Der Holocaust hat unzählige schreckliche Familiengeschichten hervorgebracht. Wie die der Familien der Kinder vom Bullenhuser Damm: Zwanzig Kinder, die von den Nazis für medizinische Experimente missbraucht und wenige Tage vor Kriegsende erhängt worden sind.
Nicht alle Familiengeschichten dieser Kinder konnte unsere Vereinigung ausfindig machen. Die meisten fand der Journalist Günther Schwarberg durch eine langjährige Recherche, deren Ergebnisse er in seinem Buch Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm (Steidl-Verlag) dokumentiert hat. Dennoch ist der Vorname eines Kindes immer noch unbekannt.
Von anderen wissen wir viel mehr. So im Fall des siebenjährigen Italieners Sergio De Simone. Seine Mutter und seine beiden Cousinen Andra und Tatiana Bucci, die mit ihm als Kinder in Auschwitz waren, haben das Lager überlebt und sehr persönlich berichtet. Ende 2018 haben die Schwestern Bucci ihre Erinnerungen an Auschwitz in Italien als Buch veröffentlicht, das nun auch auf Deutsch bei Nagel & Kimche erschienen ist.
Die Autorin Ulrike Schimming war von Sergios Geschichte berührt. Sie recherchierte, traf die Familie und schrieb dieses ergreifende Buch. Keine Dokumentation, sondern eine Novelle, die fiktionalisiert die Geschichte der jüdischen Familie De Simone aus Italien erzählt, so nah, so intim, dass es manchmal kaum aushaltbar scheint. Diese Novelle verbindet die Opfer und Täter, auch die Nazis erleben wir hautnah. In ihrem intensiven Sprachstil beschreibt die Autorin vieles, wie es sich wirklich zugetragen hat, und einiges, wie es sich hätte zutragen können. Darf man das? Wo es doch die Augenzeugenberichte gibt?
Diese Diskussion gab es schon einmal vor vierzig Jahren, als der amerikanische Vierteiler Holocaust im Deutschen Fernsehen lief. Diese Familiensaga erzählt halb-fiktiv, wie der Nazi-Terror die deutsch-jüdische Familie Weiss vernichtet. Damals konnte die Serie nicht wie geplant im Ersten Programm ausgestrahlt werden, denn es gab massive Proteste. Es wurden sogar Sprengstoffanschläge auf Sendemasten verübt, um die Ausstrahlung zu verhindern. Holocaust wurde schließlich in den Dritten Programmen gezeigt.
Zuvor allerdings wurde die Fernsehserie, die in den USA 120 Millionen Zuschauer erreichte, im Vorfeld stark kritisiert. Die Schlagzeilen lauteten damals: »Brutaler Nazi-Horror nach Schnulzen-Vorbild«, »Nur ein Cornflakes-Melodram?«, »Das Geschäft mit dem Massenmord«, »Die Judenvernichtung als Seifenoper«, »Melodrama vom Massenmord«. Nach der Ausstrahlung wendete sich jedoch das Blatt, und ganz Deutschland diskutierte und sprach über die Serie. Viele Menschen berichteten von ihrer eigenen Geschichte.
Auch die vorher so skeptischen deutschen Journalisten vollzogen nach der Ausstrahlung eine Kehrtwende. Die Aufarbeitung der Shoah und die Erinnerungsarbeit begann und ist auch heute noch nicht an ihrem Ende angelangt. Gerade heute ist es wichtiger denn je, an die Verbrechen von damals zu erinnern.
So gibt es heute sogar eine Instagram-Serie über den Holocaust, die Eva Stories. Sie ist inszeniert, als würde das Mädchen Eva all die damaligen Schrecken in diesem Moment erleben und über Instagram davon berichten. Darf man das?
