Dies ist kein Märchen
Es war einmal ein fleißiges Ehepaar. Hanna und Bernd, er achtunddreißig, sie dreiunddreißig Jahre alt. Seit vielen Jahren übten sie brav ihren Beruf aus, er als Dachdecker, sie als Postbeamtin. Sie begnügten sich mit einem kleinen Auto, kauften im billigsten Supermarkt ein, verzichteten auf hübsche Kleidung und unnötige Dekoration ihrer Mietwohnung. Hingegen sparten sie emsig Geld für ein Eigenheim. Es war in den Siebzigerjahren und die Welt war noch in Ordnung. Bald hatten sie eine kleine Summe beisammen, jedoch reichte sie längst nicht für einen Hauskauf. Da sie ordentliche Menschen mit etwas Eigenkapital waren, genehmigte ihnen die Bank einen Kredit mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Und so kauften sie schon bald ein freundliches Häuschen mit Garten und richteten es bescheiden ein.
Hannas Wunsch nach einem Kind wurde nun besonders stark. Leider erfüllte er sich vorerst nicht und so saßen sie an manchen Sonntagnachmittagen auf der Terrasse, redeten wenig, aber sahen traurig auf die leere Schaukel, die kleine Rutsche und den Sandkasten. Auf all die Dinge, die sie sofort in Angriff genommen hatten, kaum waren sie eingezogen.
»Wir dürfen nicht undankbar sein!«, sagte manchmal Bernd. »Es geht uns gut. Wir haben ein Dach, zu Essen und gute Nachbarn, die uns zum Grillen einladen.«
»Ja, aber ohne ein Kind ist das Leben eben nur halb so schön!«, antwortete Hanna und senkte den Blick.
»Du hast recht!«, flüsterte Bernd und senkte ebenfalls den Blick.
Einige Jahre später, an einem schönen Frühlingsmorgen, wachte Hanna von den Sonnenstrahlen auf, die ihr Gesicht kitzelten. Bernd hatte die Läden hochgelassen und das Fenster weit geöffnet, denn es war schon zehn Uhr. Etwas mürrisch setzte Hanna sich im Bett auf, sog den Duft nach Kaffee ein, der durchs Haus zog, blickte auf den sonnendurchfluteten Garten, den blauen Himmel, der durch die Zweige ihres Mirabellenbaumes zu sehen war, und flüsterte voller Hingabe: »Ach, lieber Gott, ich glaube an dich, weil es ohne dich all die schönen Dinge, die ich sehe, nicht geben kann. Das weiß ich mit Sicherheit. Lieber Gott, verschließ deine Ohren nicht mehr vor meinem Wunsch. Nimm deine Ohrenstöpsel heraus und höre mein Flehen: Ich wünsche mir ein Kind, egal ob Junge oder Mädchen, mit Augen so blau wie der Himmel über mir, einer Haut so klar und gesund wie die Sonne an diesem Morgen und Haaren so dunkel wie der Kaffee, den mir mein lieber Mann kocht. Erfüllst du mir endlich diesen Wunsch? Ich bin jetzt achtunddreißig und es wird Zeit, dass es fruchtet. Bernd tut, was er kann, nur du lässt uns im Stich. Das ist nicht fair, denn seit Generationen glauben wir an dich, geben sogar Opfergeld, obwohl Bernd eine grausam hohe Summe an den Staat zahlt, der ja gar nicht an dich glaubt, guter Gott.«
Den letzten Satz schrie Hanna qualvoll hinaus, so dass Bernd erschrocken herbeigeeilt kam. »Liebes, was ist los?«
»Husch, husch, lieber Mann, komm zu mir. Du musst auf der Stelle mit mir schlafen, denn ich habe ein unbändiges heißes Verlangen. Du musst es stillen, damit es fruchtet.« Sie strampelte die Decke weg und erwartete ihn mit angewinkelten, gespreizten Beinen.
Und tatsächlich: Zum ersten Mal nach Jahren fiel der Schwangerschaftstest positiv aus. Und Hanna hatte nichts weiter getan, als dem lieben Gott die Leviten zu lesen und ihren Mann zu einem besonders heißen Beischlaf anzustacheln. War das nicht sonderbar? Jahrelang hatten sie sich zu jeder erdenklichen Tageszeit aufeinander gestürzt, war Bernd in der Mittagspause zu seiner Hanna geeilt, die ebenfalls während der Mittagspause das Postamt verlassen hatte und mit gespreizten Beinen wartete. Immer Hektik, Spannung, Aufregung und dann nichts. Doch diesmal hatten sie es geschafft und die Freude war unbeschreiblich.
