Jörg Gottschalk
Das schlanke Krankenhaus
Lean Management
Führen und verbessern im Krankenhaus der Zukunft
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Gender-Hinweis
Eine konsequent gendergerechte Schreibweise stellt eine große Herausforderung dar. Ich möchte keinesfalls den eingetretenen Pfaden der ausschließlich männlich geprägten Begriffswelt folgen. Bei all meinen ernst gemeinten Versuchen der Vergangenheit musste ich jedoch leider erkennen, dass die Lesbarkeit der Texte leidet, bis hin zur völligen Unlesbarkeit. Aus diesem Grunde verzichte ich an einigen Stellen notgedrungen und mit schlechtem Gewissen auf eine gendergerechte Sprache. Das bedeutet jedoch ausdrücklich nicht den Ausschluss des jeweils anderen Geschlechts oder die Festschreibung auf nur ein oder zwei Geschlechter. Frauen, Männer und all jene, die sich „dazwischen“ oder anders identifizieren, mögen sich von den Inhalten dieses Buches gleichermaßen angesprochen fühlen.
Jörg Gottschalk
Impressum:
© 2018 Jörg Gottschalk
Autor und Herausgeber: Jörg Gottschalk, Berlin
Lektorat: Lisa Vogel, Berlin
Umschlaggestaltung: Jörg Gottschalk
Verlag: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die heutigen Krankenhaus-Führungswaffen werden täglich stumpfer. Sparen, Privatisieren, Konzernieren, Zentralisieren und Outsourcen oder die Schließung kleiner Kliniken werden uns voraussichtlich keine bessere und günstigere Versorgung verschaffen. Irgendwann gehen uns die gestalterischen Alternativen aus und es werden stationäre Mager-Modelle entstehen, in denen das Irgendwie-klar-Kommen mehr im Mittelpunkt steht als der Patient.
Die Zeit ist reif, Alternativen zu entwickeln. Zwar können wir nicht die Welt verändern oder Geld aus dem Hut zaubern. Wir werden weder von heute auf morgen die Gesundheitspolitik noch das Selbstverständnis der Krankenversicherungen verändern. Was wir aber in der Hand haben, ist das Gestalten der eigenen Organisation.
So begann im Jahr 2011 meine ganz persönliche Suche nach möglichen Alternativen zu den herkömmlichen Führungs- und Organisationskonzepten. Was lag näher, als wieder einmal eine Anleihe bei industriellen Konzepten zu machen und mit einer Methode zu experimentieren, die ihren weltweiten Siegeszug bereits vor Jahrzehnten angetreten hat: Lean Management. Was ich in den Jahren als Geschäftsführer eines Berliner Krankenhauses über die Methode und die eigene Organisation erfahren und gelernt habe und was ich nun seit 2014 als Begleiter großer Veränderungsprozesse beobachte, versetzt mich jeden Tag erneut in Erstaunen. Lean Management ist in der Lage, eine Krankenhausorganisation in Bewegung zu versetzen und sie zu einer neuen Kultur der Führung, Zusammenarbeit und der Verbesserung zu bringen. Sichtbare Wirkung verlangt nach Bewegung. Tritt diese Bewegung einmal nicht ein, so ist Lean zumindest in der Lage aufzudecken, warum. Es gilt einmal mehr: „Um zu wissen, wo eine Schubkarre quietscht, muss man sie anschieben.“
Als erstes möchte ich mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufräumen: Ein schlankes Krankenhaus ist kein mageres, krankes Krankenhaus, sondern ein gesundes und fittes. Ein Krankenhaus, das den grundlegenden Lean-Management-Prinzipien folgt, produziert künftig weder Autos, noch stellt es auf ein Behandlungsfließbandkonzept um.
Ein schlankes Krankenhaus konzentriert seinen Blick auf den Nutzen für seine Patienten. Es arbeitet jede Minute daran, den Nutzen für seine Patienten zu steigern. Im Gegenzug verzichtet es auf alles, was seinen Nutzen nicht steigert. In einem solchen Krankenhaus verfügen die Führung und die Mitarbeitenden über umfangreiche methodische Kompetenzen. Sie kooperieren auf eine Weise miteinander, die es ihnen ermöglicht, die Qualität und Wirtschaftlichkeit ihrer Behandlungsprozesse kontinuierlich zu verbessern.
Lean Management – das ist eine meiner Erkenntnisse der letzten Jahre – lässt sich nicht auf reine Organisationsprinzipien oder Werkzeuge reduzieren. Es handelt sich um ein grundlegendes Führungsprinzip. Anfangs bin ich, wie viele andere auch, dem Trugschluss unterlegen, dass es im Lean Management primär um den Prozess geht, um das technische Gestaltungselement, um den sicht- und messbaren Erfolg und um Instrumente oder Werkzeuge. Tatsächlich geht es um viel mehr. Es geht darum, einen Weg zu finden, um die gesamte Organisation, ihre Führung und ihre Mitarbeiter dahin zu entwickeln, ihre Prozesse gemeinsam und kontinuierlich zu verbessern. Sie müssen eine Struktur finden, in der kontinuierliches Verbessern überhaupt erst möglich wird. Die Beteiligten lernen, wie gute Organisation funktioniert und wie sie sich verbessern lässt – gegen alle Hindernisse. Außerdem müssen sie gemeinsam dafür sorgen, dass Prozesse bleiben, wie sie sein sollen. Nicht ohne Grund sprechen wir im Lean-Kontext deutlich mehr über Führung, Kooperation und Kultur als über Instrumente oder Werkzeuge. Wir betreiben eine Form der Kulturentwicklung, die sich nicht in Folien und Diskursen, sondern in sichtbaren Ergebnissen widerspiegelt.
In jedem Krankenhaus existiert ein enormes Maß an Verschwendung. Leider können wir sie nicht immer auf Anhieb entdecken oder finden aktuell einfach keine bessere Lösung als die, die wir haben. Verschwendung im Sinne von Lean heißt, abweichend von unserem traditionell negativ geprägten Verständnis von diesem Begriff, Zeit für Vorgänge zu verwenden, die den Patienten keinen unmittelbaren Nutzen stiften. Wenn wir es schaffen, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr ein klein wenig dieser verschwendeten Zeit in nutzenstiftende Tätigkeiten umzulenken, entsteht echter Fortschritt im Sinne von Patientennutzen, Qualität und Wirtschaftlichkeit. Leider stehen diesem ehrenwerten Vorhaben viele Hindernisse entgegen, die es mühsam zu überwinden gilt – strukturell und Tag für Tag. Eine Methode, die nicht dazu beiträgt, führt vielleicht zu guten Konzepten und Planungen, nicht aber zu nachhaltigen Verbesserungen.