An jedem 20. April erinnern wir, die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V., mit einer Gedenkfeier an die zwanzig Kinder und die Erwachsenen, die in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 in der Hamburger Schule am Bullenhuser Damm ermordet wurden. Jedes Jahr kommen auch die Angehörigen aus aller Welt, mit denen wir in engem Kontakt stehen, zu dieser Gedenkfeier. Einen Teil des Gedenkens wird dabei immer von Kindern und Jugendlichen gestaltet, die manchmal aus Sicht der ermordeten Kinder sprechen. Die Kinder und Jugendlichen finden, dass dies eine besondere Form der Nähe ist, die berührt. Eine Form, die immer wieder für Diskussion unter den Erwachsenen sorgt: Darf man das?
Wir haben zudem eine Wanderausstellung über die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm konzipiert, die vermittelt, was diese Geschichte, die in diesem Jahr genau 75 Jahre zurückliegt, mit uns heute zu tun hat. Sie kann von Schulen und öffentlichen Institutionen ausgeliehen werden. Darüber hinaus bietet die Vereinigung Workshops zu Themen wie Demokratie und Antisemitismus an.
Doch obwohl die Ausstellung vom bundesweiten Bündnis für Demokratie und Toleranz als besonders vorbildlich und von der Stiftung Auschwitz-Komitee mit dem Hans-Frankenthal-Preis 2019 ausgezeichnet wurde, stoßen wir auch damit manchmal bei einigen Eltern auf Widerstand, die fragen: Darf man das? Muss das sein?
Vielleicht müssen wir uns darauf einigen, dass es verschiedene Formen des Erinnerns gibt – in Büchern, seien es Sachbücher oder Novellen, Ausstellungen, Filmen oder persönlichen Begegnungen wie bei der Gedenkfeier. Jeder kann heute seine ganz persönliche Form der Erinnerung finden.
Wir sollten weniger über die Form streiten, sondern uns einig sein, was wirklich wichtig ist und bleibt:
Nie vergessen!
Nicole Mattern
Vorsitzende der Vereinigung
Kinder vom Bullenhuser Damm e.V.
Informationen zu den zwanzig Kindern und der Vereinigung finden Sie unter: www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de
Die Gedenkstätte in Hamburg-Rothenburgsort ist jeden Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.
Und Sie finden die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm auch auf Facebook: www.facebook.com/VereinigungBullenhuserDamm
Sie hatte Sergio gerettet.
Gizella holte tief Luft und sog den vertrauten Duft von Fiume ein. Die Häuser der Stadt schimmerten golden. Das Wasser der Adria glitzerte, blaue, grüne und rote Fischerboote schunkelten in den sanften Wellen, es roch nach Seetang und Fisch. Die Möwen kreisten über den zum Trocknen aufgehängten Fischernetzen.
Endlich war ihr Sohn in Sicherheit.
Das Meer roch hier anders als in Neapel, unverfälschter, sauberer. In Neapel hatte es nach Schmieröl, Diesel, faulendem Obst und verdorbenem Fisch gestunken. Gizella schmeckte das Salz auf den Lippen.
Wir sind zu Hause, Sergio, sagte sie leise, hier kann uns nichts mehr passieren.
Der Junge lief an der Kante des Hafenbeckens entlang.
Wo ist der Strand, Mamma?, fragte er. Ich will baden.
Ja, im Meer baden, das wäre schön, dachte Gizella und spürte plötzlich den Staub und den Schmutz der Reise auf der Haut. Sie hatten die Überfahrt nach Triest auf dem überfüllten Deck verbracht und sich nicht waschen können. Im Zug nach Fiume dann war auch keine Gelegenheit gewesen, sich frisch zu machen. Rasch fuhr sie sich durch die Haare, steckte die Strähnen fest, die sich gelöst hatten. Sie brauchte dringend ein Bad. Und der Junge auch. Die Ränder seiner Fingernägel waren schwarz, und das Haar stand ihm wild vom Kopf ab.
Komm, Sergio, zum Strand gehen wir später, rief Gizella ihm nach, Großmutter Rosa wartet sicher schon auf uns.