Jeden Tag, kaum von der Arbeit zurück, zimmerte Bernd an der Wiege. Er lehnte es ab, eine zu kaufen, denn für das sehnlichst erwartete Kind sollte nichts von der Stange sein.
Hanna ihrerseits hätte gerne Kinderklamotten genäht oder gestrickt, aber von Schneiderei hatte sie nicht den geringsten Schimmer und Stricken hatten sie nie gelernt. Dafür ging sie täglich nach Arbeitsschluss im Kaufhaus in die Kleiderabteilung für Kinder und betrachtete die Kollektion. Hin und wieder holte sie das eine oder andere Teil heraus und befühlte es. Doch sobald eine Verkäuferin nahte und fragte: »Was kann ich für Sie tun?« entschuldigte sie sich verlegen und drehte sich weg.
Auch Hanna war der Meinung, dass dieses besondere Kind keine Kleider von der Stange tragen sollte. Deshalb ging sie in das Kindergeschäft »Klettermax«, doch dort war die Verkäuferin äußerst zudringlich. Als sie zwischen Rosa– und Blautönen schwankte, rief die Verkäuferin verwundert: »Was, Sie wissen das Geschlecht nicht? Also ich könnte vor Spannung nicht mehr schlafen.«
Und Hanna antwortete entschlossen: »In einer Welt, in der es keine Geheimnisse mehr gibt, in der man alles erforschen kann, wollte ich mir das eine Geheimnis noch ein wenig bewahren.«
»Sonderbare Einstellung!«, bemerkte die Verkäuferin und verzog das Gesicht.
Hanna schwor sich in dem Augenblick, in diesen Laden nicht mehr zurückzukehren.
Acht Monate später kam Eberhard zur Welt. Es war eine ungewohnt leichte Geburt für eine fast vierzig Jahre alte Erstgebärende. Einige Tage später verließ eine glückliche Mutter in Begleitung des glücklichen Vaters das Krankenhaus.
Schon bald lag das rosige Baby in der mit blendend weißem Leinen überzogenen Wiege. Ein gesunder, kräftiger Junge, auf dessen Köpfchen brauner Flaum wuchs und dessen Augen noch von einem nicht definierbaren Blau waren. Während des Schwangerschaftsurlaubs rannte Hanna jede freie Minute zu ihrem Jungen, hob ihn hoch, obwohl er nicht danach verlangte, knuddelte und küsste ihn. Voller Stolz betrachtete sie das Kind und hätte schwören können, noch nie ein schöneres Baby gesehen zu haben.
Damit dieses kostbare Geschöpf ständig von lieben, verantwortungsbewussten Menschen umsorgt wurde, kam Tante Magda ins Haus, sobald Hannas Arbeitsstelle rief. Selbstverständlich kehrte Hanna nicht gerne zurück. Aber eine unbezahlte Auszeit konnte sie sich nicht gönnen, da der Kredit zurückerstattet und nebenbei noch Geld für Eberhards Studium gespart werden musste. Denn nichts wünschten sich Hanna und Bernd mehr, als ihrem Kind ein Medizin- oder Jurastudium zu ermöglichen, denn er sollte es einmal besser haben als sie.
Und ganz so, als erfüllte Gott Hannas sämtliche Wünsche, entwickelte sich Eberhard ganz im Sinne seiner Eltern. Sowohl was sein Äußeres betraf als auch hinsichtlich seiner inneren Werte. Dichtes braunes Haar wuchs auf seinem Kopf, seine Haut strahlte gesund und rosig, seine Augen blickten klar in einem hellen Blau in die Welt. Seine schulischen Leistungen ließen auf ein vielversprechendes Studium hoffen.
Tatsächlich freute sich Eberhard am meisten über das glückliche Lächeln seiner Mutter und über die stolzen Lobeshymnen seines Vaters, wenn er gute Noten nach Hause brachte. Er pfiff deshalb auf Freunde, ging statt zum Fußball mit seinem Vater zum Wandern, ließ sich achselzuckend Streber nennen, steckte die Prügel von Klassenkameraden locker weg (»Nicht einmal meinen Ärger sind diese Idioten wert«, sagte er sich) und büffelte umso mehr für die Schule.
