Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft
Band II: Heldenreisen
Peter Maier
Fachbuch
Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft
Band II: Heldenreisen
© Copyright Peter Maier
3. erweiterte Auflage 2020
Buchcover und Skizzen: David Sedlbauer
Verlag: Peter Maier, Hochfellnweg 2, 8210 Olching
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Mein Dank gilt meiner „Compagna“ Valeria Groten, die mich von Anfang an bei meinem Vorhaben bestärkt und mich bei der Entstehung des Buches in vielfacher Hinsicht beraten und unterstützt hat.
Ich danke Erika und Ulrich Imrich. Sie waren meine engagierten Lehrer in der Ausbildung zum Initiations-Mentor und haben mir wichtige Grundkenntnisse und „altes“ Wissen zum Thema „Initiation“, „Visionssuche“ und „walkAway“ vermittelt.
Mein Dank geht an Malidoma Patrice Somé, der mich von der Bedeutung und der Notwendigkeit von Initiationsritualen auch in unserem westlichen Kulturkreis überzeugt hat.
Ich danke Ludwig Aeckerle, der mir bei der Durchsicht des Manuskripts sehr behilflich war.
Ich möchte mich bei Michael Grün für seine kompetente Beratung in physikalischen Fragen bedanken.
Dank gebührt Christina Brunner für ihre vielseitige organisatorische Arbeit beim Entstehen des Buches, sowie für das Layout.
Ich danke Florian Maier für seine Beratung bei Kapitel 1.
Mein Dank geht an David Sedlbauer für die Gestaltung des Buchcovers und der Skizzen.
Ich danke epubli Berlin für die Möglichkeit, dieses Buch zu veröffentlichen.
Jugendliche brauchen Rituale, um den wichtigen Übergang ins Erwachsensein meistern zu können. Bleiben adäquate Prüfungen zum Erwachsensein – sogenannte „Initiationsprüfungen“ - aus, dauert es mitunter Jahre und Jahrzehnte, bis der Schritt in diese neue Lebensphase bewältigt wird. Computer- und Drogensucht, sowie eine Orientierungslosigkeit bis hin zur Depression können die Folgen einer Nicht-Initiation und des Hängenbleibens in der Jugendphase sein.
Andere Heranwachsende suchen sich instinktiv auf eigene Faust Prüfungen, um die neu erwachte Stärke, ihren Mut und ihre Kraft zu zeigen, die in der Pubertät freigesetzt worden sind. Aber diese selbst gewählten Rituale gehen nicht selten schief, wie verrückte Mutproben, gefährliche Autofahrten, das berüchtigte „Koma-Saufen“ oder zunehmende Gewaltausbrüche, oft verbunden mit Alkohol, zeigen. Es fehlen sowohl ein entsprechendes Bewusstsein über die Notwendigkeit von Initiation, als auch geeignete, öffentlich anerkannte Initiationsrituale. Darüber wurde in meinem ersten Buch „Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale.“{1} ausführlich berichtet.
Dieser zweite Band geht nun unter anderem der Frage nach, welche konkreten Rituale für die Jugendlichen in unserer Gesellschaft heute entwickelt werden können, um den Übergang ins Erwachsensein zu erreichen. In diesem Zusammenhang spielt die seelische Dynamik der Heranwachsenden selbst eine große Rolle: Jugendliche wollen erwachsen und initiiert werden, sie wollen die Anerkennung von uns Erwachsenen bekommen und sie benötigen gleichzeitig Hilfe von Erwachsenen, besonders von dafür ausgebildeten Mentoren, um bei diesem so wichtigen Schritt von der Adoleszenz ins Erwachsensein hinübergeführt und begleitet zu werden.
An dieser Stelle ergeben sich einige grundsätzliche Fragen, von deren Beantwortung meiner Meinung nach langfristig das Wohl und das Funktionieren unserer ganzen Gesellschaft abhängt:
Diese Fragen sollen Gegenstand des vorliegenden Bandes II sein. Wo aber sind die (Kraft)Quellen, aus denen wir heute schöpfen können, um die obigen Fragen sinnvoll und fundiert beantworten zu können? Mythen und Märchen können uns hier weiterhelfen. Denn sie enthalten schon immer im Grunde das Material, das zur Klärung dieser Fragen nötig ist. Sie erzählen in verschiedenen Variationen und trotz äußerlicher Unterschiedlichkeit alle das Gleiche: Ein Held muss von seiner Gemeinschaft aufbrechen und in eine unbekannte Welt ziehen. Dort erlebt er völlig Neues, gelangt von einem Abenteuer in das nächste, muss nicht selten vielfältige Gefahren überwinden und große Ängste durchleben. Schließlich muss er mit dunklen Mächten - etwa mit einem Drachen, einer bösen Hexe oder einem üblen Zauberer - kämpfen, um einen wichtigen Schatz zu erwerben oder um eine gefangene Prinzessin zu befreien. Mit diesem Schatz, der in einem wertvollen äußeren Symbol, in einer wichtigen Erkenntnis oder eben in der befreiten Person bestehen kann, kehrt er dann wieder in seine Gemeinschaft zurück, um diese mit der erworbenen Gabe zu befruchten, positiv zu verändern und zu erneuern.
Damit beschreibt jede dieser Geschichten in ausdrucksstarken Bildern und Szenen den Entwicklungsprozess, den der jeweilige Held durchmachen muss. Märchen und Mythen enthalten somit genau das (Ur)Wissen, das wir für unsere Thematik brauchen: Sie können zu einer Hauptquelle an Information für die Persönlichkeitsentwicklung und Initiation von Jugendlichen auch in unserer heutigen Gesellschaft werden. Denn unabhängig von allem technischen Fortschritt und von den vielen rasanten Entwicklungen in unserer heutigen Informations- und Technologiegesellschaft enthalten die alten Geschichten zeitlose Wahrheiten; es sind wichtige Botschaften, vor allem wenn es sich um so grundlegende Fragen wie der nach der Initiation unserer jungen Leute, nach dem Sinn überhaupt oder nach dem Überleben unseres Planeten handelt.
Gerade wenn es heute um das verloren gegangene Wissen über Lebenszyklen, Jahreskreise, Lebensphasen und Lebensübergänge mit entsprechenden Ritualen geht, sind Märchen und Mythen eine nahezu unerschöpfliche Quelle dafür. Daher soll in diesem zweiten Band zunächst ein Hauptaugenmerk auf diese alten und zugleich höchst aktuellen Geschichten gelegt werden. (Kapitel 2 und 3). Was geben sie her an Material und Erkenntnissen, die für den Entwicklungsprozess eines Jugendlichen von Nöten sind?
Eingeleitet werden diese Überlegungen jedoch mit einem sehr konkreten Fallbeispiel: Es geht um die Geschichte eines typischen Jugendlichen aus der Großstadt München, der nach seinem Abitur alleine zu einer einjährigen Tour nach Kanada aufbricht mit der Absicht, dabei sich selbst zu finden und erwachsen zu werden. Im Grunde zieht er zu (s)einer „Heldenreise“ aus, die ihn zwar nicht das Fürchten lehrt{2}, ihn wohl aber ein Gefühl für das eigene Leben bekommen lässt (Kapitel 1).