Hoffentlich bekam Mutter keinen Schreck, wenn sie so plötzlich vor der Tür standen. Erst auf dem Schiff, als sie in einer sonnigen, windstillen Ecke etwas Ruhe gefunden hatte, war ihr eingefallen, dass sie ihrer Mutter nicht einmal geschrieben hatte. Sie hatte es einfach vergessen. Und nun waren sie schon in Fiume, und Mutter besaß ja immer noch kein Telefon, obwohl die Brüder sie immer bedrängt hatten, eines anzuschaffen.
Nein, hatte sie gesagt, ich habe mein Leben lang ohne ein Telefon verbracht, nun brauche ich es auch nicht mehr. Kommt mich lieber besuchen, das ist eh viel schöner, als über einen Draht miteinander zu reden, wo man vor lauter Rauschen doch nichts versteht.
Gizella nahm Sergio an die Hand und ging langsam durch die bekannten Straßen, erklomm die Anhöhe und bog nach einer halben Stunde in die Via Milano ein. Nichts hatte sich verändert, seit sie vor Jahren mit Edoardo fortgegangen war. Nur von den Fassaden war noch mehr Putz gebröckelt, und die Wandfarben waren weiter verblasst.
Mit zitternder Hand klingelte sie am Haus der Familie Perloff. Ob überhaupt jemand daheim war? Aber wo sollte Mutter sonst sein.
Da öffnete Jossi die Haustür, ihr kleiner Bruder. Grau war er geworden.
Wer stört beim Abendessen?, sagte er und ließ die Serviette sinken, mit der er sich gerade noch den Mund abgewischt hatte. Giz, flüsterte er.
Guten Abend, Jossi. Dürfen wir reinkommen?, fragte Gizella und schob Sergio vor sich. Sergio, komm, begrüße deinen Onkel Jossi.
Hallo, krächzte Sergio und drückte sich rasch hinter Gizella.
Jossi trat einen Schritt zur Seite. Kommt, so kommt doch rein. Er hatte die Stimme wiedergefunden. Mamma! Sonia! Seht, wer gekommen ist!
Da kamen Mutter Rosa und Gizellas Schwestern Sonia und Mira aus dem Esszimmer und sahen mit großen Augen zu ihnen. Hinter Mira tauchten ihre kleinen Töchter Andra und Tatiana auf.
Kind, rief Mutter Rosa, und schon nahm sie Gizella in die Arme.
Gizella drückte sich an sie und schloss die Augen. Jetzt war sie wirklich zu Hause, in Sicherheit, nichts konnte ihr mehr passieren. Ihr und Sergio, ihrem schönen Sohn.
Wieder und wieder strich Mutter Rosa abwechselnd Gizella und Sergio über die Wangen. Runzelig und klein war sie geworden, strahlte aber immer noch Würde aus. Und trotz allen Kummers in ihrem Leben, trotz der Flucht vor den Pogromen in Russland vor Jahren, trotz des Verlustes der Heimat und der ungewissen Zukunft, war da immer noch ihr großes Herz, das nie jemandem böse sein konnte.
Dass ihr endlich wieder da seid, wiederholte sie in einem fort.
Es stimmte, sie waren viel zu lange nicht mehr hier gewesen. Andra und Tatiana blickten so fragend zu ihnen, als würden sie Gizella und Sergio gar nicht mehr erkennen.
Und auch Sergio blickte unsicher von einem zum anderen, sagte keinen Ton und klammerte sich an Gizellas Rocksaum.
Wie schön du bist, sagte Mutter Rosa und lächelte.
Sergio brauchte eine Weile, bis er seine Schüchternheit überwand und zwischen den vielen fremden Menschen seinen Platz im neuen Zuhause fand. Denn im Hause Perloff lebten neben Mutter Rosa nicht nur Jossi mit seiner Familie, sondern auch Sonia und ihr Sohn Mario, dazu noch Mira mit Andra und Tatiana. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, die Kinder lachten und tollten durch die Zimmer, die Treppen hinauf und herunter. Gizella war froh, dass Sergio endlich einmal so viele Kinder zum Spielen hatte. In Neapel war er ab und an mit den Kindern im Park herumgetollt, doch dort waren sie lange nicht mehr gewesen. Nun tobte er durch das Haus und wurde mit jedem Tag frecher.