Mittlerweile war er am Gymnasium. Noch immer kam Tante Magda, bereitete ihm das Mittagessen und überprüfte seine Schulaufgaben. Es gab nie Probleme mit den Lehrern, nur anerkennende Bemerkungen an den Elternabenden und Glückwünsche wie: »Dieses Kind wird es noch weit bringen.«
Für die Zukunft hatten Hanna und Bernd sehr gut vorausgeplant. Als Eberhard mit dem Medizinstudium begann, waren noch 150 000 Euro Schulden auf dem Haus und 30 000 Euro auf Eberhards Namen angelegt. Hanna frohlockte, denn sie hatten die Hälfte des Hauses abbezahlt und genug Geld, um Eberhards Studium vollständig zu finanzieren.
Doch dann passierte es.
Im August desselben Jahres fiel Bernd vom Dach. Er hatte sich wohl nicht genügend abgesichert oder geglaubt, eine Kleinigkeit im Vorüberklettern erledigen zu können, jedenfalls fiel er vom Dach. Glücklicherweise handelte es sich um das Dach eines Einfamilienhauses.
Außer der Eigentümerin des Hauses war niemand zur Stelle, doch die reagierte umgehend. Sofort rief sie einen Krankenwagen und kümmerte sich um den Gefallenen. Er stöhnte und ächzte, was die Eigentümerin beruhigte. Auch der bald herbeieilende Notarzt äußerte sich beruhigend.
Wie es aussah, hatte der Aufprall einen Wirbel verletzt. »Mit ein bisschen Glück ist er nur angeknackst und mit noch mehr Glück bleibt es bei einer starken Prellung!«, sagte der Notarzt.
Hanna wurde umgehend benachrichtigt und saß eine knappe Stunde später neben Bernd im Krankenzimmer.
»Mein Gott, Bernd, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst immer, ja immerzu, an die Sicherheitsmaßnahmen denken.«
»Es ist doch alles gut gegangen. Nur eine heftige Prellung im Rücken und eine Muskelzerrung.«
»Ja, aber es hätte dich auf dem Kopf treffen können!« Hanna seufzte und rollte mit den Augen.
Am selben Tag war Bernd wieder zu Hause. Da er seinen Job als Dachdecker nicht sofort wieder aufnehmen konnte, erledigte er Dinge, die er sonst immer aufschob, wie zum Beispiel: den Flachbildfernseher an der Wand installieren, kaputte Birnen wechseln, im Geräteschuppen Ordnung schaffen. Das alles verlangte Körperkraft, weshalb ihm Hanna ständig mit Vorwürfen in den Ohren lag. Gerne hätte er sich während seiner Rekonvaleszenz mit Eberhard über dessen Studien unterhalten, aber Eberhard war die Woche über an der Fakultät.
Manchmal fühlte sich Bernd nach verrichteter Arbeit etwas schwach auf den Beinen, und es war ihm leicht übel. Etwas beunruhigte ihn dabei die Tatsache, dass er drei Bypässe hatte und ständig Tabletten nehmen musste. Wirklich darüber nachdenken wollte er nicht.
Bald war sein Können auf dem Dach wieder gefragt, und statt zu jammern oder auf der faulen Haut zu liegen, machte er sich am zweiten Montag im September dieses Jahres wieder auf den Weg zur Firma, für die er als Dachdecker arbeitete. Er gab Hanna zum Abschied einen Kuss, steckte die Zeitung ein, die er während der Kaffeepause in der Firma lesen wollte, und stieg ins Auto. Hanna winkte ihm vom Küchenfenster aus und er winkte zurück.
Er fuhr unsicher, es ging ihm nicht gut. Nach wenigen Minuten Fahrt schon fühlte er sich so schlecht, dass er rechts ranfuhr und den Wagen zum Stehen brachte. Im letzten Moment. Er sackte zur Seite und es wurde dunkel. Oft hatte er sich gewünscht, so schnell einzuschlafen. Aber nie unter diesen Umständen.
Das Auto störte den fließenden Verkehr. Er hatte es ja nur eben rechts rangefahren. Da das Hupen allerseits nichts zu bewirken schien, fuhr ein anderer Wagen rechts ran, ein Mann stieg aus und klopfte an die Scheibe. Dann erst sah er nach innen.
Bernd lag leicht verkrümmt. Wenig später schon war der Notarzt da, prüfte den Zustand des erschlafften Körpers, hob ihn mithilfe seines Sanitäters auf die Trage und sah schließlich mit bitterer Miene die Umstehenden an. Was er an Papieren in Bernds Auto fand, nahm er mit. Er sagte nichts weiter, telefonierte und fuhr mit Blaulicht weg.