Danach soll der Frage nachgegangen werden, wohin oder besser gesagt, „wohinein“ wir heute unsere Heranwachsenden initiieren wollen. Welchen „Welt-Mythos“ haben wir denn heute, nachdem Aufklärung und rasante naturwissenschaftlich-technische Entwicklung das jahrtausendealte herkömmliche „Weltbild des Augenscheins“ zum Einsturz gebracht haben (Kapitel 4)? Diese Überlegungen bilden den Mittelteil des Buches.
Schließlich soll in einem ausführlichen dritten Teil das Ritual der „Visionssuche“ beschrieben werden, das nordamerikanische Ethnologen von Indianern übernommen und für die Bedürfnisse unserer westlichen Kultur weiterentwickelt haben. Mit Hilfe dieses Rituals kann auch für Jugendliche im dritten Jahrtausend der Übergang ins Erwachsensein sehr bewusst und kraftvoll vollzogen werden (Kapitel 7). Zum besseren Verständnis der Visionssuche sind zwei Kapitel vorgeschaltet: In Kapitel 5 werden einige Überlegungen über die sogenannte „Anderswelt“ angestellt, mit der eine wichtige menschliche Erfahrungsebene angesprochen wird; Kapitel 6 will einen Überblick über das „Medizinrad“ geben, damit die psychischen Vorgänge während einer Visionssuche eher eingeordnet werden können.
Die Überlegungen aller drei Buchteile werden dann noch mit einigen Aspekten zur Jungen-Initiation ergänzt und abgerundet (Kapitel 8).
Mein Buch will einen Beitrag dazu leisten, dass das Bewusstsein von der Notwendigkeit der Initiation wieder mehr im öffentlichen Denken Platz findet und dass der Mangel an geeigneten Initionsritualen zunehmend als eine der Hauptursachen vieler Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft erkannt wird. Denn darin sehe ich einen, wenn nicht sogar „den“ Schlüssel zur Lösung vieler Probleme bezüglich unserer Heranwachsender. Deshalb will ich in diesem Buch konkrete Wege aufzeigen, wie, das heißt, mit welchen Ritualen der Übergang ins Erwachsensein heute gelingen kann.
Ich möchte mich besonders an all die Berufsgruppen wenden, die mit Jugendlichen und deren Persönlichkeitsentwicklung zu tun haben - an Pädagogen, Sozialpädagogen, Lehrer, Politiker -, hauptsächlich aber an alle Eltern, die gerade ihre eigenen Kinder durch die Pubertät und ins eigene Erwachsensein begleiten. Nicht zuletzt sind die Gedanken dieses Buches an interessierte Jugendliche selbst gerichtet.
Noch eine Vorbemerkung: Dieses Buch will keine wissenschaftliche Arbeit darstellen. Es ist vielmehr geprägt durch persönliche Erfahrungen eines Lehrers mit Jugendlichen über 30 Jahre hinweg und motiviert durch eine Erkenntnis, die mitunter leidenschaftlich vorgetragen wird: Unsere Jugendlichen brauchen geeignete Initiationsrituale, die nur wir Erwachsenen ihnen anbieten können und die wir ihnen daher auch anbieten sollten. Die Heranwachsenden bedürfen einer Begleitung von Mentoren, die ihnen bei ihrem Übergang ins Erwachsenwerden helfen. Wir Lehrer sollten schon aufgrund unseres Berufes solche Initiations-Mentoren sein.
In meinen Ausführungen sind viele eigene Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Thema „Initiation“ eingeflossen. Ich bitte den Leser um Nachsicht, wenn Wiederholungen auftreten (Der „Prediger“ kommt durch!) oder wenn gelegentlich der Eindruck entstehen sollte, dass zu vereinfacht argumentiert wird. Wichtig war und ist mir mit diesem Buch, unsere Jugendlichen bei ihrem Prozess des Erwachsenwerdens zu begleiten und ihnen beizustehen.
Hinweise im Text auf mein erstes Buch „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“ (ISBN 978-3-86991-404-6) erfolgen mit der Abkürzung „Band I (ÜR)“.
Olching im Sommer 2011 (1. Auflage) und im Sommer 2020 (3. überarbeitete Auflage)
Peter Maier
Hier ist die authentische Geschichte eines Jugendlichen aus der Großstadt München. Nennen wir ihn Julian. Er ist Einzelkind - der Vater ein hohes Tier in einer großen Münchner Firma, die Mutter Hausfrau. Der Junge wächst behütet auf, besucht die Realschule, hat aber – so wie auch viele seiner Mitschüler – „keinen Bock“ aufs Lernen. Obwohl durchaus intelligent, fällt er aus reiner Faulheit in der 9. Klasse durch. Mit 17 hat er seine Mittlere Reife aber doch geschafft und wechselt danach auf die Fachoberschule. Da er immer noch nicht verstanden hat, dass ohne Lernen kein guter Schulabschluss zu erzielen ist, fällt er in der 11. Klasse erneut durch. Mit gut 20 Jahren steht er schließlich vor dem Fachabitur. Jetzt rächt es sich, dass er nie gelernt hat, wie man richtig lernt. Er bekommt plötzlich Angst, in den Prüfungen zu versagen.
Die Standpauke
Ostern 2005. Julian ist zu Besuch bei seinem Onkel. Wieder einmal lästert er über „die“ Lehrer, die alle so „doof“ seien und nicht wirklich gut erklären könnten. Nur deshalb sei er so schlecht in der Schule. Diese „Platte“ hatte Julian schon seit Jahren immer wieder aufgelegt, um sein Nichts-Tun kaschieren oder beschönigen zu können. Die Schuld lag immer bei den Lehrern, nie aber bei ihm selbst. Da platzt dem Onkel der Kragen. Denn er selbst ist ebenfalls Lehrer und kennt solche „Stories“ von seinen Schülern zur Genüge. Er stellt seinen Neffen Julian zur Rede und sagt ihm ungeschminkt die Wahrheit, die dieser bis zu diesem Zeitpunkt so noch von niemanden gehört hatte und die er wohl auch nicht hören wollte:
Die Standpauke wirkt. Julian fühlt sich anscheinend in seiner Ehre angegriffen, aber gleichzeitig ernst genommen. Er setzt sich endlich hin und lernt für die bevorstehenden Prüfungen. Etwa vier bis sechs Wochen dauert diese Zeit - für seine Verhältnisse eine lange und intensive Arbeitsphase. Er schafft schließlich das Fachabitur, wenn auch nur mit mäßigen Ergebnissen. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er nun gezeigt, was in ihm steckt. Dazu musste er aber teilweise aus dem Dunstkreis seiner damaligen Clique herausgehen und den Kontakt zu den Gruppenmitgliedern deutlich einschränken, denn diese waren fast alle ziemlich destruktiv bezüglich Lehrern und Schule eingestellt.