Noch fielen hier keine Bomben, die Anwesenheit der deutschen Soldaten in der Stadt, zeigte den Bewohnern jedoch deutlich, dass Krieg herrschte. Und so ging die Familie trotz des heißen Sommers nicht an den Strand, wie sie es sonst immer gern getan hatten. Stattdessen stellte Mutter Rosa eine Zinkwanne im Hof auf, füllte sie mit kühlem Wasser und ließ Sergio und seine Cousinen darin planschen, bis kein Tropfen mehr vorhanden war. Die Kinder ahnten nichts von den Vorgängen draußen auf der Straße, in der Stadt, im Land, in ganz Europa.
Gizella hingegen saß die meiste Zeit mit Mutter Rosa und ihrer Schwester Mira zusammen. Sie nähten Kleider für sich und die Kinder, bügelten die Wäsche, kochten Mahlzeiten für alle, die sich abends bei ihnen einfanden. Dann erzählte Gizella, wie alles gekommen war.
Langsam war an jenem Tag die Sonne durch die Schleierwolken gebrochen. Die Schatten der Pinien hatten sich schärfer auf der Wiese im Park der Villa Floridiana abgezeichnet. Am Horizont war Capri aus dem Dunst aufgetaucht. Es würde ein heißer Tag werden.
Gizella sammelte das kleine Blechauto und den Ball ein, schüttelte die Decke aus, legte sie sorgfältig zusammen und verstaute sie im Netz, das an der Kinderkarre hing.
Sergio, komm, wir gehen nach Hause, rief sie ihrem kleinen Sohn zu.
Er hockte vor einem Beet und stocherte mit einem Stock in der Erde herum. Ein Regenwurm wand sich. Gizella trat zu Sergio, ergriff seinen Arm und zog ihn hoch.
Nein, rief er, hierbleiben. Er ließ sich auf den Windelpopo fallen, streckte die Beine von sich.
Schatz, es wird zu heiß, sagte Gizella. Sie musste zu Hause noch die Wäsche bügeln, und bald würde Sergio schon wieder Hunger bekommen. Vielleicht hatte der Postbote eine Nachricht von Edoardo gebracht. So viele Wochen war er schon weg, eingezogen als Mechaniker auf einem Kriegsschiff, das irgendwo im Mittelmeer kreuzte.
Sergio heulte. Er strampelte, wollte nicht nach Hause. Seufzend hob Gizella ihn hoch. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, in seinen großen dunklen Augen standen die Tränen, benetzten die langen Wimpern. Ganz verliebt war sie in diesen Jungen. Sie drückte ihn an sich, küsste ihn auf die pausbäckige Wange und sog seinen süßen Kleinkindduft ein. Wie ein Aal schlang und drehte sich Sergio in ihren Armen.
Als sie ihn in die Kinderkarre setzte, legte er die kleinen Speckarme auf den Rand, ließ den Kopf auf die Hände fallen und weinte jämmerlich. Doch sie mussten nach Hause. Die Sonne stieg höher, und Gizella spürte schon die Hitze, die ihr unter das Kleid kroch und ihr die ersten Schweißperlen auf die Stirn presste.
Nicht weinen, zu Hause kannst du gleich weiterspielen, sagte sie zu Sergio.
Im Schatten der Bäume schob sie die Karre aus dem Park, passierte die Station der Funicolare und bog auf die Piazza Vanvitelli ein, die von cremefarbenen Palazzi mit auskragenden Ecken umsäumt war. Zwei Straßen weiter schon erreichte sie die Via Raffaele Morghen. Einer Schlange gleich wand sie sich mit schönen Neubauten und jungen Bäumen durch den Vomero.
