#RettetEllen
Von Paul Kavaliro
Buchbeschreibung
Biomedizinerin Ellen forscht an einem renommierten Institut und wird bald ihre Doktorarbeit abschließen.
Doch der Himmel voller Geigen verdunkelt sich, als ihr Professor den Druck der Geldgeber nach noch besseren Ergebnissen an sie weitergibt.
Er schickt sie auf eine Mission. Die Heilung der Alzheimer-Krankheit ist das ultimative Ziel.
Doch in dem südamerikanischen Forschungscamp wartet nicht nur die Chance auf wissenschaftlichen Ruhm, sondern auch eine Gefahr für ihr Leben.
Als ihr Schicksal bekannt wird, beschwört es eine Schlacht in den sozialen Medien herauf.
Über den Autor
Paul Kavaliro schreibt Bücher für Kinder („Spuk für Anfänger“) und Erwachsene („Final Logout“), auch als Ratgeber („Heimwerken macht sexy“).
#RettetEllen
Von Paul Kavaliro
1. Auflage, 2020
© 2020 Paul Kavaliro – alle Rechte vorbehalten.
Impressum am Buchende.
„Ellen, so wird das nichts“, wiederholt Jan Peters. In seiner Stimme liegen Nachdruck und eine Prise Güte. Das Überbringen der schlechten Nachricht an seine Doktorandin bereitet ihm keine Freude. Die Augen zeigen kein Funkeln von Macht. Das braucht er nicht, denn seine Professorenwürde erhellt den Raum auch so. Er thront hinter seinem massiven Schreibtisch wie eine Person der Weltgeschichte, die für ein Denkmal Modell steht. Die Leute schauen zu ihm auf.
Auch Ellen tut das und hat das schon immer getan. Als sie Abiturientin war, besuchte Professor Peters ihre Schule. Faszinierend, was er über seine Forschung in der Biomedizin zu berichten hatte: dass ein großer Schlag gegen häufige Krankheiten greifbar nahe war. Mitreißende Vorträge hatte sie zuhauf gehört, aber die Kombination von Brennen für seine Arbeit und der väterlichen Art eines in Ehren ergrauten älteren Herren – das hatte sie angesprochen. Biomedizin studieren, warum nicht?
All ihre Begeisterung ist in diesem Moment zu einer fatalen Sprachlosigkeit zusammengeschmolzen. Sie ringt nach Worten. „Aber die Zwischenziele, die wir abgesprochen haben ...“, protestiert sie. Sie wähnte sich auf der Zielgerade ihrer Doktorarbeit.
Der Professor winkt ab.
„... die sind alle erfüllt“, vollendet sie trotzdem den Satz, wenngleich zögerlich.
Peters erhebt sich von seinem Thron und tritt zum Fenster.
„Das ist genau das Problem“, hebt er jetzt die Stimme. Die Güte verblasst. „‚Erfüllen‘ ist ein Wort aus dem letzten Jahrhundert“, erklärt er und schreitet dabei auf und ab, wie in seinen Vorlesungen. „Aus ‚Erfüllen‘ kocht man Einheitsbrei.“ Er verzieht den Mund wie einer, dem die Suppe nicht schmeckt.
Ellen runzelt die Stirn, denn solche Parolen sind oft die Einleitung für die Aussicht auf noch mehr Arbeit. Der väterliche Peters tritt dann gewöhnlich in den Hintergrund, der mitreißende drängt sich nach vorn.
Der Professor kommt zum Tisch zurück und stützt sich schwer mit beiden Armen auf. „Wenn Sie ein Menü kochen wollen, an das sich die Leute erinnern“, dabei ballt er die Faust, „dann müssen Sie das Besondere wagen!“
Ellen nickt automatisch – in Ermangelung von Alternativen. Ihre Antennen sagen ihr, dass das nicht die Stunde des feurigen Widerspruchs ist.
Sie versucht, sich zu besinnen. Warum das alles? Ist etwas vorgefallen? Hat sie ihn vergrault? Das möchte sie gerne wissen, erfährt es aber nicht, jedenfalls noch nicht.
„Wir reden später weiter“, legt der Mann mit der Denkmal-Statur fest und zeigt auf seinen vollen Terminkalender.
Draußen auf dem Gang kommt Ellen langsam zu sich. Sie atmet ein paar Mal durch. Vorhin in der Unterhaltung hat sie gefühlt kein einziges Mal Luft geholt. Alles war so unwirklich. Ein schlechter Traum?