Eine typische Krankenhausorganisation ist zu komplex, als dass sie von wenigen oder gar Externen nachhaltig und grundlegend verbessert werden könnte. Selbst wenn es ginge, wäre es in den heutigen Finanzierungsstrukturen zu teuer, es könnte sich niemand leisten. Es gilt deshalb eine Organisation zu erfinden, in der sich möglichst viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aktiv und ergebniswirksam an solchen Veränderungsprozessen beteiligen können. Denn wenn viele etwas tun, setzt ein großer Effekt ein. Für dieses Prinzip der aktiven Beteiligung steht die Shopfloor-Management-Methode (Führen vor Ort), der bislang erstaunlich wenig beachtete Kern des gesamten Lean-Management-Konzeptes. Mithilfe eines Teamboards vor Ort auf den Stationen bzw. in den Behandlungsbereichen erhält der tägliche berufsgruppenübergreifende Dialog eine klare Struktur und einen ebenso klaren Fokus: sichtbare Verbesserung. Unterstützung erhalten die lokalen Verbesserungsteams von allen: von anderen Abteilungen, Servicebereichen und ihrer Führung. Ein unüberwindbarer Rahmen, verbindliche Regeln und eine konsequente Faktenorientierung unterstützen die Auflösung von Berufsgruppen- und Hierarchiegrenzen im Sinne der gemeinsamen Aufgabe. Es entsteht eine kontinuierliche, institutionalisierte Regelkommunikation – regelmäßig und als Teil von Arbeitszeit.
In einem schlanken Krankenhaus arbeiten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontinuierlich an der Verbesserung ihrer Organisation. Dazu benötigen sie ein Mindestmaß an organisatorischer Verbesserungskompetenz, möglichst einfache Gestaltungswerkzeuge sowie den zeitlichen Raum, um über Verbesserung überhaupt nachdenken und sie nachhaltig realisieren zu können. Eine möglichst breite Qualifizierung gilt deshalb als unausweichlich.
Die Einführung von Lean Management in einem Krankenhaus wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen und grundlegende Veränderungen nach sich ziehen. Viele kleine und große Hürden sind zu überwinden. Wenn ich drei der größten Hürden vorab nennen müsste, würde ich heute die folgenden wählen:
Mit den letzten beiden Hürden werde ich mich ausgiebig beschäftigen, über Zeit dagegen lässt sich wenig diskutieren: Ohne Zeit wird es keine Verbesserung geben. Zeit lässt sich nicht konzipieren, über sie kann man nur entscheiden, sie lässt sich nur mühsam erkämpfen und man muss sie eisern verteidigen.
Ich möchte Ihnen mit diesem Buch einen umfassenden Überblick über die Logik und die wesentlichen Komponenten von Lean Management im Krankenhaus verschaffen. Meine Hoffnung ist, dass Sie vieles wiedererkennen, was ihnen in Ihrem Alltag begegnet und Ihnen ebenso wenig gefällt wie mir. Gefallen oder nicht gefallen: die Dinge sind wie sie sind, alles hat einen Ursprung und einen guten Grund. Dass wir das Bestehende gerne verändern möchten, heißt nicht, dass es – immer schon oder heute – falsch, unsinnig oder schlechtgemacht war bzw. wäre.
In einem schlanken Krankenhaus möchten wir erreichen, dass alle Mitarbeitenden und ihre Führungskräfte kontinuierlich und gemeinsam daran arbeiten, ihre Strukturen und Prozesse zu verbessern. Der Patient profitiert von höherer Qualität und besserem Service, Mitarbeiter von besseren Arbeitsbedingungen und das Unternehmen Krankenhaus von höherer Wirtschaftlichkeit. Das schlanke Krankenhaus ist keine Utopie, sondern lediglich harte Arbeit.
Berlin, im Februar 2018 Jörg Gottschalk
Lean Management hat vor dreißig Jahren seinen Siegeszug in der Industrie begonnen. Es wäre ein Glücksfall, wenn wir diese industriellen Erfahrungen als Blaupause verwenden und uns auf diese Weise viele (Fehl-)Entwicklungen, schlechte Erfahrungen oder echte Krisen ersparen könnten. Wir würden uns einfach die Gnade der späten Ökonomisierung zunutze machen.
Leider funktionieren so weder die Welt noch unsere Unternehmen. Es scheint, als müssten wir alle Schmerzen, Erfolge und Misserfolge selbst durchleben, um dann auf einem neuen Level der Professionalität von den Erfahrungen anderer zu lernen.
Die Reise zu einem schlanken Krankenhaus, die ich in diesem Buch beschreibe, ist genau genommen nur die Fortsetzung eines Aufbruchs, der vor zehn Jahren begonnen hat.
Die erste Revolution – Strukturen und Sparen
Krankenhäuser haben in den vergangenen zehn Jahren viel Energie und Zeit darauf verwendet, ihre inneren und äußeren Strukturen anzupassen. Das meiste wurde längst outgesourct oder zentralisiert. Krankenhäuser wurden privatisiert oder sind unter das Dach kommunaler oder freigemeinnütziger Träger geschlüpft. Es herrscht eine konsequente Sparpolitik.
So sinnvoll und überfällig eine solche Markt- und Strukturbereinigung war, sie hinterlässt Spuren, auch ungewollte. Konsequentes Cost Cutting und Zentralisieren hat Krankenhausorganisationen unflexibel werden lassen. Ihr Personalbestand reicht heute allenfalls dafür aus, das gegenwärtige Qualitätsniveau zu halten. Mitarbeitende fühlen sich ausgelaugt, sie sehen sich vielerorts nur noch als funktionierendes Rädchen einer Gesundheitsindustrie, die längst nicht mehr den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Patienten vermissen persönliche Zuwendung.
