsame Mobilisierung von Menschen, die nicht frei sein wollen, rund um das Projekt der Zerstörung der Freiheit. Er ist, wie der Historiker und Antifaschist Enzo Traverso schreibt, »eine Revolution gegen die Revolution«.16
Die Menschen glauben seit je an die Möglichkeit der Selbstemanzipation. Diese war der Subtext aller humanistischen Religionen, das explizite Projekt der Aufklärung und das erklärte Ziel des Marxismus. Der Faschismus versucht, sie zu verhindern.
Die Nationalsozialisten setzten sich das Ziel, den gesamten menschlichen Fortschritt seit der Französischen Revolution von 1789 rückgängig zu machen und die historische Zeit so vollkommen einzufrieren, dass nie wieder eine Moderne, eine Aufklärung, ein Fortschritt möglich sein würde. Und genau das hat auch die extreme Rechte der Gegenwart vor.
Auf der Suche nach dem, was Menschen dazu bewegt, die Freiheit abzulehnen und zu verhindern, werde ich erklären, warum es nicht genügt, kontingente Faktoren wie Wirtschaftskrisen oder Klassengegensätze zu analysieren, auf die sich die Linke traditionell konzentriert.
Gegenwärtig gibt es keine faschistische Partei, die eine reale Chance auf die Macht hat, aber das könnte sich ändern. Bis 26zur Mitte des Jahrhunderts werden verschiedene Prozesse vom Klimawandel bis zur Deglobalisierung größeren Druck erzeugen als die Entwicklungen, welche die fragilen Demokratien des 20. Jahrhunderts zerstörten. Auf der anderen Seite sind wir der Freiheit möglicherweise näher, als uns scheint, wenn wir diese Herausforderungen gemeinsam mutig in Angriff nehmen.
Dieses Buch ist rund um drei Themen strukturiert. Diese sind: die Ideologie und Praxis des modernen Faschismus; der Prozess, in dem die ursprünglichen Faschisten ihre Bewegungen aufbauten und die Macht ergriffen, und seine Ähnlichkeit mit der gegenwärtigen Entwicklung; sowie die Suche nach funktionierenden Methoden des Widerstands gegen den Faschismus.
Es handelt sich hier weder um eine kritische theoretische Abhandlung noch um eine politikwissenschaftliche Arbeit oder eine akademische Geschichte des Faschismus. Dieses Buch wird bei Partys von Postmodernen nicht von Nutzen sein, es sei denn, man will es jemandem an den Kopf werfen. Auch enthält es keine erschöpfende Darstellung der rechtsextremen Organisationslandschaft; diese mutiert und wandelt sich so rasch, dass man die Websites von Aktivisten und NGOs zurate ziehen muss, um das Bild zu aktualisieren.
Die einfachste Methode, um den Faschismus zu stoppen, besteht darin, den eigenen Körper – nicht den Internetavatar – zwischen die Faschisten und ihr Ziel zu stellen. Ich habe das getan und weiß, dass es eine sehr wirksame Methode sein kann.
Aber der physische Widerstand, der seit den zwanziger Jahren die wichtigste Waffe der Antifaschisten ist, funktioniert nur, wenn er Teil einer umfassenderen politischen Strategie 27ist. Wenn die Faschisten Waffen tragen, von Präsidenten aufgehetzt werden und Rückendeckung vom größten Nachrichtensender des Landes erhalten, werden wir etwas Wirksameres als unseren persönlichen Mut brauchen: eine Theorie, eine Strategie und viele gleichgesinnte Menschen.
In diesem Buch erkläre ich, wie wir dorthin gelangen.