„Was ist denn los?“ Jemand legt Ellen die Hand auf die Schulter. Die weiche Stimme gehört zu Jenny, ihrer Kollegin, ebenfalls Doktorandin.
„Tja. Das Gespräch mit Peters lief nicht so gut, aber das wird schon wieder“, macht sich Ellen selber Mut.
Sie schauen sich kurz in die Augen. Jenny liest darin, dass sie jetzt besser nicht weiter fragt.
Die beiden verstehen sich. Ellen vertraut ihr. Das ist nicht der Normalfall, denn das Institut ist mitnichten eine Wohlfühloase. Jeder hier vermag das Wort „Konkurrenz“ zu buchstabieren. Es gibt Typen wie Lucien Barth, die stets ausweichen, wenn man eine Fachfrage hat oder nur übers Wetter reden will. Die haben scheinbar nie einen schwachen Moment, sondern stellen ein überlegenes, dämliches Grinsen zur Schau. Ellen ist kein Fan dieser Sorte Kollegen.
Jenny hingegen ist ihr sympathisch, denn ihr quillt der Geltungsdrang nicht aus jeder Pore.
Und Ellen möchte sie nicht weiter mit ihren eigenen und vergleichsweise kleinen Problemen belasten. Denn ihre Freundin hat schon genug um die Ohren. Ihre Großmutter Mathilde leidet an Alzheimer und erkennt sie oft nicht mehr. Dabei waren sie früher jeden Tag zusammen.
Jenny besucht sie oft, haucht der Erinnerung neue Kraft ein. Und sie arbeitet mit den anderen hier im Institut daran, diese Krankheit so bald wie möglich abzuschaffen. Außerdem erinnert sie ihr Arbeitsthema täglich an ihre persönliche Misere und dass die Zeit für ihre Oma abläuft. Das ist schwieriger zu ertragen als ein blödes Gespräch mit dem Chef.
Ellen reißt sich zusammen und lässt die Freundin ziehen. Sonst stürzt sie sich sofort wieder in die Arbeit. Jetzt starrt sie eine Weile antriebslos den leeren Gang entlang. Mit der lebhaften Erinnerung an die Zurechtweisung vorhin steht ihr nicht der Sinn nach einer beflissenen Rückkehr an den Schreibtisch im Büro am Ende des Flurs.
Flüchtig schaut sie auf ihre Uhr. Wenn sie sich langsam auf den Weg zur Mensa macht, kann sie unterwegs etwas frische Luft genießen und ihre Aufregung abklingen lassen. Nach Gesellschaft beim Mittagessen ist ihr heute nicht zumute. Also klemmt sie ihr Notizheft unter den Arm und mischt sich als unscheinbare Ameise in den Strom der Studenten hin zur Futterstelle.
All die Jahre – seit ihrer ersten Begegnung mit Peters im Gymnasium bis heute vor der Besprechung – gab es nur eine Richtung für sie: nach oben. Der Schulabschluss, die Studienzulassung, der Bachelor-Titel, der Master, die Aufnahme in den erlauchten Kreis der Doktoranden hier am Institut, ihre Forschung – all das war kein Spaziergang. Sie arbeitete engagiert, meldete sich oft in schwierigen Situationen als Erste, die voranging, suchte die Herausforderung, aber fuhr dabei nie die Ellenbogen aus. Das brachte sie fachlich voran und förderte gleichzeitig ihr Ansehen. Kontinuierlich. Unwiderstehlich.
Gezweifelt hatte sie nie: sich diesem Peters anzuvertrauen, für ihn zu arbeiten, seine Themen voranzubringen und im Gegenzug zu lernen und gefördert zu werden. Ja, bei all dem Wettstreit mit den anderen Doktoranden um Ergebnisse, Veröffentlichungen kam doch immer rüber, dass sie beim Professor einen Stein im Brett hatte.
Bis heute. Jetzt ist sie wie ein Jungvogel aus dem Nest gestürzt und Gefahren ausgeliefert. Was, wenn ihr Mentor aus irgendeinem Grund genug von ihr hat? Wenn andere besser sind? Wenn sie mehr Erfolg und öffentliche Wirkung versprechen?
Stellt sich sogar die Grundsatzfrage, ob sie überhaupt die richtige Studienwahl getroffen hat? Doch das wischt sie sofort zur Seite: Biomedizin ist ihr Ding.