Die Clique ist Julian als Einzelkind immer sehr wichtig gewesen. Die Anerkennung im Freundeskreis hat längst die von Vater, Mutter und seinen Lehrern abgelöst. Was aber ist der Inhalt und Sinn von all den Treffen mit den Gruppenmitgliedern? Die Jugendlichen wollen einfach mit ihresgleichen zusammen sein, miteinander Spaß haben und „chillen“ - und das alles außerhalb des Einflussbereichs der Erwachsenen. Dies geht aber nie ohne richtiges Saufen ab. Ohne Alkohol ist eine Zusammenkunft gar nicht denkbar, ohne Rausch oder zumindest einen gehörigen Schwips erscheint solch ein Gruppentreffen langweilig. Das vermeintlich Aufregende passiert also durch den Alkohol. Die Vorbereitungen für das jeweils nächste Cliquentreffen werden ausschließlich über das Handy abgewickelt.
Das Leben besteht somit für Julian während der vergangenen fünf Schuljahre aus Zusammenkünften mit der Clique, aus Party, Saufen und Ausschlafen des Rausches. So ganz nebenbei wird die Schule abgesessen. Bei Julian kommt noch hinzu, dass er sich furchtbar gerne reden hört und selbst viel älteren Familienangehörigen bei jeder Gelegenheit ungefragt seine „Lebensweisheiten“ mitzuteilen versucht. Er will nicht wahrhaben, dass er damit in Wirklichkeit nur sein Nichts-Tun, seine Faulheit und eine gewisse Sinnlosigkeit überspielt.
Nach dem Fachabitur macht Julian seinen Zivildienst in einem Münchner Krankenhaus. Außerdem hat er sich mittlerweile den Videofilm „Erwachsenwerden in der Wildnis - Visionssuche mit Jugendlichen“{4} angeschaut. Wie er später einmal zugibt, hatte er lange Zeit Angst davor, sich dem Thema dieses Films zu stellen.
Eine Abenteueridee nimmt Fahrt auf
In der Zeit seines Krankenhausdienstes nimmt in Julian eine zunächst fixe Abenteueridee immer konkretere Formen an: Er will für zehn Monate nach Kanada gehen und sich dort alleine durchschlagen. Seine Eltern unterstützen diesen Plan von Anfang an. Sein Onkel hingegen, der ihn ein Jahr zuvor so herausgefordert hat, bleibt lange Zeit skeptisch ob des Ernstes dieses Vorhabens. Ist es nur eine jungenhafte Abenteueridee? Wie will er sich denn in Kanada durchschlagen? Was will er dort überhaupt machen? Hat er denn wirklich die innere Stärke, allein in der Fremde, über 10.000 Kilometer entfernt von zu Hause, mit sich und den Umständen zurecht zu kommen? War er doch noch ein gutes Jahr zuvor eher ein „Schwätzer“, der fast bei jeder Gelegenheit glaubte, seinen Senf dazu geben zu müssen. Dabei beruhten seine Kommentare in den seltensten Fällen auf eigenen Erlebnissen oder Lebenserfahrungen.
August 2006. Die Familie von Julian trifft sich in ihrem Münchner Schrebergarten. Der Onkel, der ihm besonders zugetan ist, ist ebenfalls anwesend. Der junge Mann von mittlerweile über 21 Jahren will tatsächlich Ernst machen mit seinem Kanada-Vorhaben. In drei Tagen ist Abreise. So gesehen hat das Treffen im Garten den Charakter eines offiziellen Abschiedsrituals innerhalb der Familie. Julian will wirklich nach Kanada gehen und sich dort durch Arbeit finanziell eigenständig über Wasser halten. Dieses Ziel hat er sich zumindest gesteckt. Vancouver soll seine erste Station sein und er hat auch schon eine konkrete, aber ziemlich lockere Organisation gefunden, die ihm bei einer Arbeitsvermittlung und bei der ersten Quartiersuche in Kanada helfen wird.{5} Alle wünschen Julian Glück für seine mutige Reise allein. Doch lassen wir nun Julian im folgenden Frage-Antwort-Dialog mit seinem Onkel knapp vier Jahre später selbst zu Wort kommen.
1.
Was hat Dich eigentlich dazu bewogen, nach Ende Deines Zivildienstes ausgerechnet nach Kanada zu gehen? Wie ist diese Idee überhaupt entstanden? Wann ist dieser Gedanke zum ersten Mal aufgetaucht? Warum überhaupt wolltest Du so weit weg gehen?
Mich hat Sebastian, ein Cliquenmitglied, dazu inspiriert. Irgendwie war er für mich ein Vorbild, weil er nach Ende der Hauptschule und dem Abschluss seiner Lehre für ein Jahr ganz allein nach Australien ging. Er war das Nesthäkchen, sein Bruder verdiente längst viel Geld bei einer Versicherung. Ihm als dem Jüngsten wurde nichts zugetraut. Darum wollte er sich und seiner Familie beweisen, dass er auch alleine in die weite Welt gehen könne.
Er hat sich wirklich etwas zugetraut und dies habe ich an ihm bewundert. Er gibt nie klein bei und macht immer sein eigenes Ding. Als er von Australien zurückkehrte, war er ein anderer Mensch: Er war viel reifer, selbständiger und erwachsener geworden. Dies wollte ich für mich ebenfalls erreichen.
Da Sebastian in Australien war, ging ich ans andere Ende der Welt, nach Kanada eben, um ihm nicht einfach alles nachzumachen. Ich wollte ein ganz eigenes Abenteuer erleben. Ich hatte ja schon einen Bezug zu Amerika, weil ich mit meinen Eltern einen Teil meiner Kindheit in den USA verbracht hatte – vom zweiten bis zum fünften Lebensjahr. Ich wollte aber nicht wieder in die USA und zwar aus politischen Gründen. Die damalige Busch-Regierung ging mir gehörig auf die Nerven.
Während meiner Zivildienstzeit ist der Gedanke einer Kanada-Fahrt zum ersten Mal aufgetaucht und hat dann immer konkretere Gestalt angenommen, je mehr mir Sebastian von seiner Reise erzählt hat. Ich wollte deshalb so weit von zu Hause weggehen, damit die Abgrenzung von meinen Eltern klar war. Ich wollte mich sozusagen daran hindern, bei der ersten Krise gleich wieder zu Mama und Papa heimzufahren. Wenn man das Schwimmen wirklich lernen will, darf man nicht in ein Babybecken springen, in dem man ja stehen könnte.
2.
Hast Du während Deiner Reisevorbereitung auch Angst oder zumindest ein mulmiges Gefühl vor diesem Schritt bekommen? Oder hat die Abenteuerlust immer überwogen? Gab es eine Krise vorher, in der Du vielleicht Dein ganzes Unternehmen in Frage gestellt hast? Wurdest Du von Deinen Eltern dabei bestärkt? Wer hat Dich am meisten unterstützt?
Ein Abenteuer war die Reise nicht – zumindest nicht in erster Linie. Es ging darum, mir selbst etwas zu beweisen. Ich hatte nie Zweifel, dass die Reise schief gehen könnte.