Von der ökonomischen Seite ist keine nachhaltige Entspannung zu erwarten. Wachsende Transparenz und steigender Preisdruck werden die Verantwortlichen Jahr für Jahr zu neuen Innovationen zwingen. Die Preise für Krankenhausleistungen werden weiterhin langsamer steigen als ihre Kosten. Weitere Leistungssteigerungen werden nicht mehr, wie in den vergangenen Jahren, zu ökonomischen Entlastungen führen. Wo Leistungssteigerungen überhaupt noch in größerem Umfang möglich und ökonomisch sinnvoll sind, erhöhen sie das notwendige Arbeitsvolumen, ohne dass in gleichem Maße neue personelle Ressourcen geschaffen werden. In vielen Regionen gelingt es nicht einmal mehr, in ausreichendem Maße qualifiziertes Personal zu finden, selbst wenn das Budget es zuließe.
In diesen zehn Jahren haben Krankenhausverantwortliche immer wieder Wege gefunden, diese ungeliebte Entwicklung zu meistern, ihre Krankenhäuser zumindest über Wasser zu halten oder sie gar mit großem ökonomischen Erfolg zu führen. Doch unabhängig davon, ob ihre Umsatzrendite aktuell 3 oder 15 Prozent beträgt: Ihre bewährten Strategien geraten an ihre Grenzen. Sie suchen händeringend nach einer wirksamen Alternative zum Immer-zentraler, Immer-mehr, Immer-billiger und Immer-knapper.
Heute liegen die wahren Herausforderungen für Krankenhäuser längst nicht mehr in den großen, strukturellen Fragen von Programmen und Strukturen. Jetzt und in der Zukunft geht es um das Innere, um Innovationen am offenen Herzen einer Krankenhausorganisation. Wir werden uns mit der grundlegenden Neugestaltung der Behandlungsprozesse beschäftigen, nicht mehr nur mit der Behandlung von Symptomen.
Wenn die Einführung des DRG-Systems{1} in Deutschland als der Beginn einer ersten Revolution in der Krankenhausbranche gilt, dann stehen wir nun vor der nächsten Stufe: der zweiten Revolution in der Krankenhausbranche.
Die zweite Revolution – Prozessarbeit
Die Qualität der Krankenhausversorgung in Deutschland gilt als sehr gut. Aktuelle Patientenbefragungen weisen im Grunde auf eine hohe Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Leistung ihrer Krankenhäuser hin. Die Qualität wird aber teuer erkauft, jedenfalls teurer, als es notwendig wäre.
Krankenhausorganisationen verhalten sich in weiten Teilen ineffizient. Es bedarf erheblicher Energie und großen Aufwandes, um dieses Qualitätsniveau aufrecht zu erhalten. Ineffizienzen werden mit hoher Arbeitsmotivation und außergewöhnlichem Einsatz sowie professioneller Flexibilität und maximaler Individualität kompensiert. Eine Krankenhausorganisation ist perfekt darin, mit jeder Variation ihrer Prozesse und allen Zufällig- oder Widrigkeiten umzugehen. Das Ergebnis ist eine hohe Qualität, die jedoch viel Energie verschlingt. Ab einem Zeitpunkt X steigt das allgemeine Risiko einer solcher Organisation, umso mehr sie unter Zeitdruck gerät und die Bewältigung von Knappheit in den Vordergrund rückt.
Ein Großteil der in einer Organisation anfallenden Tätigkeiten ist nur deshalb notwendig, weil die Mitarbeitenden keine andere Wahl haben, als ineffizient zu handeln. Eine klassische Krankenhausorganisation sieht, würde man sie visualisieren, wie ein unendlich verwirrendes Netz von Aufgaben- und Kommunikationsbeziehungen aus, das verwirrend chaotisch, zufällig und intransparent wirkt. Sieht eine Organisation bereits auf den ersten Blick chaotisch aus, dann ist sie es wahrscheinlich auch. Dieser Zustand wird realiter nur dadurch aufgefangen, dass Mitarbeitende gelernt haben und bis es zur Perfektion beherrschen, extrem flexibel und erfolgreich auf jede erdenkliche Situation zu reagieren. Systemisches Chaos verlangt nun einmal chaotische Verhaltensweisen. Eine solche Organisation funktioniert – wie wir täglich erleben - hervorragend. Schließlich produzieren wir herausragende Medizin. Doch kostet diese Form der Leistungserbringung sehr, sehr viel Energie – und ebenso viel Zeit. Diese Zeit werden wir in Zukunft voraussichtlich nicht mehr haben.
Das wahre Dilemma besteht heute im Grunde nicht darin, dass es zu wenig Personal oder zu wenig Geld gibt, sondern zu viel Arbeit.
Eine Krankenhausorganisation verschwendet sehr viel Zeit darauf, Dinge zu tun, die überflüssig sind und die keinen unmittelbaren Patientennutzen stiften. Ein großer Teil von Arbeitszeit wird darauf verwendet, die eigene Organisation aufrecht zu halten. Könnte man diese (überflüssigen) Tätigkeiten weglassen und durch bessere Prozesse ersetzen, würde keinem Patienten etwas fehlen. Wir hätten lediglich weniger Arbeit.
Lernt eine Organisation, ihre Prozesse nachhaltig zu verbessern und überflüssige Arbeit und nicht notwendige Ressourcennutzung zu vermeiden, steigt ihre Wirtschaftlichkeit und ihre Qualität – so lautet die These dieses Buches. Deshalb liegen die wahren Herausforderungen der Zukunft in der Neugestaltung von Prozessen und in der Eliminierung von Verschwendung.
Schauen wir uns das Geschehen einmal aus dem Blickwinkel eines Eigentümers oder einer Geschäftsführung an, denen die wirtschaftliche Stabilität schon Kraft ihrer Verantwortung und Funktion noch mehr am Herzen liegt, als dies bei allen anderen Mitarbeitenden der Fall ist. Um die Produktivität des Unternehmens zu steigern, existieren im Grunde nur zwei bzw. drei wirklich Erfolg versprechende Strategien:
Abb. Zwei Wege © Jörg Gottschalk
Welcher dieser Wege zum Ziel führt kann nur die genaue Situation vor Ort klären. Ob so oder so, die Wirkung auf die Organisation gleicht sich: Eine Organisation wird gezwungen, mehr Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen. Lediglich schneller zu „rennen“ reicht dann auf Dauer nicht mehr aus. Der Unterschied zwischen schneller rennen (Arbeit verdichten) und produktiver arbeiten (schlanker werden) besteht darin, dass im ersten Fall Arbeit lediglich schneller und in kürzerer Zeit erledigt wird. Nachhaltig die Produktivität zu erhöhen, also schlanker (lean) zu werden, bedeutet dagegen, mit weniger Arbeit mehr zu leisten. Im ersten Fall arbeitet man konsequent darauf hin, sein Risikolevel zu erhöhen, im zweiten Fall lernt man Risiken zu vermeiden.