Als Kind wollte sie Arzt werden, aber die Vorstellung vom Stress im Beruf, schnellen Entscheidungen unter Druck, die besser allesamt korrekt waren, sonst hatte man jemanden auf dem Gewissen – das alles ließ sie zweifeln. Und die unappetitlichen Berichte aus dem Anatomielabor gaben ihr den Rest.
Biomedizin war das Nächstbeste in der Hitliste. Hier gab es die Aussicht auf konzentrierte Forschung anstelle von Notarzteinsätzen, auf ein reinliches Labor mit Proben statt Leichenkörpern – ganz oder in Stücken.
Nein, was gestern richtig war, kann heute nicht auf einmal falsch sein. Selbst wenn dunkle Wolken aufgezogen sind.
Neben ihr taucht ein Schatten auf. „Hallo“, spricht er sie an.
Es ist Bert, einer der Doktoranden am Institut – wie Jenny, nur nicht so vertraut. Was hat der vor? Doch nicht etwa über den Professor reden?
„Warst du heute auch bei Peters?“, fragt er.
Aha, er will genau das.
Ellen nickt.
„Der ist nicht gut drauf zurzeit, was?“, fischt Bert nach Bestätigung.
Sie lässt sich nicht in die Karten schauen. Nicht jedem in Peters‘ Gruppe traut sie eine reine Seele zu. Außerdem ist sie momentan verunsichert. Also fragt sie, anstatt zu antworten: „Echt?“
Bert nickt. „War heute auch dort. Er hat alles infrage gestellt. ‚Schöpfen Sie ihr Potenzial aus!‘, hat er gesagt.“
Aha: sie ist nicht die Einzige, die ins Mühlwerk geraten ist.
„Krass“, bestätigt Ellen Berts Misere. Mitgefühl fördert die Vertraulichkeit, aber jetzt bloß nicht das kalte Kalkül überziehen. „Tut mir echt leid für dich“, versichert sie wir zur Entschuldigung und das kommt von Herzen.
Ihr Gesprächspartner nickt. Die warme Geste ist angekommen.
„Irgendeine Idee, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist?“, fragt Ellen. Das ist neutral. Aber wenn Bert möchte, kann er das als Bestätigung deuten, dass sie ebenfalls nicht ungeschoren davongekommen ist.
Er zuckt mit den Schultern. „Wer weiß? Vielleicht diese Herren in Anzügen, die er vor einer Woche herumgeführt hat?“ Bert tritt näher, flüstert: „Man munkelt, dass es um Forschungsgelder ging.“
Ellen nickt verschwörerisch.
Der Chef war letztens nicht zu sprechen. Er müsse Sachen vorbereiten, hieß es.
Und wenn irgendwelche wichtigen Leute gleich einer Prozession durch die Hallen hofiert wurden, dann suchte sie lieber Abstand, mied das Labor und verkroch sich in ihr Büro hinter den Bildschirm ihres Rechners. Zu groß war die Gefahr, Zeit zu verlieren. Es folgten seltsame Frage- und Antwortspiele mit den Gästen, wobei ihr ohnehin das Wort abgeschnitten wurde bei Themen jenseits des heutigen Wetters. Denn reden sollte eigentlich nur der Professor, damit alles im richtigen Licht erschien. Meist stand man dann untätig und nett lächelnd daneben, um eine Unterhaltung zu flankieren, in der man nur die Kulisse abgab.
Bert nickt jetzt gleichsam verschwörerisch. Seine Miene hellt sich auf, denn zum Glück scheinen andere an der Misere schuld zu sein, nicht er.
Und das gilt für Ellen gleichermaßen. Ihr Elan meldet sich zurück, der Appetit ebenfalls. Sie verabschiedet sich vom Kollegen und beschleunigt ihre Schritte zur Mensa. Danach wird sie in ihr Büro eilen und einen Plan schmieden, wie sie auf die Zielgerade ihrer Doktorarbeit zurückfindet. Sie ist nicht hilflos den Gefahren ausgeliefert. Sie wird zurück ins Nest klettern und ihren Titel erobern.
Doch der ist nicht alles. Er ist Ausdruck einer Qualifikation, die Eintrittskarte zu einem späteren Beruf, zu noch mehr Arbeit, noch mehr Möglichkeiten.