Ja, es gab Ängste, aber nicht speziell wegen der Reise. Obwohl ich doch eigentlich nicht schüchtern wirke, hatte ich Angst davor, auf fremde Leute zuzugehen. Dies ist auch heute immer noch mit einer gewissen Hemmung verbunden. Aber dies müsste nicht sein. Man steht sich eigentlich nur selbst im Wege, wenn man sich den Luxus solcher Hemmungen leistet. So eine Sozialphobie hat keinen Nutzen für das Dasein, sie ist eine unnötige Barriere.
Diese Angst vor dem Kontakt mit Leuten kam jetzt aber mehr hoch, denn ich musste ja bei der Fahrt ohne meine sonst gewohnten Beziehungen leben. Beispielsweise hätte ich damals sogar in München eine Scheu davor gehabt, einfach ein mir unbekanntes Mädl anzusprechen. Ich hatte aber keine Angst, dass etwas bei der Reise an sich schief laufen könnte.
Eine wirkliche Krise gab es somit nicht vor der Reise. Ursprünglich sollte ja noch ein Kumpel mitfahren, die ersten Pläne schmiedete ich jedenfalls mit ihm. Wir hätten dann wohl die ganze Zeit in Kanada nur gesoffen. Bereits nach kurzer Zeit der Vorbereitung sprang der Freund wieder ab. Da hatte ich aber schon zu viel Feuer gefangen, so dass ich die Reise jetzt auch alleine durchziehen wollte. Es war viel besser so, dass ich nun ganz alleine fahren musste.
3.
Eine solche Reise setzt aber ein großes Urvertrauen voraus. Warst Du Dir denn darüber bewusst?
Durch ein Fernsehinterview mit dem Starkoch Alfons Schubeck hörte ich von ihm einen wichtigen Satz, der sinngemäß so lautete: „Zweifel bringen Dir gar nichts. Vor allem, wenn Du an Dir selbst zweifelst. Mit Zweifeln musst Du umgehen lernen oder sie am besten gleich ganz eliminieren!“
Meine Eltern haben mich von Anfang an voll unterstützt und die geplante Reise für gut befunden, obwohl sie sicher sehr gemischte Gefühle hatten. Mein Vater hat ja so etwas während seines Studiums auch gemacht; er bekam ein Stipendium und verbrachte 15 Monate in den USA.
4.
Du warst bis dahin stark in Deine Clique eingebunden und hast mit ihr fast jedes Wochenende verbracht. Wie haben die anderen Gruppenmitglieder dies aufgenommen, als Du ihnen zum ersten Mal von Deinen Reiseplänen erzählt hast? Welche Reaktionen hast Du von ihnen bekommen? Welche Meinungen haben Dich bestärkt, welche eher geschwächt? Warst Du der einzige in Deiner Clique, der für eine längere Zeit ins Ausland ging? Hattest Du ein Vorbild in der Gruppe, an dem Du Dich bei Deinem Vorhaben orientieren konntest?
Das Cliquenmitglied Sebastian hat mich sehr unterstützt; er hat gemeint, dass solch eine Fahrt gut zu meiner Persönlichkeit passen würde. Die übrigen Gruppenmitglieder haben mein Vorhaben ebenfalls alle für gut geheißen. Es wurde aber im Grunde als etwas Normales betrachtet. Noch ein weiterer Kumpel war mittlerweile schon ins Ausland gegangen. Niemand hat mich in meinen Plänen geschwächt.
Eine Organisation („stepin“){6} hat den Papierkram für mich erledigt. Da es mir aber bei der ganzen Reise um Autonomie ging, wollte ich mich nicht zu fest an eine Instanz binden. Der einzige Vorteil der Organisation war, dass ich durch sie immer wieder einen guten Internetzugang hatte und dass sie ein Briefkasten für mich war.
5.
War es schwer für Dich, Deine Clique zu verlassen? Hattest Du mit Deinen Cliquenmitgliedern Kontakt, während Du in Kanada warst? War es schwierig für Dich, einmal außerhalb Deiner Familie zu sein? Denn bis dahin hattest Du es ja wirklich bequem; alles wurde Dir vor allem von Deiner Mutter abgenommen.
Ja, zunächst war es schon schwer, außerhalb meiner Clique zu sein. Aber dann war ich in Kanada sofort mit vielen neuen Herausforderungen und Aufgaben konfrontiert. So hatte ich überhaupt keine Zeit, meiner Clique nachzutrauern. Ich hatte aber durchaus eine gelegentliche Chat-Community mit meinen Freunden in dem Internetforum „Lokalisten“ - etwa einmal pro Woche.
Von der Familie wegzugehen war insofern schwieriger, als ich einfach einen gewissen Luxus gewohnt war bei meinen Eltern. An den mangelnden Komfort bei meiner Kanada-Reise konnte ich mich nie so ganz gewöhnen. Da ich die ersten Wochen nur aus meinem Rucksack leben musste, konnte ich mich nicht so kleiden, wie ich eigentlich wollte. Ich kam etwas heruntergekommen daher, was ein bisschen an meinem Selbstwertgefühl nagte. Dies störte mich, aber ich kam damit schließlich doch zurecht.
Wenn ich aber mit Leuten bei meinen diversen Arbeitsstellen zu tun hatte, war es nicht mehr schwer für mich, allein in Kanada zu sein und ich konnte damit einigermaßen gut umgehen. Dies hängt ganz von deinem „mind set“ ab, das heißt, wie du selbst deine Gedanken im Voraus einstellst. Man ist danach nicht mehr enttäuscht, wenn man sich Dinge vorher gedanklich klar gemacht hat. Ich wusste ja, dass ich meine Eltern für über zehn Monate nicht mehr treffen würde. Also war ich nicht wirklich traurig, dass ich sie nicht sah in dieser Zeit, weil ich mich ja mental darauf einstellen konnte.
6.
Welche Gefühle haben Dich während des langen Fluges nach Vancouver begleitet? Waren es eher Gefühle von Abenteuerlust und Neugierde auf ein anderes Land oder hattest Du auch Gefühle von Einsamkeit oder Angst vor dem Neuen und Unbekannten?
Es war mehr Neugierde. Etwas tat aber richtig weh: Meine „Ma“ brachte mich zum Flughafen. Es ging ihr sehr nah, dass ich nun so lange von zu Hause weg sein würde; und dies ging mir dann ebenfalls unter die Haut. Es hat mir richtig leid für sie getan. Im Flugzeug lernte ich eine kanadische Lehrerin kennen. Ich konnte mich mit ihr prima unterhalten. Das hat mich abgelenkt bei meinem „Trennungsflug“, so dass ich die Reise gut überstanden habe.
7.
Was hast Du nach Deiner Ankunft gemacht? Welche Organisation hast Du aufgesucht? Wer oder was hat Dir die ersten zwei Wochen weitergeholfen? Wo hast Du in dieser Zeit übernachtet? Womit hast Du Dich beschäftigt?