Darauf liegt der Fokus von Lean Management. Ein schlankes Krankenhaus lernt und erwirbt die kollektive Kompetenz, Arbeit aus seinem System zu eliminieren, seine Prozesse nachhaltig zu gestalten und sie kontinuierlich zu verbessern. So wird Verschwendung nicht lediglich billiger, sondern real reduziert bzw. eliminiert.
Man könnte auch sagen: Cost Cutting ist Diät, Lean Management ist Ernährungsumstellung. In der ersten Post-DRG-Phase haben Krankenhäuser in Deutschland ihre Strukturen bereinigt und dabei ihre innersten Prozesse weitgehend unberührt gelassen. Im Zuge dessen wurde Arbeit konsequent verdichtet. In der nächsten Phase wenden wir uns nun dem eigentlichen Unternehmenskern zu: der Neugestaltung von Behandlungsprozessen und deren stetiger Weiterentwicklung. Dabei geht um weit mehr als nur um schlichtes Handwerk. Es geht um eine grundlegende Kulturveränderung des Führens und des Zusammenarbeitens. Wir müssen nicht nur die Frage beantworten, was sich ändern soll, sondern vor allem, wie wir das bewerkstelligen wollen.
Jede Organisation verfolgt einen Zweck, ohne den sie keine Existenzberechtigung hätte. Ohne Zweck, ohne Aufgabe, würde ein Krankenhaus nicht existieren. Die existenzielle Kernfrage lautet deshalb: Welchem Zweck dient ein Krankenhaus?
Meine Antwort würde wie folgt lauten:
Der Zweck eines Krankenhauses besteht darin, jederzeit die Erwartungen seiner Patienten zu erfüllen und für sie den höchst möglichen Nutzen zu stiften. Alles, was diesen Nutzen erhöht, trägt zum Erfolg des Unternehmens bei. Was nicht dazu beiträgt, ist überflüssig.
Wenn Sie diese Zweckdefinition teilen, verfolgen Sie eine konsequente Kundenorientierung. Es dürfte für Sie kein Zweifel daran bestehen, dass in letzter Konsequenz immer und ausschließlich der Kunde den Maßstab für Ihr Handeln setzt. Sie werden alles daransetzen, seine Erwartungen zu erfüllen.
Viel zu oft schaut man auf den Gesetzgeber, der den Rahmen setzt, auf die Krankenkassen, die Einfluss ausüben, oder auf niedergelassene Ärzte, in deren relativer Abhängigkeit man sich wähnt. Ohne Frage existieren zahlreiche Interessengruppen, Einflüsterer oder auch nur mächtige Organisationen und Personen, die ein Unternehmen unmöglich ignorieren darf. Doch gibt es nur einen, ohne den ein Krankenhaus niemals existieren könnte: sein Patient, sein Kunde.
Den Patienten als König zu begreifen, fällt zugegebenermaßen schwer und löst reflexartig Widerspruch aus. Das Unternehmen Krankenhaus unterliegt ökonomischen Zwängen, der gemeinsame Bundesausschuss schließt Leistungen aus, Krankenkassen geben Regelungen vor. Patienten entwickeln Erwartungen, die ein Krankenhaus scheinbar nicht erfüllen kann. Weite Teile einer medizinischen Behandlung bleiben Patienten verborgen, deshalb fällt es ihnen naturgemäß schwer, objektive Erwartungen zu äußern. Das Ergebnis einer Behandlung ist nur in Ausnahmefällen eindeutig messbar, selten verständlich und damit kaum objektiv zu bewerten. Es steht außer Frage, dass konsequente Patientenorientierung oder gar vollständige Wunscherfüllung selbst unter den besten Voraussetzungen kein einfaches Unterfangen ist. Mancher Widerspruch lässt sich einfach nicht auflösen oder wäre gar zum gesundheitlichen Schaden für den Patienten selbst.
Trotz all dieser Einschränkungen und Widersprüche sollte der Patient das Geschehen bestimmen. Alles andere würde Verwirrung stiften und den Handelnden die Orientierung rauben.
Auch wenn wir von außen gezwungen werden, uns gegen unsere Kunden zu entscheiden, sollten wir uns trotzdem für sie entscheiden und im Zweifelsfall die Konsequenzen tragen.
Konsequente Kundenorientierung bedeutet niemals blinde Kundenorientierung. Niemand kann die Realität ausblenden und sämtliche Zwänge ignorieren. Die Energie eines Krankenhauses sollte sich aber stets eindeutig und zweifelsfrei darauf richten, die Erwartungen seiner Patienten zu erfüllen. Jede andere Strategie würde das Unternehmen Krankenhaus in die Irre führen – zumindest gilt diese Behauptung auf die lange Sicht.
Nicht ohne Grund stellt Lean Management drei zentrale Begriffe in den Mittelpunkt seines gesamten Denkens und Handelns:
Abb. Wertschöpfung und Verschwendung © Jörg Gottschalk
Langfristig schafft ein Krankenhaus herausragende Qualität und wirtschaftlich gewünschte Ergebnisse, wenn es die Erwartungen seiner Patienten erfüllt und dabei möglichst wenig Ressourcen einsetzt. Ein schlankes Krankenhaus tut alles, um den Nutzen seiner Leistungen für die Patienten zu maximieren. Ebenso unterlässt es alles, was deren Erwartungen nicht entspricht, also für sie keinen Nutzen stiftet und somit lediglich Verschwendung bedeutet.
Es klingt so leicht und plausibel, doch was hindert uns eigentlich heute daran, all das zu realisieren, von dem wir überzeugt sind, dass es zum Wohle des Unternehmens, seiner Mitarbeitenden und Patienten wäre?
Ein Krankenhaus ist eine äußerst intelligente Organisation. Sie strotzt nur so vor Wissen, Ideen und Lösungen. Diese intelligente Organisation wird ununterbrochen daran gehindert, Ideen in die Tat umzusetzen. Doch Hindernisse treten selten offen zutage, viele verstecken sich tief unter der Oberfläche. Die meisten halten wir für so selbstverständlich im Leben einer Organisation, dass wir sie als gegeben akzeptieren – meist stillschweigend. Diese stillschweigende Akzeptanz ist nichts anderes als eine geistige Kapitulation vor dem Faktischen, dem Heute. Was also hindert uns, voranzukommen? Was führt dazu, dass das Bewahren des Ungewollten offenbar leichter scheint als seine Verbesserung?