Ellen geht es zuvorderst um den Inhalt und weniger um die Verpackung. Welchen Fortschritt erreicht sie mit ihrer Forschung? Was wird eine Neuigkeit darstellen, die Menschheit voranbringen, Krankheiten heilen oder zumindest dabei helfen? Damit will sie die Karriereleiter der Biomedizin emporklettern und weniger mit großen Worten.
Und obwohl sie Peters‘ Standpauke und seine Forderung nach noch mehr Arbeit, noch mehr Errungenschaften abstößt, so sieht sie ein, dass Einheitsbrei niemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Der Inhalt muss sich verbessern und die Verpackung ebenfalls.
In den nächsten Tagen überlegt sie, wie sie ihre Forschung und ihre Ergebnisse sichtbarer werden lässt, wie sie begreiflich macht, dass ihre Fortschritte nicht nur Ortsschilder auf der Strecke sind, sondern Meilensteine. Am Horizont ihres Strebens steht das ultimative Ziel: die Heilung von Erkrankungen wie Alzheimer.
Dabei ist Ellen nicht naiv. Keiner denkt nur lange genug nach und findet mit einem Fingerschnipp die Lösung und sofort ist die Krankheit abgeschafft. Es ist ein stetes Bemühen, das Durchsehen von Laborproben, das Auswerten von Untersuchungen mit Patienten. Auch ein Teilerfolg ist ein Sieg: das Leiden hinauszuzögern oder es zu mildern.
Danach trachten weltweit einige und wählen dabei grundverschiedene Ansätze. Da ist zum Beispiel Professor Fergusson, der in Großbritannien das Problem quasi auf elektrischem Wege angeht. Er setzt auf Mikrochips zur Nachbildung von Neuronen.
Schon seine Vorgänger schickten Erfolgsmeldungen um die Welt. Sie modellierten Nervenreaktionen auf Reize per Gleichung.
Wie weit erst muss er heute sein? Steht er vor dem Durchbruch, künstliche Gedankenbahnen zu schaffen, um die natürlichen, schwächer werdenden, verbleichenden zu ergänzen oder gar zu ersetzen?
Wiederum andere mischen Lithium ins Trinkwasser. Das erhalte die Gedächtnisleistung länger, sagen sie.
Und wieder weitere aktivieren Gehirnareale per Ultraschallwellen.
Elektronik, Zusatzstoffe, Wellen – das ist nicht die Welt von Professor Peters und nicht die von Ellen. Sie setzen beim kleinsten Kraftwerk des Menschen an – den Mitochondrien. Sie treiben die Zellen an, liefern die Energie. Werden sie schwächer oder fallen sie aus, versagt die ganze Einheit. Schon früher fand man heraus, dass Nervenzellen von Alzheimer-Patienten keine gut funktionierenden Zellkraftwerke aufwiesen. Geht den Kraftwerken die Puste aus, greift die Erkrankung um sich.
Ellen ist genau wie Peters davon überzeugt, dass leistungsfähige Mitochondrien eine Bremse für schleichende Krankheiten sind. Folglich hat sie in ihrer Arbeit akribisch Einflussfaktoren unter die Lupe genommen. Sie hat viele Proben untersucht, die dem Institut aus der Praxis geliefert wurden, von Human- und von Veterinärmedizinern. Manche trafen auch aus einem sogenannten Habitat ein – einem Forschungs-Camp in einem Gebiet mit seltenen Pflanzen oder Tieren.
So weisen die Kaimane, eine Unterart der Alligatoren, aus Habitat 72 in Südamerika regelrechte Turbo-Mitochondrien in Proben ihrer Nervenzellen auf.
Verhaltensforscher charakterisieren diese Tiere dort als weit entwickelt, als erfolgreiche Jäger, die sogar die Kraft des Kollektivs nutzen. Das ist bemerkenswert, denn es gibt von jeher Berichte über Kannibalismus unter Krokodilen. Aber Teamgeist – der taucht nur in den Protokollen von Habitat 72 auf. Weiterhin werden Kaimane in diesem Lebensraum als ausgeprägt scheu gegenüber Menschen beschrieben.
Erstaunlicherweise werden sie nicht alt, hat man beobachtet. Ein weiteres Mysterium.
Hier fehlen Puzzleteile. Lauert dort das Potenzial, das Peters herauskitzeln will? Doch wie kommt man dem Besonderen auf die Spur, das noch niemand gefunden hat? Gibt es Konzepte vergleichbar der Darm-Hirn-Achse?
