Carl von Clausewitz
Grundgedanken über Krieg und Kriegführung
Wesen und Ziel des Krieges
Kriegskunst und Theorie
Kriegerische Tugenden. Heer und Feldherr
Kriegsplan. Numerische Überlegenheit. Friktion im Kriege. Ungewissheit der Nachrichten
Operationsbasis. Märsche. Festungen. Gebirgskrieg
Das Gefecht. Verluste. Reserven. Die Hauptschlacht. Sieg und Verfolgung
Die verlorene Schlacht und der Rückzug
Verteidigung und Angriff
Betrachtungen und Ausblicke
Nachwort
Der Krieg ist nichts als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.
Seit Napoleon Bonaparte1 hat sich der Krieg, indem er zuerst auf der einen Seite, dann auch auf der anderen wieder Sache des ganzen Volkes wurde, seiner wahren Natur, seiner absoluten Vollkommenheit sehr genähert.
Der Krieg ist ein erweiterter Zweikampf. Jeder sucht den andern durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen.
Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung der Gewalt keine Grenzen.
Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen. Unmerkliche, kaum nennenswerte Beschränkungen, die sie sich selbst setzt unter dem Namen völkerrechtlicher Sitte, begleiten sie, ohne ihre Kraft wesentlich zu schwächen.
Menschenfreundliche Seelen könnten leicht denken, es gäbe ein Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zu viel Wunden zu verursachen, und das sei die wahre Kriegskunst. Wie gut sich das auch ausnimmt, so muss man diesen Irrtum doch zerstören, denn in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, die aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten. Wer sich der Gewalt rücksichtslos bedient, bekommt ein Übergewicht, wenn der Gegner anders handelt. So muss man die Sache ansehen, und es ist ein unnützes, sogar verkehrtes Bestreben, aus Widerwillen gegen das rohe Element die Natur des Krieges zu verkennen.
Der Kampf zwischen Menschen besteht aus zwei verschiedenen Elementen: dem feindseligen Gefühl und der feindseligen Absicht. Bei wilden Völkern herrschen die dem Gemüt, bei gebildeten die dem Verstande angehörigen Absichten vor. Allein dieser Unterschied liegt nicht im Wesen von Rohheit und Bildung selbst, sondern in den sie begleitenden Umständen und Einrichtungen. Er ist also nicht in jedem einzelnen Falle notwendig, sondern er beherrscht nur die Mehrheit der Fälle. Mit einem Worte: auch die gebildetsten Völker können gegeneinander leidenschaftlich entbrennen.
Gewalt, physische Gewalt ist das Mittel; dem Feind unseren Willen aufzudringen, der Zweck. Um diesen Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen. Dies ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung.
Wenn der Gegner unseren Willen erfüllen soll, so müssen wir ihn in eine Lage versetzen, die nachteiliger ist als das Opfer, das wir von ihm fordern. Die Nachteile dieser Lage dürfen aber natürlich, wenigstens dem Anscheine nach, nicht vorübergängig sein, sonst würde der Gegner den besseren Zeitpunkt abwarten und nicht nachgeben. Jede Veränderung dieser Lage durch die fortgesetzte kriegerische Tätigkeit muss zu einer noch nachteiligeren Lage führen, wenigstens in der Vorstellung. Die schlimmste Lage, in die ein Kriegführender geraten kann, ist die gänzliche Wehrlosigkeit.
Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote Masse, sondern, weil ein reines Dulden auf der einen Seite kein Krieg wäre, so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander. Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muss ich befürchten, dass er mich niederwirft. Ich bin also nicht Herr meiner selbst, sondern er gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe.
Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung nach seiner Widerstandskraft bemessen. Diese drückt sich durch ein Produkt aus, deren Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft. Die Größe der vorhandenen Mittel ließe sich bestimmen, da sie – wiewohl nicht ganz – auf Zahlen beruht. Aber die Stärke der Willenskraft lässt sich viel weniger bestimmen und nur etwa nach der Stärke des Beweggrunds schätzen.
Das Gesetz des Äußersten, die Absicht, den Gegner wehrlos zu machen, verschlingt gewissermaßen zunächst den politischen Zweck des Krieges. So wie dieses Gesetz in seiner Kraft nachlässt, diese Absicht von ihrem Ziele zurücktritt, muss der politische Zweck wieder hervortreten. Je kleiner das Opfer ist, das wir von unserm Gegner fordern, um so geringere Anstrengungen dürfen wir von ihm erwarten. Je geringer aber diese sind, umso kleiner dürfen die unsrigen bleiben. Ferner, je kleiner unser politischer Zweck ist, um so geringer wird der Wert sein, den wir auf ihn legen; umso eher werden wir uns gefallen lassen, ihn aufzugeben: also umso kleiner werden auch unsere Anstrengungen sein. So wird der politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß sowohl für das Ziel, das durch die Kriegsführung erreicht werden muss, als auch für die Anstrengungen, die erforderlich sind.