Eine knappe Stunde später stand Hanna im Krankenhaus vor ihrem toten Mann und verstand die Welt nicht mehr.
»Was um Gottes Willen ist passiert? Er hatte doch nichts. Als er ging, war er wie immer.« Unentwegt schüttelte sie den Kopf. Tränen verwischten ihre Wimperntusche.
Eberhard, der mittlerweile eingetroffen war, legte den Arm um ihre Schulter. Auch er war fassungslos und blickte mit leeren Augen auf seinen toten Vater. Er konnte es nicht verstehen, aber es war nun mal so. Damit musste er fertig werden und lange schon hatte er gedacht, dass er den Vater oder die Mutter in noch jungen Jahren verlieren könnte, denn seine Eltern waren alt. Nur hatte er nicht so plötzlich damit gerechnet.
»Nach Angaben Ihres Hausarztes ist Ihr Mann vor Kurzem gestürzt«, bemerkte der Stationsarzt, der Hanna und Eberhard in sein Sprechzimmer gebeten hatte.
»Ja, aber das war nichts Besonderes. Nur Prellungen. Doktor Schleich hat ihm Schmerzmittel und etwas zum Einreiben gegeben und gesagt, er solle wiederkommen, wenn es nicht besser wird«, erklärte Hanna.
»Röntgenaufnahmen wurden demnach nicht gemacht«, schlussfolgerte der Doktor.
»Wieso auch? Wir waren heilfroh, dass nichts gebrochen war. Er stand nach dem Sturz gleich auf. So ein gelenkiger Mann, dachte ich.«
»Ja, manchmal sollte man solche Stürze nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Was meinen Sie?« Eberhard stellte die Frage mit hochgezogen Augenbrauen.
Man gehe von einer durch den Sturz hervorgerufenen Verletzung der Bypässe aus, wurde ihm daraufhin erklärt. Es sei zu einem Herzstillstand gekommen, da das Herz nicht mehr ausreichend versorgt worden war.
Nach der Beerdigung, die einen Teil des angesparten Geldes verschlungen hatte, mussten die Finanzen geklärt werden. Hannas Gehalt und die sechzig Prozent von Bernds Rente reichten nicht aus, um die Unkosten, die Abzahlung des Hauses, Eberhards Studium und Hannas Lebensunterhalt zu decken.
Eberhard schlug vor, arbeiten zu gehen, was Hanna mit einem Aufschrei ablehnte. Das sei keinesfalls in Bernds Sinne. Sie hätten sich krummgelegt, damit der Sohn eben nicht mühselig das Geld zusammenkratzen müsse, sondern einen angesehenen Beruf erlerne, der ihm alle Türen öffne und ihm ermögliche, eine anständige Frau zu finden und eines Tages selbst ein Haus zu kaufen.
Hannas nächster Gang galt der Immobilienabteilung ihrer Bank. Sie habe gemeinsam mit ihrem Sohn beschlossen, das Haus zu verkaufen und das Geld so anzulegen, dass zusammen mit ihrem Gehalt die monatlichen Unkosten gedeckt seien.
»Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, das Haus zu verkaufen. Zwar sind die Zinsen niedrig, und das bewegt die Menschen, Kredite aufzunehmen und Immobilien zu kaufen, doch Ihr Objekt ist nicht besonders begehrt.«
»Was soll das heißen? Vor einigen Jahren, als wir kauften, wurde uns das Objekt als potenzielle Anlage angeboten.«
Der Banker machte unmissverständlich klar, dass sich die Lage seitdem grundlegend verändert habe. Durch den Ausbau der Stadtbahn liege das Haus mittlerweile in unmittelbarer Nähe der Schienen und ein geruhsamer Nachmittag im Garten sei nicht mehr möglich. Gleichzeitig sei der hübsche Ausblick nach Westen zum Wald und den Wiesen seit dem Bau eines Mehrfamilienhauses beeinträchtigt. Kurz und gut: Das Haus habe zum gegebenen Zeitpunkt nicht einmal den Wert, der dem einstigen Kaufpreis entspräche. Frau Pross möge doch noch ein wenig zuwarten. Irgendwann würden sich die Umstände auch wieder ändern.