Beim Menschen besteht ein reger Austausch zwischen diesen beiden Regionen. Und so wie einem eine schlechte Nachricht einem „auf den Magen schlägt“ – genau wie bei Ellens Disput mit Peters – so hat der Darm ebenfalls Einfluss aufs Gehirn, trotz der Blut-Hirn-Schranke.
Beim Menschen ist die Darmflora dabei ein wesentlicher Aspekt. Wie ist das bei den Kaimanen? Liegt da der Schlüssel, der vom Einheitsbrei zum Menü führt?
Das nächste Meeting mit Peters soll nur kommen. Sie wird ihm schon zeigen, was für ein Forscher sie ist!
In der Tat lässt Peters sie bald darauf in sein Büro rufen. So weit, so gut. Der Rest läuft aber gänzlich anders als vorgesehen. All die blumigen Worte von Initiative und Forschergeist, die sich Ellen überlegt hat, wird sie nicht los. Denn es redet nur einer. Und der ist nicht sie.
„Es gab schon bessere Tage“, leitet der Professor ein. Diesmal kreist er um seinen Tisch und um Ellens Stuhl. Sie kommt sich wie ein dressiertes Äffchen vor, das mitten in der Manege sitzt und nichts anderes zu tun hat, als auf seinen Einsatz zu warten. Bis der Dompteur mit der Peitsche knallt und ihr ein Zeichen gibt. Aber es kommen nur Worte, viele davon.
„Ich muss die Zukunft des Instituts verteidigen“, beschwört er mit einer sorgenvollen Miene. „All diese Lackaffen mit ihren Geldbewilligungen. Ich muss sie unterhalten, ich muss jeden Gedanken dreimal vor ihnen umdrehen, ob er praxisrelevant ist. Als ob wir mit einem beliebigen Teilziel x Kranke heilen könnten. So funktioniert die Welt nun mal nicht!“
Aha, Bert hatte es korrekt beobachtet: Wichtige Leute waren hier. Peters hat sie per Prozession herumgeführt, das Institut in die schillerndsten Farben getaucht. Aber statt Erfolg hat er Frust geerntet.
Der Professor hält in seinem Bewegungsdrang inne und sieht auf Ellen hinab. Die Gedanken fahren Achterbahn in ihrem Kopf. Sie sollte mitreden. Hat sie etwas in petto, das gleichermaßen schlagfertig wie konstruktiv ist? Bevor sie sich gefasst hat, fährt Peters fort. Sie bleibt das stumme Äffchen in der Manege. Der Dompteur macht die Show.
„Dieser Fergusson, pah!“, schimpft der Chef und zieht weiter seine Kreise, „der gräbt mir all die Mittel aus dem internationalen Forschungsfonds ab!“ Dabei stampft er mit den Füßen auf, als wolle er ein Insekt auf dem Fußboden zerquetschen.
Vor ein paar Jahren wurde der Fond gegründet, ein prestigeträchtiger Jungbrunnen voller Geld. Wer daraus trinkt, der ist schon wer, der gehört dazu. Wer nicht, der nimmt auf der Hinterbank Platz. Und zweite Wahl zu sein, das passt nicht zu Ellens Chef.
„Dieser ... dieser Fergusson“, schnappt Peters nach Luft auf dem Höhepunkt seiner Rage, „der will aus allen Kranken Cyborgs machen!“
Ellen kommt der Verdacht, dass die Vergabekommission für die Gelder womöglich nicht ausgewogen besetzt ist. Mikrochip-Befürworter etwa sind der reinen Biomedizin weniger zugetan. Die haben mehr Spaß an Elektrifizierung. Kämpft Peters mit stumpfen Waffen? Ist das Institut den hohen Herren ausgeliefert? Sind diese Männer der Eisberg, an dem die Titanic zerschellt und alles wird in die Tiefe gerissen? Sie selbst mit eingeschlossen?
„Die haben mir ins Gesicht gesagt: ‚Sie forschen doch nur, Sie heilen nicht!‘“
Nein, der Professor ist noch lange nicht auf dem Höhepunkt der Rage angelangt. Er nimmt weiter Anlauf. Ellen fragt sich, ob sie jemals zu Wort kommen wird. Irgendeine Rolle muss er ihr doch zugedacht haben in all dem Schlamassel. Oder hat er sie nur zum Schimpfen eingeladen?