Ich war zunächst mit der oben schon erwähnten Organisation unterwegs. Diese hatte ein Hostel in Vancouver reserviert. Am folgenden Tag gab es eine Einführung für mich und einige andere Teilnehmer, die auch auf Reisen waren. Mir wurde aber danach sehr schnell klar: Das hilft mir jetzt nicht mehr weiter.
Ich hatte aber noch eine andere Sache, sozusagen einen Joker, im Gepäck: die Organisation von „wwoof“ („willing workers on organic farms“){7}. Sie besteht eigentlich nur aus einem Katalog, in dem circa 1000 Bio-Farmen zusammen geschlossen sind. Das „wwoof“-Konzept sieht etwa so aus: Man arbeitet täglich fünf Stunden an fünf Tagen der Woche auf der Farm. Dafür bekommt man kein Geld, hat aber Kost und Logis frei. Das Tolle daran ist, dass man bei dieser Gelegenheit viele Leute treffen kann, die sich auf die gleiche Art und Weise im Land durchschlagen.
Die ersten zehn Tage verbrachte ich also in dem Hostel in Vancouver. Abends ging ich meist mit einigen Mitbewohnern in der Stadt aus. Wegen meiner begrenzten Englisch-Kenntnisse traute ich mich nicht, mich bei einer richtigen Arbeit zu bewerben. Daher erschien mir nach einigen Tagen die Idee von „wwoof“ sehr attraktiv und so wollte ich ein „wwoofer“ werden (das sind Leute, die auf einer Bio-Farm nach diesem „wwoof“-Konzept arbeiten – Anm. d. Verf.).
8.
Du hast Dir bald eine Arbeit gesucht, weil Deine finanziellen Vorräte in Kanada schnell abgeschmolzen sind. Wo hast Du als erstes gearbeitet? Wie hast Du die Arbeit empfunden? Hast Du bald Kontakt zu anderen jungen Leuten bekommen? Hast Du Dich einsam gefühlt oder war es eine gute Zeit? Wie lange hast Du auf der Farm gearbeitet?
Meine erste „wwoof“-Farm lag auf Vancouver Island. Von meiner Arbeit auf der Münchner Messe und durch Ersparnisse hatte ich 3.500 Euro dabei, mein Opa hat mir weitere 500 Euro dazu gegeben, als er hörte, dass ich nach Kanada gehen würde. Er hat dies wohl als eine Art Fürsorge verstanden und wollte, dass es mir gut gehe bei meinem Unternehmen.
Auf dieser Farm habe ich nur etwa drei Wochen verbracht. Es ist ja auch gar nicht erwünscht, recht viel länger an einem Ort zu bleiben, damit die Leute möglichst weit herumkommen in Kanada. Auf dem Hof waren wir fünf „wwoofer“. Wir mussten Unkraut mit der Hand jäten, das heißt, mit ihren Wurzeln rausziehen. Einmal in der Woche wurde dann das Biogemüse – vor allem Broccoli, Blumenkohl und Karotten - auf einem Wochenmarkt verkauft. Auf der Farm habe ich Andi, einen Schweizer, kennengelernt. Er ging schon nach kurzer Zeit auf eine andere Farm und einige Tage später bin ich ihm dorthin nachgefolgt.
Diese Farm war ein wirklicher Glücksgriff. Der Hof lag auf einer benachbarten Insel von Vancouver Island. Er gehörte Linda, einer Kanadierin. Sie war 51 Jahre alt, eine Art von „Alt-Hippi“ und lebte mit ihrer Tochter und mit ihren beiden Hunden dort alleine. Das Grundstück lag am Meer, ihr Haus war vermietet. Andi und ich wohnten in einer Garage, die als Hostel ausgebaut war. Wir waren die einzigen beiden „wwoofer“-Gäste und waren deshalb so etwas wie „Mädchen für alles“.
In besonderer Erinnerung ist mir ein Abend geblieben. Linda fuhr mit ihrem Cabrio zu ihrem Freund Brian, der etwa 50 Kilometer entfernt ebenfalls auf der Insel lebte. Andi, ich und die beiden Hunde durften mitkommen. Wir fuhren bei prächtigem Sternenhimmel und mit offenem Dach auf einer Schotterpiste durch den Urwald. Linda hatte die Musik von Pink Floyd auf volle Lautstärke gedreht. Plötzlich reichte sie einen Joint herum und jeder von uns dreien rauchte einige kräftige Züge. Linda war „high“ davon und Andi und ich wohl auch ein bisschen. Vielleicht war dies gut so, denn sonst wäre uns das Herz vor lauter Angst in die Hose gerutscht, als Linda mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald rauschte und die Bäume ganz nahe an uns vorbei flogen.
Ansonsten war die Farmbesitzerin eine sehr fürsorgliche Mutter, ein wirklich guter Mensch mit einer etwas naiv-netten Art. Bei ihrer Tochter jedoch war sie kritisch und streng, gerade was Haschisch betraf. Für mich war der Aufenthalt auf ihrer Farm eine wirklich gute Erfahrung. Diese war meine zweite von insgesamt drei „wwoof“-Farmen.
9.
Du hast während Deiner Zeit in Kanada noch ein weiteres Vorhaben umgesetzt: Mit dem Flugzeug bist Du für 14 Tage in die USA geflogen, um bei der „School of Lost Borders“ eine echte „Visionssuche“ zu machen. Kannst Du dazu Deine Motive und Erlebnisse etwas näher beschreiben?
Während der Zeit auf der Farm von Linda ist in mir die Idee gereift, selbst eine Visionssuche zu machen. Dies hatte ich mir schon in Deutschland vorgenommen, nachdem ich den Film „Erwachsenwerden in der Wildnis – Visionssuche mit Jugendlichen“{8} angesehen hatte, den Du mir zum 18. Geburtstag geschenkt hattest.
Außerdem hatte mein Vater ein Jahr zuvor ebenfalls eine Visionssuche gemacht und mir von seinen Erlebnissen erzählt. Dies hatte mich neugierig gemacht, obwohl ich das ganze Ritual zunächst eher für einen Schwachsinn gehalten hatte. Dennoch fand ich die Idee eines nicht-destruktiven Initiationsrituals mehr und mehr interessant.
Nachdem ich nun bereits mehrere Wochen in Kanada war, spürte ich so etwas wie eine geistige Lücke in mir und darum fing ich an, nach einem spirituellen Hintergrund zu suchen. Mir wurde immer mehr bewusst, dass die Initiationsrituale der Indiander, der Urvölker in diesem Lande, doch einen Sinn haben müssen und dass dies auch für unsere heutige westliche Gesellschaft von Bedeutung sein könnte. Dies wollte ich jetzt herausfinden. Möglicherweise konnte dieses alte Ritual mir ebenfalls Hilfe bei der Bewältigung meines Hauptproblems geben – dem mangelnden Selbstbewusstsein in Bezug auf andere Menschen, die ich auf eine höhere Stufe stellte. Wenn ich etwa eine Frau besonders attraktiv empfand, dann hatte ich Angst, sie anzusprechen und dies nur, weil ich sie vorher als etwas „Höheres“ als mich eingestuft hatte. Damit stand ich mir oft selbst im Weg.