Knappheit, Komplexität, Kultur und Kompetenz – die vier K der Krankenhausorganisation stellen die Hindernisse dar, die so unüberwindlich erscheinen.
Knappheit
Knappheit bedeutet, dass naturgesetzlich von allem zu wenig existiert: zu wenig Personal, Zeit, Geräte, Räume oder einfach zu wenig Geld. Knappheit ist kein Krankenhausprivileg, sondern die Grundlage unserer gesamten Wirtschaftsordnung. Hätten wir von allem immer genug oder noch mehr, hätten wir viele Probleme nicht. Sehr wahrscheinlich würden wir uns in diesem Fall mit anderen Sorgen quälen, die wir jedoch heute nicht kennen. Wir beklagen uns über die ständige Knappheit, ohne wirklich zu wissen, ob es uns oder unseren Organisationen besserginge, wenn keine Knappheit herrschte.
In einem Unternehmen dreht sich vieles um die optimale Organisation von Knappheit. Der Grundkonflikt besteht darin, zu entscheiden, wie welche Ressourcen wo eingesetzt werden, damit der resultierende Output den größtmöglichen Nutzen stiftet. Es geht um die bestmögliche Verteilung stets knapper Ressourcen zum Wohle von Patienten.
Komplexität
Eine Krankenhausorganisation weist eine ungleich höhere Komplexität auf als jedes Industrieunternehmen. Im Prozess der Patientenversorgung besteht stets eine starke, wechselseitige Abhängigkeit jedes Arbeitsschrittes von dem jeweils vor-, gleich- oder nachgelagerten Schritt. Jeder Prozessschritt hat dabei eine hohe Variabilität, was zu einem schwankenden und damit schwer zu steuernden Arbeitsanfall führt. Deswegen erzeugt jede Veränderung an einer Stelle der Organisation an einer anderen Stelle eine Wirkung – manchmal positiv, oft negativ. Solche Wirkungen können wir selten vorhersehen, geschweige denn (konzeptionell) planen.
Die Komplexität nimmt unaufhaltsam zu, weshalb auch viele Rezepte der Vergangenheit heute nicht mehr funktionieren. Der konzept- bzw. projektorientierte Ansatz, mit dem wir in der Vergangenheit mehr oder weniger erfolgreich versucht haben, Organisationen zu verändern, weicht deshalb im Lean Management dem Prinzip der kleinen Schritte.
Kultur
Die Versorgung von Patienten in der Institution Krankenhaus ist einst aus der Einsicht entstanden, dass Heilung kein individueller ärztlicher Akt bleiben kann, sondern viele Kompetenzen gleichzeitig erforderlich sind, die von einer Person alleine unmöglich geleistet werden können. Zwar arbeiten heute in einem Krankenhaus zahlreiche Berufsgruppen und Menschen miteinander, doch bleibt der Kern der Krankenhausversorgung die Medizin. Das ist der Grund, warum sich Krankenhausprozesse nach wie vor primär an der ärztlichen Ressource ausrichten, die stets wichtig, besonders knapp und teuer zu sein scheint. Sie orientieren sich selten an den Patienten. Die Kultur der Ärzteorientierung führt zu einer Fehlfokussierung von Behandlungsprozessen, zu hoher Individualität, zu latenter Regelaversion sowie zu einer Überbetonung medizinischer Sachverhalte vor organisatorischen Notwendigkeiten. Krankenhausversorgung funktioniert auf diese Weise offensichtlich gut, doch sie frisst viel Energie, Ressourcen und Geld.
Kompetenz
Eine Krankenhausorganisation ist zweifelsfrei hochkompetent, ihr Gesamtbildungsgrad hebt sich deutlich von anderen Organisationsformen ab. Es existiert ein großes medizinisches, pflegerisches und funktionelles Wissen, für dessen Erhalt und Ausbau erhebliche Mittel und Zeit investiert werden. Es fehlt jedoch eine zentrale Kompetenz: wie Organisationen und ihre Prozesse verbessert werden. Es fehlt das methodische Prozesswissen ebenso wie handwerklich-prozessuales Wissen, um Organisationen kontinuierlich weiterzuentwickeln, sie stetig zu verbessern.
Solche Kompetenzen wurden bisher kaum abgerufen und folglich nicht aufgebaut oder sie blieben lediglich einer kleinen Gruppe zentraler Unterstützer im Qualitätsmanagement oder in den Organisationsabteilungen vorbehalten. Die aber sind angesichts der schieren Größe und der hohen Komplexität einer Krankenhausorganisation in der Regel hoffnungslos überfordert.
Die vier K bieten eine erste Orientierung für das, was eine Organisation täglich daran hindert, sich selbst zu verbessern. In gewisser Weise bilden sie den Ordnungsrahmen. Auf der Prozessebene, also im konkreten Tun, existieren weitere, greifbare Barrieren für Veränderung.
Abb. Zehn Hindernisse © Jörg Gottschalk
Ziellosigkeit
Alle Krankenhausorganisationen verfügen über messbare, wirtschaftliche Ziele. Sie stellen jedoch keine spürbare Verbindung her zwischen der „abstrakten“ Unternehmens- oder Abteilungsebene einerseits, auf die diese Ziele primär abzielen, und dem konkreten Arbeitsplatz der Mitarbeitenden andererseits. Was genau muss an einem spezifischen Arbeitsplatz von diesem einen Mitarbeiter oder dieser einen Mitarbeiterin getan werden, damit die wirtschaftlichen Ergebnisse erreicht werden? In der täglichen Verbesserungsarbeit bewegt sich eine Organisation stets auf der Prozess-, Vorgangs- und Aufgabenebene, also dort, wo Mitarbeitende konkret im Arbeitsalltag handeln und mit Patienten direkt im Kontakt stehen. Hier helfen keine abstrakten Qualitäts- oder Gewinngrößen. Notwendig sind vielmehr operative Prozesskennzahlen, die Orientierung genau dort geben, wo sie tatsächlich benötigt wird: bei jedem einzelnen Mitarbeitenden an jedem einzelnen Arbeitsplatz. Ohne operative Prozesskennzahlen verlieren sich die Mitarbeitenden im Abstrakten und Prozessarbeit verliert sich im Unendlichen und Beliebigen. Es fehlt die Orientierung, die Richtung. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf der Prozessebene arbeiten ziellos, ohne eine erlebbare Verbindung zu einem übergeordneten Ziel.