„Die! Mir!“, badet sich Peters weiterhin in Selbstmitleid.
„Dass die Heilung einer Krankheit das ultimative Ziel ist, dass weiß doch jeder hier. Dafür brauche ich keine Gutachter im Frack.“
Ellen ertappt sich, wie sie aus dem Fenster schaut. Sie hätte so viele sinnvolle Aufgaben zu erledigen und hört sich hier stattdessen Volksreden an. Peters kreist wie ein Erdtrabant um sie und funkt unaufhörlich Floskeln zu ihr herüber.
Doch jetzt hält er inne.
Der Satellit steuert auf Ellen zu. Folgt der Absturz? Sie nimmt instinktiv eine Abwehrhaltung ein.
„Die wollen was sehen von uns“, erklärt der Professor mit eindringlicher Stimme.
Ellen nickt.
„Wir müssen liefern, die Komfortzone verlassen, mutiger sein, Risiko gehen.“
Ellen nickt.
„Sicher hat Ihnen unser Gespräch von letztens nicht gefallen. Mir auch nicht. Aber verstehen Sie jetzt, warum ich sogar bei Ihnen die Zügel anziehen muss?“
Ellen nickt. Nein, sie wird ihm keinen Honig ums Maul schmieren, wie hoch sie seine Führung schätzt. Sie ist nicht dem Schmalztopf entstiegen. Selbst wenn sie hier bisher nichts gesagt hat, so hat sie doch ihren Stolz.
„Der ultimative Beweis für unsere Daseinsberechtigung ist eine Heilung“, spitzt Peters das Gespräch, vielmehr seinen Monolog, weiter zu.
Ellen nickt.
Aha, man braucht einen Kranken, der gesund wird. Ein Schicksal. Eines, das in den Zeitungen und den sozialen Medien, der Twittersphäre in die Augen sticht. Ein extra Hashtag, um der Sache einen Namen zu geben, zum Beispiel „#PetersHeilt“? Hat sie das nicht letztens flüchtig auf dem Flur gehört?
Welches Gebiet hat er auserkoren? Die Influenza, an der dieser Schnösel Barth forscht? Etwas Größeres?
Jetzt lässt Jan Peters die Bombe platzen: „Wir brauchen nicht nur die Chance auf Heilung, wir brauchen ein konkretes Mittel gegen Alzheimer! Bald!“
Ellen springt auf. Hinter ihr kippt der Stuhl, auf dem sie soeben noch saß, krachend auf den Boden.
Der Professor schreitet um sie herum und stellt mit einem leichten, seinem Alter angemessenen Ächzen das Sitzgerät wieder auf. Unordnung akzeptiert er nicht.
Tausend Gedanken schießen wie glühende Pfeile durch Ellens Kopf – Ideen, Erklärungen, Theorien. Hat sich ihr Chef eine Dramaturgie überlegt? Im letzten Gespräch hat er sie kritisiert, ins Jammertal hinabgezogen, damit sie begreift, vorbereitet ist, dass Änderungen warten, dass Druck kommt.
Auf der positiven Seite steht: Er braucht sie. Er hat eine Rolle für sie auserkoren. Sicher bringt das zusätzliche Arbeit, Überstunden im Büro. Ellen verabschiedet sich vom Gedanken an Kino oder Club abends. Stattdessen ein Rendezvous mit dem Mikroskop?
Danach sieht es aus, denn Peters fragt: „Sie erinnern sich an Habitat 72?“
Ellen nickt. Und sie erinnert sich daran, dass sie eine Stimme hat: „Ja, von da haben wir Proben untersucht, von den Kaimanen. Aber da war nichts, außer den Mitochondrien.“
Peters ist inzwischen von seiner Satellitenbahn auf seinen Chefsessel zurückgekehrt. Seine Stimme schwingt nicht mehr auf den Höhen der Schimpfkanonade von vorhin. Sie hat sich auf ein wohltemperiertes Kalkül abgekühlt.
„Womöglich war da doch was“, spekuliert Peters.
„Soll ich etwa die alten Proben nochmals ...“, biedert sich Ellen an. Ihr Chef hat sie an der Angel.
Er macht eine abweisende Handbewegung. „Was interessiert uns der Müll von gestern?“
Es folgt eine bedeutsame Pause.