Die Visionssuche sollte ein erster Schritt dazu sein, mich mit diesem Grundthema auseinander zu setzten. Das Video hatte mich sehr angesprochen. Irgendwie empfand ich die Situation der Teilnehmer in dem Film wie eine Ur-Gruppentherapie: Sie mussten ihr Problem öffentlich vor der Gruppe erzählen, die anderen Mitglieder oder die Leiter gaben danach ein Feedback dazu.
Ich hatte also die Sehnsucht und die Illusion, bei den Indianern in Kanada eine große Zahl von Anbietern von Visionssuchen zu finden, da doch in diesem Land noch viele ursprüngliche Stämme beheimatet sind. Warum sollte ich nicht die Visionssuche genau da machen, wo sie noch am ehesten meiner Vorstellung entsprechend begangen werden konnte. Möglicherweise könnte ich auch einen Kontakt zu einem echten Medizinmann bekommen. Im Internet auf der Farm von Linda fand ich aber nichts Brauchbares dazu. Da erinnerte ich mich an das Video, das ja von der „School of Lost Borders“ in Kalifornien, USA, handelte. Und hier fand ich ein konkretes Angebot einer Visionssuche, das sogar noch exakt in meinen Zeitplan passte.
Ich redete mit meinem Vater in München. Er war bereit, mir den Kurs zu zahlen. Die Kosten für den Flug wollte ich selbst übernehmen. Schon zehn Tage später landete ich in Las Vegas (Nevada). Von hier aus waren es noch sieben Autostunden bis zum Ziel in Nordkalifornien, die ich zusammen mit einem anderen Teilnehmer in dessen Wagen zurücklegte.
10.
Wie ist die Visionssuche abgelaufen? Was hat sie Dir zusätzlich zu Deiner Kanada-Fahrt gebracht, wenn Du jetzt nach drei Jahren nochmals zurück blickst?
Was es zusätzlich gebracht hat, ist schwer zu sagen. Vielleicht traue ich mir seither mehr zu als wenn ich sie nicht gemacht hätte. Was bei mir auf jeden Fall das vorherrschende Thema war, war die Angst.
Das Ritual hat insgesamt elf Tage gedauert. Davon musste ich volle vier Tage komplett ohne Essen allein in der Wildnis überstehen – unsichtbar vor allen anderen. Ich wollte mir beweisen, dass ich dies durchhalten konnte. Ich glaube aber, dass ich dabei spirituell gesehen zu hohe Erwartungen hatte. Ich hatte eher eine Reihe von kleineren Erkenntnissen. Dies ist mir erst vor kurzem wieder bewusst geworden, als ich mein Tagebuch von damals nochmals gelesen habe.
Wir waren in einem großen tiefen Tal. Ich wollte wissen, was wohl hinter den Bergen über dem Tal sei. Denn es war eine Steinwüste mit lauter kleineren Hügeln, so dass man gar nicht besonders weit sehen konnte. Daher habe ich mich in meiner Solozeit für einen Tag lang zu einer größeren Wanderung aufgemacht, um dies rauszufinden.
Wir waren nur sechs Teilnehmer – fünf Männer und eine Frau -, sowie drei Lehrer und Assistenten. Mit 21 Jahren war ich der Jüngste, die anderen fünf Initianden waren 30, 40, 50, 55 und 70 Jahre alt. Jeder von uns wurde von den Leitern voll ernst genommen – als Mensch und mit seinen ganz spezifischen Themen. Für mich war aber die Sprachbarriere das schwierigste Problem. Daher habe ich einiges erst später besser verstanden, als ich nach meiner Rückkehr bei Linda im Internet konkrete Wörter nachgeschaut habe.
Im Rückblick gesehen war die Visionssuche auch deswegen für mich wichtig, weil ich dadurch einen guten Eindruck von den Amerikanern bekommen habe. Denn die anderen Teilnehmer und die Leiter waren alles liberale Leute mit europäischer Denkweise. Dadurch wurde mein Anti-Amerikanismus wesentlich gelindert, der sich durch die Politik des damaligen US-Präsidenten George Bush in meinem Kopf festgesetzt hatte.
Von Anfang an musste ich in meiner viertägigen Solo-Fasten-Zeit mit meinem Hunger kämpfen. Um dies besser aushalten zu können, überlegte ich mir mindestens 100 verschiedene Kochrezepte, die ich alle umsetzen wollte, wenn ich wieder in Deutschland zurück sein sollte. Ich bekam so richtig Lust auf ein schönes Essen, beispielsweise auf Broccoli mit Käse überbacken. Tatsächlich koche ich seither gerne und einige Freunde und Verwandte haben mir bescheinigt, dass ich gut kochen könne.
Schließlich habe ich damals aus Langeweile mathematische Gleichungen in mein Tagebuch geschrieben. Das verwundert mich heute noch, hatte ich doch bis dahin kein besonderes Interesse an Mathematik. Heute kommt mir diese gewandelte Einstellung bei meinem Studium sehr zu Gute.
11.
Warum hast Du nach Deiner Rückkehr aus den USA den Arbeitsplatz wieder gewechselt? Welche Arbeit hast Du dann gefunden? Wie weit entfernt warst Du nun von Vancouver? Wo hast Du gewohnt? Welche Erfahrungen hast Du beim Häuserbau gemacht? Wie war der Chef und wie waren die anderen Arbeiter? Wie war die Bezahlung? Hast Du nicht sogar ein Auto gehabt?
Nach der Visionssuche bin ich zunächst wieder auf die Farm von Linda zurückgekehrt, habe aber dort die Arbeit nach einigen Tagen beendet, um zu dem mir bereits bekannten Hostel nach Vancouver-Stadt (Downtown) zu fahren. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte Geschmack am „wwoofen“ gefunden. Diese Art von Reisen entsprach mir einfach, denn es ist eine wirklich gute Möglichkeit, auf ganz natürliche Weise mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen – mit den einheimischen Farmbesitzern und mit all den jungen Leute aus dem Ausland, die ebenfalls in Kanada unterwegs sind. Außerdem hatte ich auf diese Weise nur wenig Ausgaben und konnte mich so aufgrund meiner mitgebrachten Ersparnisse finanziell weitgehend alleine über Wasser halten. Dies war mir sehr wichtig. Ich wollte mir selbst, Dir und meinen Eltern beweisen, dass ich mich ganz allein in der Welt durchschlagen und ernähren konnte.
Der Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Morgen ging ich zum Frühstück in die Küche des Hostels. Da saß auch ein deutsches Mädchen namens Laila. Sie war ebenfalls „wwooferin“ und suchte gerade nach einer zweiten Farm. Sie wollte in den Bundesstaat Alberta ins Landesinnere. Das erschien mir interessant, denn dort gab es gut bezahlte Jobs in der Ölindustrie sogar für ungelernte Ausländer wie mich. Ich hoffte, auf dieser dritten „wwoof“-Farm Kontakte zu „Öl-Leuten“ bekommen zu können. Es musste Geld reinkommen, da der Flug zur Visionssuche meine finanziellen Mittel ziemlich aufgebraucht hatte. Und was sollte ich im Winter tun, wenn es auf den Farmen keine Arbeit mehr gab?