Gizella schloss die Haustür auf, zog die Karre mit Sergio in den Flur, als ein Mann hinter ihr ins Haus trat.
Signora Edoardo De Simone?, fragte er.
Ja. Sie blickte hoch.
Ich habe ein Schreiben für Ihren Mann. Er drückte ihr einen Umschlag in die Hand. Bitte, bestätigen Sie den Erhalt hier.
Auf einem Klemmbrett hielt er ihr eine Liste hin, reichte ihr einen Stift.
Gizella starrte auf den Umschlag mit dem Namen von Edoardo und ihrer Adresse. Als Absender war die »Direktion Eins – Sektion Rasse« angeführt.
Ein Zittern überkam Gizella. Mit krakeligen Buchstaben quittierte sie den Empfang.
Da kam die Signora von gegenüber die Treppe herunter, schaute neugierig von Gizella zu dem Boten.
Einen schönen guten Tag, sagte sie und blieb stehen. Ihr Blick fiel auf den Umschlag in Gizellas Hand.
Der Mann tippte sich an die Mütze und ging.
Rasch steckte Gizella den Brief in das Netz der Karre. Dann drückte sie den Knopf des Fahrstuhls und starrte auf die Anzeige für die Stockwerke.
Ist das nicht ein schöner Tag heute, sagte die Frau und machte keine Anstalten weiterzugehen.
Ja. Sehr schön, erwiderte Gizella und schuckelte die Karre. Sergio reckte sich heraus, zielte mit dem Finger auf den Knopf des Fahrstuhls.
Lass das, Sergio. Gizella zog die Karre ein Stück zurück.
Wie groß er geworden ist. Die Frau beugte sich zu Sergio, streichelte seine Wange. Die getrockneten Tränen hatten Spuren hinterlassen. Hast du schön gespielt im Park?
Der Fahrstuhl glitt ins Erdgeschoss. Gizella öffnete die Gitterfalttür mit einem Ruck, dass es schepperte.
Einen schönen Tag noch, sagte sie zur Nachbarin, dann schob sie Sergio in den Fahrstuhl. Ob die Frau was gesehen hatte? Solche Schreiben bekamen nur… Gizella schluckte.
In der Wohnung hob sie Sergio aus der Karre und setzte ihn im Flur auf die Erde, rasch drückte sie ihm sein Spielzeugauto in die kleinen Hände.
Am Küchentisch riss sie den Brief auf.
An Signor De Simone Eduardo – Via Morghen 65, stand dort.
Es flimmerte Gizella vor den Augen, sie sah Worte wie »Innenminister«, »Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse«, »innerhalb von 8 Tagen ab heute«, »Dokumente und Atteste vorzulegen«. Sie verstand es nicht. »Nationalität der Eltern«, »Taufbescheinigung, ausgestellt auf die Kinder vor dem 1. Oktober 1938«, »israelitische Gemeinde«, »Judentum«.
Gizella ließ das Blatt sinken.
Was sollte sie tun? Edoardo war nicht da. Sie hatte solche Papiere nicht. Sie war nicht getauft. Sergio war Ende November 1937 zur Welt gekommen und mit seinen gerade einmal zweieinhalb Jahren auch nicht getauft. Bis jetzt hatten die Rassengesetze ihr Leben nicht weiter verändert, sie hatte sich nicht darum gekümmert.
Edoardos Eltern allerdings hatten damals schon nicht gewollt, dass er eine Jüdin heiratet. Ihm war es gleich gewesen. Gizella fühlte sich ja auch gar nicht als Jüdin und ging auch nicht in die Synagoge. Ihre Mutter hatte keine Einwände gegen diese Hochzeit gehabt, obwohl sie ihren jüdischen Glauben eifrig praktizierte. Sie heirateten schließlich auf dem Standesamt, ohne große Feier. Haben wir doch gewusst, dass sie nichts als Ärger bringt, hörte sie ihre Schwiegermutter schon keifen. Sie sah die heruntergezogenen Mundwinkel vor sich, die verächtlichen Blicke. Und jetzt war das Kind also wirklich jüdisch. Sie hatten es von Anfang an gewusst.