„Die letzte Expedition in das Habitat hatte etwas gefunden. Ihre Nachrichten waren euphorisch. Sie hatten diese Kaimane entschlüsselt. Das sagten sie. Und sie erwähnten Mikroorganismen und sprachen von Symbiose.“
Komisch, davon hat Ellen nichts gehört. „Wie kann das sein ...“, gießt sie ihre Unsicherheit in eine Frage.
Gleichzeitig denkt sie daran zurück, dass sie bei der Einstimmung auf das Gespräch und bei der Suche nach Puzzlestücken auf die Darm-Hirn-Achse und die Darmflora gekommen ist. Dabei ist sie über das Ziel hinausgeschossen. Aber wenn schon nicht vom Verdauungstrakt, so ist doch immerhin von Mikroorganismen die Rede. Hatte sie den richtigen Riecher?
Peters legt den Zeigefinger auf den Mund. „Geheim!“, flüstert er und fängt Ellens Aufmerksamkeit wieder ein, lenkt sie zurück auf das Gespräch.
Sie nickt zur Bestätigung.
„Die Expedition hat es nicht zurückgeschafft, leider. Etwas ging schief.“ Peters streicht in einer Mischung von Gram und Müdigkeit über seine Stirn und seine Augen. „Ich kannte viele von ihnen, das waren gute Leute.“ Er atmet durch, starrt auf die Tischplatte vor sich.
Er bekommt sich wieder in den Griff. „Das waren keine Schwätzer!“ Er nimmt Ellen erneut fest ins Visier. „Sie benutzten das Wort ‚Durchbruch‘. Wenn sie das so sagten, dann war das so!“ Seine Blicke durchdringen seine Zuhörerin wie Laserstrahlen.
Imposante Show. Doch was hat das mit ihr zu tun? Sie hat keinen Schimmer, wo die Leute abgeblieben sind. Damit ist sie gewiss nicht allein. Es gab nie irgendeine Information. Bis jetzt.
Peters lehnt sich in seinem Stuhl nach vorn. Langsam. Bedrohlich.
Sie kennt das. Er macht das, wenn er eindringlich eine Botschaft transportieren will.
Und er sagt: „Ellen, ich schicke Sie auf eine Mission. Sie gehen ins Habitat 72 und erobern die fehlenden Puzzleteile!“
Alles steht kopf. Der Abschluss der Doktorarbeit schien zum Greifen nah. Das „echte“ Leben stand vor der Tür. Jetzt ist es meilenweit entfernt. Die Mission hat sich dazwischen gedrängt.
Und Ellen hat keine Wahl, sie muss sie angehen. So wie Peters von Symbiose sprach, so leben auch Professor und Doktorand in einer solchen. Der Chef gibt die Forschungsrichtung vor, die Arbeiter füllen sie mit Inhalten, erkämpfen Ergebnisse. Das fassen sie zu beider Wohl und zum Ansehen des Hauses in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zusammen. So geht ihr Stern auf und der von Peters strahlt immer heller. Bei Erfolg erhält der Lehrling einen Titel und kann sich auf den Weg machen, selber ein Chef oder ein hochqualifizierter Experte zu werden, in der Wirtschaft oder an der Universität.
Und Ellen hat vor, den Pfad zu Ende zu gehen. Daher gibt es für sie keinen Umweg um die Mission herum. Doch wie lange wird sie dauern und was wird dabei herauskommen?
Na wenigstens bessert Ellen ihr Stundenkonto für Aktivitäten im Feld auf, in der echten Welt jenseits des Labors. Damit verband sie schon ewig ein schlechtes Gewissen. Das Image des Stubenhockers haftete ihr an.
Das ist jetzt alles anders. An die Stelle von Literaturrecherchen, vom seitenlangen Niederschreiben von Forschungsergebnissen, von Testreihen im Labor tritt die Vorbereitung der Expedition.
Habitat 72 liegt im Dschungel – sie braucht Impfungen und Bescheinigungen. Blutproben werden genommen, damit man sieht, ob sie gesund ist. Außerdem werden sie konserviert – zum Vergleich, falls später etwas auftritt, heißt es. Alles wird dokumentiert. Ohne Bürokratie geht heutzutage gar nichts.
Und ohne Verschwiegenheit ebenfalls. Über ihre Unternehmung darf sie mit keinem reden. Nicht mal ihren Eltern soll sie etwas sagen, hat ihr Peters eingeschärft. Muss sie ohne elterlichen Segen in die Wildnis aufbrechen?