Daher fuhr ich schon zwei Tage später zusammen mit Laila im Bus 17 Stunden lang durch die Rocky Mountains nach Alberta zur nächsten Bio-Farm. Der Besitzer war Pat, ein ziemlich rauher Bursche und vom Typ her Patriarch. Sein Sohn hatte sich erschossen, Pat konnte dies nicht verarbeiten und hatte vermutlich deshalb ein ziemliches Alkoholproblem. Er hatte eine große Baumschule und hielt sich als Hobby einige Pferde.
Ich blieb nur etwa eine Woche auf der Farm, weil ich mit der rauhen Art des 55-jährigen Pat nicht klar kam. Laila blieb länger. Die Schwiegertochter von Pat hatte wieder geheiratet und ihr Mann hatte ein Bauunternehmen in der Stadt Edison, etwa 60 Kilometer entfernt von der einsamen Farm. Für 15 kanadische Dollar die Stunde arbeitete ich nun bis Weihnachten dort und half beim Häuserbau. Einen ganzen Monat lang fuhr ich die 60 Kilometer mit einem alten Auto zur Arbeitsstelle, das mir Pat lieh. Ich verdiente jetzt zwar zum ersten Mal selbst mein eigenes Geld in Kanada, dieses ging aber wieder fast vollkommen drauf für die Miete von Auto und Wohnung bei Pat.
Daher griff ich sofort zu, als mir mein neuer Arbeitgeber eine Bleibe in Edison anbot. Zusammen mit neun weiteren Arbeitern des Betriebs lebte ich in einem Haus, das dem Unternehmen gehörte; wir wohnten zu dritt in einer 3-Zimmer-Wohnung im Keller und dies auch noch kostenlos.
Auf dem Bau habe ich einiges gelernt – zum Beispiel Baggerfahren. Aber eine andere Erfahrung war noch viel wichtiger für mich: Unser Betrieb war nur eine Art Subunternehmen, das den eigentlichen Häuserbauern zuarbeitete. Mein Chef, der Schwiegersohn von Pat, war sehr offen und gut zu mir. Der Leiter der anderen Bautruppe jedoch war brutal. Er behandelte seine Leute wirklich übel und respektlos. Erst kurz vorher war er aus dem Knast entlassen worden und anscheinend übertrug er danach die dortigen Sitten nahtlos auf seinen Bautrupp. Gott sei Dank gehörte ich nicht zu seiner Gruppe, ich hätte es keinen Tag lang mit ihm aushalten können.
Kurz vor Weihnachten kündigte ich aber wieder. Ein Freund von Pat, zu dem ich weiterhin einen näheren Kontakt pflegte, war Vorarbeiter im sogenannten Permafrostgebiet in Alberta. Dort wird Öl aus Sand gewonnen, der im Tagebau geschürft wird. Ich wollte einfach noch etwas anderes sehen und ich wollte dabei richtig gutes Geld verdienen. Ich hatte nämlich gehört, dass die Firmen dort praktisch jeden einstellen, der sich dafür bereit erklärt. Man konnte dort sogar als Hilfsarbeiter angeblich bis zu 50.000 Dollar im Jahr verdienen. So hoffte ich, gleich nach Weihnachten einen guten Job über den Freund von Pat ergattern zu können.
12.
Du hast die Weihnachtstage fast allein verbracht – warum? Wie war die Situation um die Weihnachtszeit herum für Dich? Warum bist Du nicht – wie geplant – ins Permafrostgebiet gegangen, wo doch angeblich so gut bezahlt wurde? Wie bist Du aus Deiner schwierigen, fast depressiven Stimmung auf der Farm wieder herausgekommen?
Die Weihnachtstage habe ich auf der Farm bei Pat verbracht. Für mich war dies hier so etwas wie eine Ersatzfamilie. Laila war über Weihnachten heim zu ihrer Familie nach Deutschland geflogen. Dies wollte ich aber auf keinen Fall. So etwas wie eine Bescherung gab es aber am Heiligabend bei Pat auf der einsamen Farm nicht. Er hatte anscheinend etwas mit Anita „angefangen“, einer 25-jährigen Münchnerin, die auch „wwooferin“ war. Die beiden steckten eng zusammen. An Heiligabend schaute ich mir alleine einen Film an, das war es dann.
Zu Weihnachten glaubte ich damals noch immer an einen Job im Ölgebiet. Daher wartete ich auf der Farm auf eine positive Nachricht von Pat's Freund. Zum Zeitvertreib ging ich oft ins Internet. Bei Wikipedia lernte ich zum ersten Mal meine Geschichte und Kultur näher kennen. Was die Lehrer in Deutschland bei mir in Jahren nicht erreicht hatten, saugte ich jetzt wie ein Schwamm in nur wenigen Tagen auf. Vielleicht hatte ich gerade deswegen Sehnsucht nach der eigenen Kultur und Geschichte, weil ich nun so weit von zu Hause weg war.
Als eine Nachricht von Pat's Freund ausblieb, wurde mir bald klar, dass ich mich schnell nach einer anderen Arbeit umschauen musste. Das Geld wurde wieder knapp. Heute weiß ich, warum es damals im Ölgebiet nicht geklappt hat: Der internationale Ölpreis war unerwartet deutlich gesunken. Damit rentierte sich der Tagebau nicht mehr richtig. Die Firmen konnten daher nicht Volllast arbeiten und stellten keine neuen Leute ein. Es wurde also nichts mit dem tollen Job. Diese Enttäuschung musste ich aber erst einige Tage lang verdauen und dies hat mich für kurze Zeit etwas depressiv gestimmt. Ich musste schleunigst weg von der Farm, da mich hier jeder Tag Geld kostete.
13.
Deine dritte Arbeitsstelle war zugleich Deine letzte, wenn man die drei „wwoof“-Farmen als eine Arbeitsstelle ansieht. Du hast in einer Kneipe gearbeitet. Was war Deine Aufgabe dort? Wo hast Du in dieser Zeit gewohnt? Wie war die Bezahlung im Vergleich zu vorher? Hast Du dabei neue Kontakte knüpfen können?
Um den 10. Januar herum verabschiedete ich mich von Pat und von seiner Farm und fuhr mit meinem wenigen Gepäck mit dem Bus zu der zwei Stunden entfernten Provinzhauptstadt Edmonton des Bundesstaates Alberta. Ich wollte nicht mehr bei Pat bleiben, er war mir einfach zu anstrengend als Persönlichkeit. Andererseits habe ich bei ihm Reiten lernen dürfen. In Edmonton wohnte ich wieder in einem Hostel. Ich wollte mich im Gastronomiebereich umschauen, weil ich mehr Kontakt zu Leuten bekommen wollte. Auf der Farm war es nämlich ziemlich einsam für mich gewesen.