Rasch faltete Gizella den Brief zusammen und schob ihn in die Schublade mit den Tischdecken, ganz nach unten. Die Bügelwäsche wartete. Gizella schürte den Ofen an, stellte das Bügeleisen bereit, holte die frisch gewaschene Wäsche aus dem Schlafzimmer und rückte das Bügelbrett vor das Küchenfenster. Von dort konnte sie auf die Straßen sehen, das Kommen und Gehen der Nachbarn. Sie würde diese Behörde nicht aufsuchen. Ganz einfach. Sie hatte den Brief nie bekommen. An ihre Unterschrift würde sie sich nicht erinnern, sie nicht als die ihre erkennen. Sie war ja auch ganz krakelig geworden, so wie sie sonst nie unterschrieb.
Sergio schob auf allen vieren sein Blechauto in die Küche. Brrr-brrr-brrrrrr, machte er.
Sie würde warten, bis Edoardo wieder da war. Ohne ihn würde sie nichts unternehmen. Der Brief war schließlich an ihn adressiert. Gizella füllte ein paar glühende Kohlen in das Bügeleisen, breitete das erste Laken auf dem Bügelbrett aus, es war steif von der Stärke. Rasch tropfte sie etwas Wasser darauf und begann mit kräftigen Stößen zu plätten.
Die Signora von gegenüber grüßte nicht mehr. Traf Gizella sie im Treppenhaus oder auf der Straße, wandte die Frau sich ab, verschwand hinter der Wohnungstür oder eilte über die Straße zu einer Bekannten. Mit der tuschelte sie dann so offensichtlich über die Nachbarin, dass Gizella den Schritt beschleunigte und rasch um die nächste Ecke bog.
Auch die anderen im Haus warfen ihr misstrauische Blicke zu. Niemand scherzte mehr mit Sergio oder strich ihm über den Kopf. Gizella wagte es nicht zu fragen. Hatte sie etwas verkehrt gemacht? Hatte sie sich unsittlich benommen? Alle wussten doch, dass Edoardo im Krieg war und seine Pflicht erfüllte. Sergio hatte auch nicht mehr geschrien als sonst. Ständig ermahnte sie ihn, nicht so durch die Wohnung zu trampeln, weil der alte Signore unter ihnen sich davon gestört fühlen könnte. Nein, sie hatte sich nicht anders verhalten als sonst, hatte immer gegrüßt und gelächelt.
Aber die Signora von gegenüber hatte den Brief gesehen.
Und sie war eine Meisterin im Tratschen. Sie wusste immer alles von allen, stand hinter der Gardine und beobachtete die Straße, redete auf dem Markt mit Händlern und Nachbarn aus dem ganzen Viertel.
Nur Juden bekamen solche Briefe.
Gizella trug den Kopf hoch, grüßte weiterhin alle Nachbarn und Bekannten und tat so, als würde sie nichts bemerken.
Sie schob neue Lavendelsäckchen zwischen die frische Bügelwäsche, mürbe Teile oder Stücke mit Löchern sortierte sie aus. Im Schlafzimmer, dem besten Zimmer der Wohnung, zog sie die Vorhänge zu, auch wenn sie so nicht mehr auf die Baumkronen vor dem Haus blicken konnte. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, und Sergio auch nicht. Bis zu Edoardos Rückkehr würden sie ihr Leben weiterführen wie bisher. Das Gerede der Leute würde verstummen, wenn er wieder bei ihnen wäre. Vor ihm hatten sie Respekt. Er kämpfte schließlich für das Vaterland in diesem fürchterlichen Krieg.
Doch Edoardo kam nicht.