Je großartiger und stärker die Motive des Krieges sind, je mehr sie das ganze Dasein der Völker umfassen, je gewaltsamer die Spannung ist, die dem Kriege vorhergeht, umso mehr wird der Krieg sich seiner abstrakten Gestalt nähern, umso mehr wird es sich um das Niederwerfen des Feindes handeln, umso mehr fallen das kriegerische Ziel und der politische Zweck zusammen, um so reiner kriegerisch, weniger politisch scheint der Krieg zu sein.
Der Krieg ist unter allen Umständen als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument zu denken. Nur mit dieser Vorstellungsart ist es möglich, nicht mit der sämtlichen Kriegsgeschichte in Widerspruch zu geraten.
Der Krieg gehört nicht in das Gebiet der Künste und Wissenschaften, sondern in das Gebiet des sozialen Lebens. Er ist ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst, und nur darin ist er von den anderen verschieden. Besser als mit irgendeiner Kunst ließe er sich mit dem Handel vergleichen, der auch ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätigkeiten ist, und viel näher steht ihm die Politik, die ihrerseits wieder als eine Art von Handel in größerem Maßstabe angesehen werden kann.
Der Krieg ist nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen Gesamterscheinungen nach in Beziehung auf die in ihm herrschenden Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elements, dem Hass und der Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind, aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer freien Seelentätigkeit machen, und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeugs, durch die er dem bloßen Verstande anheimfällt.
Mit dem Bestreben, Grundsätze, Regeln oder gar Systeme für die Kriegsführung anzugeben, setzt man sich einen positiven Zweck, ohne die unendlichen Schwierigkeiten gehörig ins Auge zu fassen, die sie in dieser Beziehung hat.
Die Kriegsführung verläuft fast nach allen Seiten hin in unbestimmte Grenzen. Jedes System, jedes Lehrgebäude aber hat die beschränkende Natur einer Synthesis, und damit ist ein nie auszugleichender Widerspruch zwischen einer solchen Theorie und der Praxis gegeben.
Unstreitig gehören die der Kriegskunst zugrunde liegenden Kenntnisse zu den Erfahrungswissenschaften. Denn wenn sie auch größtenteils aus der Natur der Dinge hervorgehen, so muss man doch diese Natur selbst meistens erst durch die Erfahrung kennen lernen. Außerdem aber wird die Anwendung durch so viele Umstände modifiziert, dass die Wirkungen nie aus der bloßen Natur des Mittels vollständig erkannt werden können.
Bei der Ungewissheit aller Daten im Kriege müssen wir uns sagen, dass es eine reine Unmöglichkeit wäre, die Kriegskunst durch ein positives Lehrgebäude wie mit einem Gerüste versehen zu wollen, dass dem Handelnden überall einen äußeren Anhalt gewähren könnte. Der Handelnde würde sich in allen jenen Fällen, wo er auf sein Talent angewiesen ist, außer diesem Lehrgebäude und mit ihm in Widerspruch befinden, und es würde, wie vielseitig dasselbe auch aufgefasst sein möchte, immer dieselbe Folge wieder eintreten, von der wir schon gesprochen haben: dass das Talent und Genie außer dem Gesetze handelt und die Theorie ein Gegensatz zur Wirklichkeit wird.
Historische Beispiele machen alles klar und haben nebenher in Erfahrungswissenschaften die beste Beweiskraft.
Wenn ein Sachverständiger sein halbes Leben darauf verwendet, einen dunklen Gegenstand überall aufzuklären, so wird er wohl weiterkommen als einer, der in kurzer Zeit damit vertraut sein will. Dass also nicht jeder von neuem aufzuräumen und sich durchzuarbeiten brauche, sondern die Sache geordnet und gelichtet finde, dazu ist die Theorie vorhanden. Sie soll den Geist des künftigen Führers im Kriege erziehen, oder vielmehr ihn bei seiner Selbsterziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten.
Im Kriege sind die Ideen meist so einfach und naheliegend, dass das Verdienst der Erfindung gar nicht das Talent des Feldherrn ausmachen kann. Die Hauptsache ist die Schwierigkeit der Ausführung. Im Kriege ist alles einfach, aber das Einfache höchst schwierig. Das Kriegsinstrument gleicht einer Maschine mit ungeheurer Friktion, die nicht wie in der Mechanik auf ein paar Punkte zurückgeführt werden kann, sondern überall mit einem Heer von Zufällen im Kontakt ist. Außerdem ist der Krieg eine Tätigkeit im erschwerenden Mittel. Eine Bewegung, die man in der Luft mit Leichtigkeit macht, wird im Wasser sehr schwer. Gefahr und Anstrengung sind die Elemente, in denen sich der Geist im Kriege bewegt. So kommt es denn, dass man immer hinter der Linie zurückbleibt, die man sich gezogen hat, und dass schon keine gewöhnliche Kraft dazu gehört, um nur nicht unter dem Niveau des Mittelmäßigen zu bleiben.