Nach drei Tagen zog in dem 8-Betten-Zimmer im Bett unter mir der Australier Ben ein. Mit ihm habe ich mich sofort angefreundet. Er war von Beruf Elektriker, ein eher ruhiger Typ mit guten Umgangsformen. Er wurde für mich so etwas wie eine Leitfigur. Mit ihm bin ich danach aufs dortige „Arbeitsamt“ gegangen, um nach einer Arbeit zu suchen. Die Kneipe gilt in Kanada als das eigentliche Job-Center. Ob ich mit meinen begrenzten Sprachkenntnissen als „Bedienung“ Chancen haben könnte? Ben riet mir, es doch einfach mal zu probieren. Diesen Anstoß von ihm brauchte ich anscheinend dringend, um meine Selbstzweifel zu überwinden.
In der Hauptstraße, die mir wie ein Klein-Schwabing in München erschien, hinterließ ich in mindestens zehn verschiedenen Kneipen und Bars eine schriftliche Bewerbung. In der vorletzten Kneipe der Straße hieß es dann, dass sie einen Koch bräuchten. Ich machte dem für die Küche zuständigen legeren Chef-Koch klar, dass ich im Kochen überhaupt keine Ahnung hätte. Schon nach einem Tag rief er mich aber im Hostel an. Es wurde anscheinend gerade als Vorteil angesehen, dass ich bezüglich Kochen noch völlig unbedarft war. So ein Glück! Am 15. Februar wollte ich anfangen.
Nun machte ich mich aber zusammen mit Ben zuerst auf Wohnungssuche. Denn im Hostel wollte ich mit noch sieben anderen nicht länger in dem einen Zimmer bleiben. Bald fanden wir ein Haus, das zwei Brüdern aus Ostdeutschland gehörte. Dort zog ich schon zwei Tage später mit Ben in die Kellerwohnung ein und hauste da auch bis zum Ende meines Kanada-Aufenthalts. Es wurde meine beste Zeit. Hier konnte ich mich endlich entspannen. Mit Ben fühlte ich mich sehr wohl.
14.
Kamst Du mit dem Geld hin, das Du in Kanada verdient hast, konntest Du Dich also bei Deiner zehnmonatigen Reise finanziell über Wasser halten? Wie waren die letzten Wochen bei Deiner Arbeit in der Kneipe? Warst Du froh, dass der Aufenthalt in Kanada wieder zu Ende ging oder bist Du danach vielleicht sogar mit Wehmut wieder nach Deutschland heimgefahren?
Der Wirt zahlte mir neun Dollar die Stunde. Damit konnte ich nicht viel Geld machen, aber es deckte zumindest meine Unkosten. Fairerweise muss ich gestehen, dass mir in der Zeit von Weihnachten bis zum 15. Februar das Geld ausgegangen war. Daher hatte mir mein Vater im Januar nochmals 1000 Euro überwiesen. Somit habe ich insgesamt zweimal von meinem Vater Geld gebraucht – für den Visionssuche-Kurs im Herbst und jetzt zur Überbrückung im Januar.
In der Kneipe habe ich insgesamt dreieinhalb Monate gearbeitet; es war die längste Periode an einer Arbeitsstelle und zugleich meine „geilste“ Zeit in Kanada. In der Kneipe, in der es nur Bedienungen gab, herrschte eine etwas verrückte, aber angenehme Atmosphäre. Nach der Arbeit saß ich meist mit den Mädels noch auf ein Bier zusammen. Das einzig Dumme war, dass ich etwa 35 Minuten zu Fuß nach Hause hatte. Einmal bin ich diese Strecke sogar bei 15 Grad minus gegangen.
Von dem siebenköpfigen Küchenpersonal hat jeder gekifft, der Chef hat gesoffen. Die 17-jährige Bedienung Amely schluckte regelmäßig Ecstasy, das hat mich brutal abgeschreckt. Überhaupt waren die meisten vom Personal Kinder von Alt-Hippies. Von ihren Eltern wurden sie anscheinend in den Drogenkonsum eingeführt. Ich habe dort auch einmal „Gras“ geraucht, mir aber in Kanada und auch bisher niemals selbst Drogen gekauft. Gerade weil die Kollegen und Kolleginnen dort so ungeniert Drogen nahmen, hat mich dies nachhaltig abgeschreckt; dies war eine wichtige Lebenserfahrung für mich.
Ja, ich bin schon mit Wehmut heimgefahren, vor allem wegen Ben. Denn von ihm konnte ich auf menschlicher Ebene viel lernen. Mit ihm war immer etwas los, er hatte fast jedes Wochenende eine andere Freundin. In der Regel waren die Mädchen sehr hübsch. Wo kriegte der die bloß immer wieder her? Auch ich hatte einmal für kurze Zeit eine Freundin. Es war für mich eher ein Experiment. Sie war Kanadierin und hatte den Bachelor of Psychology, mittlerweile ist sie sogar Professorin. Sie war damals 26 Jahre alt und somit knapp fünf Jahre älter als ich, etwas schüchtern und pummelig, eigentlich nicht mein Typ. Aber ich wollte in Kanada auf diesem Gebiet wenigstens einmal einen Stich machen.
Der Abschied von der Kneipe tat mir ebenfalls etwas weh. Ich hatte mich mit den circa 30 Leuten Personal aus der Kneipe und den sieben Leuten in der Küche wirklich gut angefreundet. Sie waren alle wirklich nett zu mir und diese Gemeinschaft ging mir danach schon ab.
15.
Was hast Du eigentlich in Kanada gesucht? Was hast Du mit Deiner Reise ursprünglich bezwecken wollen? Welche Erfahrungen hast Du im Rückblick gesehen gemacht? Haben sich Deine Wünsche erfüllt? Haben sich Deine ursprünglichen Ziele, warum Du nach Kanada aufgebrochen bist, verändert?
Der wichtigste Grund, warum ich nach Kanada ging, war, dass ich mir selbst und vor allem meinen Eltern beweisen wollte, dass ich auch ohne sie emotional (und finanziell!) leben kann. Und dies habe ich wohl geschafft.
Kanada war eine gute Erfahrung auf dem Weg, meine Einstellung bezüglich fremder Leute zu verändern, die von mir selbst zunächst auf einer höheren Ebene angesiedelt wurden. Dieses Thema ist auch jetzt noch nicht ganz erledigt. Darin fühle ich mich immer noch nicht zu hundert Prozent frei. Bei vielen Leuten habe ich kein Kontaktproblem, nur mit denen, die ich vorher auf eine höhere Stufe gestellt habe. Bei denen habe ich nämlich noch immer Angst, abgewiesen oder blöd angeschaut zu werden. Dies empfinde ich als eine Blockade in mir und dieses innere Muster hat mich auch in Kanada noch immer die eine oder andere Kontaktmöglichkeit gekostet. Ben war da mein großes Vorbild, denn er hatte auf dem Gebiet genau das, was ich suchte: Selbstbewusstsein und innere Freiheit.
16.