Stattdessen fielen Bomben. Zuerst trafen die alliierten Flieger die Industriegebiete am Rande der Stadt. Sie bombardierten den Hafen und den Hauptbahnhof, hatten es auf militärische Ziele abgesehen. Nachts lag Gizella wach und lauschte dem Röhren der Flugzeuge, dem Pfeifen der fallenden Bomben und zuckte zusammen. Sergio kam weinend in ihr Bett gekrochen. Sie kuschelten sich aneinander, hofften auf Trost beim anderen, hofften, dass es schnell vorübergehen möge. Die Briten warfen Flugblätter über der Stadt ab. Sie entschuldigten sich bei den Bewohnern, dass sie die Stadt bombardierten, doch solange die Deutschen vom Hafen in Neapel ungehindert Waffen und Kriegsmaterial nach Libyen verschiffen konnten, würden die Bombardements weitergehen. Wollten die Neapolitaner den kommenden Bombensturm überleben, so sollten die Hafenarbeiter sich weigern, weitere Schiffe für die Deutschen zu beladen, die Seeleute sollten nicht auf den Schiffen der Deutschen anheuern. Und die Bewohner der Stadt sollten in den Hafen gehen und so lange protestieren, bis Hafenarbeiter und Seeleute in den Streik treten würden.
Gizella ging nicht in den Hafen, sie wünschte sich Edoardo herbei, überlegte, wo er wohl gerade war, während draußen die nächste Bombe einschlug. Hoffentlich war er auf dem Schiff sicher, vielleicht dachte er ja gerade an sie.
Aus den gezielten Bombenangriffen wurden Flächenbombardements. Das amerikanische Geschwader Schneewittchen und die sieben Zwerge zog über die Stadt, breitete seinen Bombenteppich über die Viertel, die Straßen, die Gassen aus. Die Menschen flüchteten sich in die unterirdischen Gänge der Stadt, in die Katakomben im ausgehöhlten Tuffstein, in den einstigen Pestfriedhof, in die antiken Wasserspeicher, wo noch die Mauern der alten Römer zu sehen waren.
Gizella packte Sergio und rannte, so schnell sie konnte. Doch auch in den dunklen Gängen, wo die Einschläge der Bomben nur dumpf widerhallten, beruhigte sie sich nicht. Draußen starben zu viele Menschen. Zu viele Häuser stürzten ein. Jedes Mal, wenn sie die Schutzräume verließ, betrat sie eine andere Stadt. Es traf die Wohnhäuser, die Kirchen, die Schulen, die Büros, die Geschäfte und das Krankenhaus. Im Hafen versenkten die Alliierten drei Kreuzer, die Hauptpost lag in Trümmern, eine Straßenbahn voller Toter blockierte die Gleise. Staub hüllte alles ein, gab erst nach und nach die Lücken in den Häuserreihen frei. Ein Klagen lag über der Stadt. Niemand ging mehr in den Park, niemand sang mehr Lieder. Gizella zitterte. Knallte auch nur irgendwo eine Tür, zitterte sie, und der Schweiß brach ihr aus.
Und Sergio, der das Zittern und die feuchte Stirn der Mutter sah, begann zu weinen. Nichts konnte ihn beruhigen. Der Staub der Trümmer drang in ihre Wohnung ein, legte sich auf die dunklen Möbel, kroch in den Schrank und überzog die frische Wäsche mit einem grauen Schleier. Der Duft der Lavendelsäckchen erstickte im Staub.
Tag für Tag kamen die Bomber. Gizellas Schwiegermutter half ihr nicht, bei den Nachbarn brauchte sie gar nicht erst fragen, jeder kümmerte sich nur noch um sich selbst, Edoardo fehlte ihr, es traf auch keine Post mehr von ihm ein. Die Schulen wurden geschlossen.
Dann verkündete Mussolini höchstpersönlich, dass Frauen und Kinder die Stadt verlassen und fern von Innenstädten und Industriezentren Zuflucht suchen sollten. Nur die Kämpfer sollten zurückbleiben und all diejenigen, die eine moralische Bürgerpflicht zu erfüllen hätten.