Die Fähigkeit einer Organisation, aus den abstrakten Erwartungen ihrer Patienten und den Unternehmenszielen lebendige, operative Prozessziele abzuleiten, fehlt – und damit fehlt auch ein sehr zentrales Element für die nachhaltige Schaffung von Prozessstabilität und Veränderungsdynamik.
Transparenz
Während noch vor zehn Jahren Daten und Kennzahlen im Krankenhaus eine Mangelware darstellten, verfügen Krankenhäuser heute über eine beinahe unendliche Anzahl an Ergebnis-, Leistungs-, Kosten- und Qualitätskennzahlen. Controlling erlebt derzeit einen beispiellosen Bedeutungsaufschwung. Auf der Prozessebene allerdings herrscht nach wie vor Intransparenz. Es mangelt an gelebten Standards und Regeln sowie Prozesskennzahlen, heutige IT-Systeme folgen einer primären Abrechnungs- und weniger einer Prozesslogik. Deshalb stehen relevante Kennzahlen auf der Arbeitsebene selten zur Verfügung und müssen mühsam, zum Teil händisch, erhoben werden.
Es fehlen also die Fakten, an denen sich Mitarbeitende, Teams und Führende zeitnah und nicht lediglich retrospektiv orientieren können. Messbarkeit und Faktenorientierung aber sind die grundlegenden Voraussetzungen für jede Organisation, um Probleme zu erkennen, sie zu analysieren, zu bewerten und die Wirkung von Verbesserung zu bemessen. Ohne belastbare Fakten bleibt jede Argumentation und jede Diskussion im Ungefähren, im Gefühlten und Individuellen. Sie entziehen sich jeder objektiv-rationalen Beurteilung und Verbesserung.
Erfahrungen
Alles Handeln von Menschen basiert auf den Erfahrungen, die sie im Laufe eines Lebens und in einer Organisation sammeln. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in komplexen Organisationen müssen in der Regel die Erfahrung machen, dass sie nur sehr schwer etwas bewegen können, von ihren Vorgesetzten wenig Unterstützung erfahren und bei der Lösung ihrer Probleme weitgehend auf sich selbst gestellt sind.
Wenn diese Haltung in einer Organisation vorherrscht, werden Probleme nicht mehr gelöst, sondern umgangen. Es wird irgendwann nicht mehr der Versuch unternommen, Hindernisse beherzt anzugehen, um sie zu überwinden. Alle Mitarbeitenden entscheiden sich lieber dafür, keine Energie mehr für Handlungen und Konflikte aufzuwenden, wenn es sich nach ihrer Erfahrung nicht lohnt: „Verbesserung gelingt doch nie. Das haben wir alles schon probiert.“
Das wirkliche Hindernis für Verbesserungsarbeit besteht dann nicht mehr darin, das Hindernis selbst zu überwinden. Die Hauptarbeit liegt darin, Menschen dazu zu bewegen, ihre Energien überhaupt für einen solchen Hindernislauf aufzubringen, ihre Erfahrungen über Bord zu werfen und eine neue Erfahrung zuzulassen: dass sich doch etwas bewegen lässt. Die einzige Möglichkeit, ein solches kollektives „Erfahrungstrauma“ zu überwinden, besteht darin, neue Erfahrungen zu sammeln. Es helfen weder PowerPoint-Folien, Apelle noch große Reden – nur Taten.
Es stellt eine echte Herausforderung dar, Menschen dazu zu bewegen, etwas Neues auszuprobieren und niemals aufzugeben, auch wenn sich wieder einmal ein Hindernis nicht beim ersten Mal überwinden lässt. Wir müssen die Beteiligten wieder neugierig machen und zum Durchhalten bewegen. Anders wird es nicht gelingen.
Tunnelblick
Der Mensch neigt dazu, das aktuell Gelebte als sein persönliches Universum zu begreifen. Außerhalb dieses Tunnels lauert das Unbekannte, das Gefährliche. Wer lange Jahre in einer Organisation arbeitet, erlebt sein System als sein persönliches Universum und kann sich kaum vorstellen, dass ein anderes existieren könnte. Seine Erfahrungen und Routinen verleiten ihn dazu, am Bekannten festzuhalten – so unbequem und falsch es auch ein mag. Dabei spielt ihm sein Gehirn einen gewaltigen Streich. Etwa Neues auszuprobieren oder zu experimentieren ist zwar häufig nicht schwer, doch es entspricht nicht dem natürlichen, menschlichen Handlungsmuster. Das Gehirn liebt es, erfahrungsbasiert, automatisch, schnell und häufig unbewusst solche Lösungen zu finden, die es bereits kennt. Es ist fester Bestandteil des urmenschlichen Überlebensdrangs.
Im Verbesserungsprozess arbeitet man gegen diesen menschlichen Wesenszug an. Zu Beginn jeden Veränderungsprozesses fällt es schwer, ursachenorientiertes Problemlösen zu praktizieren. Man kämpft gegen den menschlichen Reflex, Offensichtliches als das eigentliche Problem zu identifizieren oder schnelle Lösungen zu favorisieren, die entweder nicht die wirklichen Ursachen bearbeiten oder ein Problem lösen, das so gar nicht existiert. Der Mensch schießt zu schnell und wird so Opfer seiner eigenen Ungeduld. Es fehlt die Kompetenz, rational und ursachenorientiert zu arbeiten, der Weitblick, über den eigenen Tellerrand hinauszudenken und die Fähigkeit, sich aus dem persönlichen Erfahrungstunnel zu befreien.
Not invented here
Not invented here beschreibt ein Phänomen, bei dem es am ehesten um die Frage geht: „Was geht es mich an?“ Positiver formuliert fragt sich ein Mitarbeiter: „Was kann ich schon tun?“ In großen Organisationen, in denen der Beitrag jedes Einzelnen zum Gesamterfolg kaum mehr messbar, sichtbar und damit für den Einzelnen nicht mehr erlebbar wird, schwindet nicht automatisch das Interesse am Ganzen. Immer jedoch sinkt die persönliche Betroffenheit und der persönliche Verantwortungsbezug. Der Einzelne verliert seine eigene Bedeutung für das Ganze aus den Augen und fühlt sich unwichtig. „Was kann ich schon bewegen?“ Seine Bereitschaft sinkt, überhaupt Energie für Verbesserungsarbeit aufzubringen. Als Rädchen im Getriebe des Großen und Ganzen empfindet er seine persönliche Anstrengung als zu unbedeutend.