Beim Handeln folgen die meisten einem bloßen Takt des Urteils, der mehr oder weniger gut trifft, je nachdem mehr oder weniger Genie in ihnen ist. So haben alle großen Feldherren gehandelt, und darin liegt zum Teil ihre Größe, dass sie mit diesem Takt immer das Rechte trafen. So wird es für das Handeln auch immer bleiben. Dieser Takt reicht dazu vollkommen hin. Aber wenn es darauf ankommt, nicht selbst zu handeln, sondern in einer Beratung andere zu überzeugen, dann kommt es auf klare Vorstellungen, auf das Nachweisen des inneren Zusammenhanges an.
Alles Handeln im Kriege ist nur auf wahrscheinliche, nicht auf gewisse Erfolge gerichtet. Was an der Gewissheit fehlt, muss überall dem Schicksal oder dem Glück – wie man es nennen will – überlassen bleiben. Es gibt Fälle, wo das höchste Wagen die höchste Weisheit ist.
Man hat früher behauptet, der Krieg sei ein Handwerk. Damit war aber mehr verloren als gewonnen, denn ein Handwerk ist nur eine niedrige Kunst und unterliegt als solche auch bestimmteren und engeren Gesetzen. In der Tat hat sich die Kriegskunst eine Zeitlang im Geiste des Handwerks bewegt, nämlich zur Zeit der Condottieri2. Aber diese Richtung hatte sie nicht nach inneren, sondern nach äußeren Gründen, und wie wenig sie in dieser Zeit naturgemäß und befriedigend war, zeigt die Kriegsgeschichte.
Wenn man auf der einen Seite sieht, wie das kriegerische Handeln so höchst einfach erscheint; wenn man hört und sieht, wie die größten Feldherren sich darüber gerade am einfachsten und schlichtesten ausdrücken, wie das Regieren und Bewegen der aus hunderttausend Gliedern zusammengesetzten schwerfälligen Maschine in ihrem Munde sich nicht anders ausnimmt, als ob von ihrer Person allein die Rede sei, so dass der ganze ungeheure Akt des Krieges zu einer Art von Zweikampf individualisiert wird; wenn man dabei die Motive ihres Handelns bald mit ein paar einfachen Vorstellungen, bald mit irgendeiner Regung des Gemütes in Verbindung gebracht findet; wenn man diese leichte, sichere, man möchte sagen leichtfertige Weise sieht, wie sie den Gegenstand auffassen, und nun von der anderen Seite die große Anzahl von Verhältnissen, die für den untersuchenden Verstand in Anregung kommen; die großen, oft unbestimmten Entfernungen, in die die einzelnen Fäden auslaufen, und die Menge von Kombinationen, die vor uns liegen; wenn man dabei an die Verpflichtung denkt, die die Theorie hat, dies alles systematisch, d. h. mit Klarheit und Vollständigkeit, aufzufassen und das Handeln immer auf die Notwendigkeit des zureichenden Grundes zurückzuführen, so überfällt uns die Besorgnis mit unwiderstehlicher Gewalt, zu einem pedantischen Schulmeistertum hinabgerissen zu werden, in den untersten Räumen schwerfälliger Begriffe herumzukriechen und dem großen Feldherrn in seinem leichten Überblick also niemals zu begegnen. Wenn das Resultat theoretischer Bemühungen von dieser Art sein sollte, so wäre es ebenso gut, oder vielmehr besser, sie gar nicht angestellt zu haben. Sie ziehen der Theorie die Geringschätzung des Talentes zu und fallen bald in Vergessenheit. Und von der andern Seite ist dieser leichte Überblick des Feldherrn, diese einfache Vorstellungsart, diese Personifizierung des ganzen kriegerischen Handelns so ganz und gar der Kern jeder guten Kriegsführung, dass sich nur bei dieser großartigen Weise die Freiheit der Seele denken lässt, die nötig ist, wenn sie über die Ereignisse herrschen und nicht von ihnen überwältigt werden soll.
Die Kriegskunst im eigentlichen Sinne ist die Kunst, sich der gegebenen Mittel im Kampfe zu bedienen. Wir können sie nicht besser als mit dem Namen der Kriegsführung bezeichnen. Dagegen werden allerdings zur Kriegskunst im weiteren Sinne auch alle Tätigkeiten gehören, die um des Krieges Willen da sind, also die ganze Schöpfung der Streitkräfte, d. i. Aushebung, Bewaffnung, Ausrüstung und Übung.