Je kleinteiliger Prozessziele definiert werden, je konkreter jeder einzelne Mitarbeitende (auch kleinste) Verbesserungen selbst bewirken muss (oder darf) und den eigenen Beitrag zur Verbesserung selbst erlebt, umso mehr steigt seine persönliche Involviertheit. Es geht nicht darum, Mitarbeitenden das Gefühl der Beteiligung zu geben oder sie gar (irgendwohin) mitzunehmen. Das ist typischer Managerwortnebel. Es geht darum, Führende und Mitarbeitende auf der Arbeitsebene in konkretes Handeln zu bringen und das Ergebnis ihres Handels auf genau dieser Detailebene transparent und spürbar werden zu lassen. Wir müssen unsere Mitarbeitenden nicht mitnehmen, sondern befähigen und machen lassen.
Angst vor Machtverlust
Die Kompetenzen von Mitarbeitenden zu entwickeln, Kompetenz aktiv zuzulassen und sie für das Unternehmen wirksam zu nutzen, fällt vielen Führenden in hierarchischen Systemen schwer. Es ist oft verbunden mit der Angst vor dem eigenen Machtverlust. Neben der formalen Macht existieren nicht ohne Grund zahlreiche weitere Formen informeller Macht, zu deren wichtigsten die Informations- oder Wissensmacht zählt. Wer über Informationen und Wissen verfügt, kann Einfluss üben. Wer andere an seinem Wissen teilhaben lässt oder gar von Mitarbeitenden wissenstechnisch übertroffen wird, verliert an Einfluss. Zumindest lautet so die Befürchtung vieler Führungskräfte.
In einer Organisation der dezentralen, kontinuierlichen Verbesserung müssen sowohl Kompetenzen als auch Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheiten von Mitarbeitenden wachsen dürfen. In einer komplexen Welt entsteht Erfolg und Fortschritt nicht mehr aus der alles umfassenden Kompetenz einer einzelnen Führungskraft, sondern aus ihrer Fähigkeit, das eigene Team zu befähigen und ihre Fähigkeiten für die Organisation produktiv zu nutzen. Hat eine Führungskraft Angst vor der Stärke ihrer eigenen Organisation und befürchtet sie ihren persönlichen Machtverlust, wird sie versuchen, diese Entwicklung zu verhindern – vielleicht nicht bewusst, aber möglicherweise erfolgreich.
Angst vor Neuem
Nicht nur die Angst vor Machtverlust verhindert Veränderung, sondern die Angst vor Neuem generell. Jedem Neuen wohnt vielleicht ein Zauber inne, vor allem aber bedeutet es: Unsicherheit und neue Risiken. Kann man es? Beherrscht man es? Welche (ungewollten) Wirkungen treten ein? Was hat man nicht bedacht? Wie reagieren andere darauf? Was passiert, wenn es schiefgeht? All diese Fragen laufen vor dem inneren Auge ab. Das alte Schlechte kommt uns immer noch besser vor als das neue Unbekannte.
Angst als Gefühl ist durchweg negativ belegt. Im Grunde schützt Angst den Menschen und seine Organisation so manches Mal vor unüberlegtem Handeln, vor nicht kalkulierbaren oder unbedachten Risiken. Angst lädt förmlich zum Nachdenken ein. Solange sie nicht zu Angststarre führt, bleibt sie ein wichtiges, stabilisierendes Element für Menschen und Organisationen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Führungskräfte bereits von der Angst ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gerettet worden sind.
Um im Organisationskontext voranzukommen, müssen wir Ängste überwinden und ausräumen. Ein guter Anfang ist bereits gemacht, wenn man sie als wichtiges, menschliches Gefühl akzeptiert, anstatt sie als etwas Negatives oder Überflüssiges zu verurteilen. Verliert Angst erst ihren negativen Kontext, muss sie weder bekämpft noch infrage gestellt werden. Wie gut kennen wir alle den Ausspruch unserer Eltern: „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Ein Dank an unsere Eltern für diesen überflüssigen Hinweis!
Statt die eigene Angst zu ignorieren, infrage zu stellen oder gar abzulehnen, können wir uns nun darauf konzentrieren, uns selbst und anderen zu beweisen, dass es sich lohnt, die eigene Angst zu überwinden und sich selbst die (neue) Erfahrung zu verschaffen, dass das Neue tatsächlich hilfreich sein kann und dass Fehler bzw. Rückschläge nicht bestraft werden. Im Gegenteil: Fehler und Rückschläge sind starke Treiber des Fortschritts und Bestandteil jedes professionellen Veränderungsprozesses.
Hier ist wirkliche und kompetente Führung gefragt: Kleine Schritte machen weniger Angst als große. Transparenz fördert Sicherheit ebenso wie Wissen und Kompetenz. Eine positive Führungs- oder Fehlerkultur schafft den (positiven) Rahmen für Neues. Mit Blick darauf, wie weit wir im Alltag von diesen segensreichen Zuständen entfernt sind, ist es nicht verwunderlich, wenn die Angst tatsächlich zum Bremsklotz der Entwicklung wird.
Hilf(e)losigkeit
Verbesserungsarbeit gleicht einem Hindernislauf. Widerstände, mangelnde Kompetenzen, fehlende Instrumente, lange Entscheidungswege und vieles mehr können eine Organisation und ihre Mitarbeitenden daran hindern, eine angestrebte Lösung zu erreichen. In vielen Situationen benötigen sie Unterstützung und Hilfe von Spezialisten, von Kollegen, aber vor allem von der eigenen Führung. Diese wird ihnen heute allzu oft verweigert. Ihre Hilfebedürftigkeit wird nicht erkannt.
Führung kann mit Wissen helfen, manchmal mit Geld, vor allem jedoch mit schnellen und verbindlichen Entscheidungen. Manchmal ist es nötig, dass die Führung in der eigenen Organisation Türen öffnet, z. B. die einer anderen Abteilung, die ihre Leistung nicht erbringt oder nicht kooperiert. Wenn es diese Hilfe nicht gibt, kann Fortschritt an jeder Stelle im Prozess im Keim ersticken und es erlischt die Energie für Veränderung. Es geht nicht voran.
Deshalb wird sich die Rolle der Führung radikal verändern müssen. In modernen Organisationen erteilt die Führung nicht nur Aufträge an andere und fordert von ihrem Schreibtisch oder aus ihren bequemen Besprechungsräumen heraus „Erfolge“ von ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ein. Stattdessen verlässt die Führung ihren Schreibtisch und arbeitet dort (mit), wo die Probleme realiter zu lösen sind. Sie hilft ihren Mitarbeitenden dabei, Verbesserung möglich zu machen. Es liegt nun einmal nicht immer in der Kompetenz dezentraler Teams, organisatorische Hindernisse zu beseitigen. Dazu brauchen sie „Oben“.
Schubladendenken
Die klassische Organisationslehre ordnet eine Krankenhausorganisation sorgfältig in Kästchen und Schubladen ein, streng hierarchisch in ihrer Darstellung von oben nach unten. Jede Schublade repräsentiert einen beschreibbaren, möglichst abgeschlossenen Aufgaben- und Verantwortungsbereich. Bei dieser „Schubladisierung“ stehen traditionell Funktionen und Aufgaben im Fokus, nicht Prozesse und schon gar nicht der Patient. In einem Krankenhaus wird dieser Effekt noch dadurch verstärkt, dass die Dienstgruppenzuständigkeiten abteilungsorientierte Zuordnungen durchqueren. Wer leitet eine Station? Der Chefarzt? Die Pflege? Beide? Wir wissen es nicht. Eine Krankenhausorganisation agiert als Matrix der formalen Unzuständigkeit. Es entstehen viele selbständige, sich selbst optimierende Einheiten mit starker Innenidentität. In der Systemtheorie begründet die starke Innenidentität einer Abteilung und ihre Abgrenzung von anderen erst ihre Lebensberechtigung. Wenn sich eine Organisationseinheit nicht von anderen unterscheidet, dann bräuchte man sie nicht. Umso mehr Gruppen existieren, umso stärker wird ihre Tendenz sein, sich voneinander abzugrenzen.
Dieses Schubladendenken mit seiner fest verankerten Sucht nach Selbstoptimierung verhindert im Grunde jede Form der Kooperation, die in einem Prozess der gemeinsamen Leistungserstellung eine Grundbedingung für effizientes Arbeiten darstellt.
Moderne Verbesserungsarbeit kann auf absehbare Zeit nicht verhindern, dass Abteilungen und Dienstgruppen existieren und sich selbst optimieren. Führung kann jedoch dazu beitragen, dass natürliche Interessensgegensätze nicht auch noch unnötig verschärft werden. Es gibt durchaus wirksame Wege, um abteilungs- und dienstartenübergreifende Kooperationen zu fördern.
Deshalb wird die Führung die Aufgabe annehmen müssen, ihre Schubladen produktiv zu nutzen. Sie wird ihre Organisationseinheiten erhalten, sie nutzen und gleichzeitig überwinden müssen. Keine ganz einfache Angelegenheit.
Bürokratie
Krankenhäuser sind von Natur aus risikoavers, weshalb sie prädestiniert sind für ausgeprägte bürokratische Strukturen. Die Arbeit am Patienten erfordert Ressourcen, Material und Geräte. Manchmal werden nur einfache Hilfsmittel benötigt, manchmal komplexe Software oder aufwendige Geräte. Meist geht es jedoch gerade nicht um die großen Investitionen. Es sind fast immer die kleinen Stolpersteine, die Verbesserung verunmöglichen: eine neue abteilungsübergreifende Handlungsregel, ein fehlender PC, eine fehlende Pinnwand, eine kleine Änderung in der Eingabemaske einer Software, die Änderung eines Formulars, manchmal fehlen nur Sammelordner.
Wenn jede Beschaffung oder Entscheidung, so klein sie auch sein mag, große Entscheidungsprozesse und Genehmigungsverfahren nach sich zieht und jede Beschaffung und jeder interne Auftrag zu einem wahren Hindernislauf für alle Beteiligten wird, dann fließt viel Energie in die falsche Richtung. Hier ist die Führung gefragt, um die Voraussetzungen für schnelles Entscheiden und Handeln zu schaffen. Bürokratie ist ein Geschwindigkeitsfresser und damit ein echtes Hindernis für Verbesserung. In einem Prozess der kontinuierlichen Verbesserung wird Geschwindigkeit zum Selbstzweck und Bürokratie zum Gegner des Fortschritts.
Schon der Begriff selbst – Lean Management – reizt Krankenhausfachleute und -beschäftigte zum Widerspruch. „Wir bauen keine Autos, sondern behandeln Patienten.“ Das ist dabei die eine Variante der Ablehnung. In einer zweiten Variante wird die einseitige, ökonomische Orientierung der Methode kritisiert, die mit dem Begriff „Schlankheit“ reflexartig verbunden wird. Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre erscheint mir das negative Image einer neuen Methode nur allzu verständlich. Im ewigen Sparunwesen ist den Beteiligten längst das helfende, unterstützende Element eines Krankenhauses verloren gegangen.
In meinem Verständnis bedeutet schlank etwas völlig anderes. Schlank meint eben nicht mager und Lean Management verfolgt weit mehr als lediglich ökonomische Zwecke. Genau genommen geht es um den Patienten, die Mitarbeitenden und deren Zusammenwirken in der Organisation.
In der Literatur existieren zahlreiche Definitionen für Lean. Sie entspringen in der Regel einer wissenschaftlich, universitären Denke. Ihr Ursprung liegt in der Industrie, primär der Automobilindustrie. Derartige Definition kommen oft kompliziert daher und stoßen nicht wenige Krankenhausmitarbeitende spontan ab, sie klingen technisch und damit anti-menschlich: Krankenhäuser bauen keine Autos. Ich verwende deshalb sehr viel lieber die folgende Definition{2}:
Lean Management bedeutet, gemeinsam dauerhaft die richtigen Dinge richtig zu tun.
Abb. Eine Definition von Lean Management © Jörg Gottschalk
Gemeinsam bedeutet, dass nicht nur einige wenige Mitarbeitende daran arbeiten, besser zu werden, sondern möglichst viele, am besten sogar alle. Sie arbeiten zusammen, nicht gegeneinander.
Es geht selten um einmalige, große Verbesserungen. Große Würfe finden zu selten statt, als dass sie eine Organisation wirklich „retten“ könnten. Lean zielt vielmehr darauf ab, eine Organisation in kleinen Schritten, dafür aber kontinuierlich und dauerhaft