»Aber nur zum Schlechten, Herr Bücker! In einem Jahr stehen noch mehr Häuser im Westen und bis dahin hat die Stadt eine zweite Schiene installieren lassen und es herrscht reger Verkehr auf den Gleisen.«
»Dann allerdings zählt ihr Häuschen zur Stadt und befindet sich nicht mehr wie jetzt am Stadtrand. Und ein Stadthaus verkauft sich viel besser.«
Nach einigem Hin und Her seufzte Hanna: »Ich habe keine andere Wahl.«
Herr Bücker presste die Lippen zusammen und nickte schließlich. Er werde ein Exposé des Hauses anfertigen lassen und es ins Internet stellen. Außerdem werde es täglich in der Kreiszeitung erscheinen. Man schrieb das Jahr 2005, Eberhard war 22. Er hatte das Physikum abgelegt und befand sich im vierten Semester. Acht Semester lagen noch vor ihm, das bedeutete für ihn vier Jahre Studium und für Hanna vier weitere Jahre, in denen sie das Studium ihres Sohnes unterstützen würde.
Ein Jahr später, im Jahre 2006, war das Haus noch immer nicht verkauft. Immer wieder musste Hanna Interessenten durchs Haus schleusen, was ihr sehr unangenehm war.
Im Jahr 2008 waren die 30 000 Euro für Eberhards Studium aufgebraucht und kein Käufer war in Sicht. Was Hanna am meisten quälte, war das Befinden ihres Sohnes. Mit jedem Jahr sank seine Motivation. Er verlor das Interesse, ging nicht mehr zu den Vorlesungen und erschien nur noch sporadisch im Krankenhaus.
»Mein Gott, Eberhard, was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht, Mutter. Es ist, als hätte Vater all meine Vorstellungen und Hoffnungen mit sich genommen. Ja, und die Lust am Medizinstudium ist auch mit ihm gegangen.«
»Das kann nicht sein, Eberhard!«, Hanna griff in ihr Haar und zerrte nervös daran. »Du warst selbst ganz begeistert von dieser Wahl.«
»Ja, solange Vater gelebt hat, war die Wahl gut. Doch nun hat sie keinen Wert mehr.«
»Wie, sie hat keinen Wert? Wolltest du denn etwas anderes studieren?«
Atemlos wartete Hanna auf die Antwort. Nur einmal hatte sie sich die Frage gestellt, ob Eberhard tatsächlich Arzt sein wollte. Das war, als sie und Bernd es beschlossen hatten, und Eberhard damit konfrontierten. In den rosigsten Farben hatten sie ihm diesen Beruf geschildert, ohne Eberhard wirklich begeistern zu können. Und nun meinte Hanna, sich an eine Dissonanz zu erinnern. Furchen auf Eberhards Stirn, angestrengte Augen, gehetzter Atem.
Doch dann sagte der Vater: »Stell dir vor, Eberhard, der Sohn des einfachen Dachdeckers wird Arzt. Alle Welt wird mich beneiden, alle werden an uns hochschauen.«
Eine eisige Faust schloss sich um Hannas Hals und drohte, sie zu ersticken. »Aber ... aber«, krächzte sie, »dann wolltest du nie Arzt werden!«
»Nein!«, sagte Eberhard leise. »Nein!«, wiederholte er lauter und »Nein!«, schrie er hinaus und erhob sich. »Ich hasse es, Mäuse zu sezieren, Frösche bei lebendigem Leib auseinanderzunehmen. Ich hasse Blut, hasse Wunden, ich hasse Krankheit und ich hasse den Tod.« Sein Schreien brachte Hanna ins Wanken. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht und totenblass suchte sie Halt an einem Sessel.
»Du brauchst kein Geld mehr für dieses gottverdammte Studium ausgeben. Ich geh nicht mehr hin. Es ist vorbei!« Nun stand er stramm wie ein Soldat beim Empfang eines Staatspräsidenten und verstummte.
Hanna sank in den Sessel, schluckte und stotterte Worte, die Eberhard nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Als ihr Jammern nachließ und sie nur noch apathisch fragte, was er denn stattdessen habe studieren wollen, machte Eberhard wieder den Mund auf.
»Musik. Ich möchte Lieder komponieren und sie vortragen.«
»Musik? Warum denn Musik? Wir sind alle unmusikalisch und niemand in der Familie spielt ein Instrument. Ich wäre nie darauf gekommen.«
Und wieder fing Eberhard an zu schreien. Genau, das sei es ja. Sie habe den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie kenne ihn nicht, wisse nichts von seinen Wünschen, nichts von seinen Sehnsüchten.
Das war sein letzter Satz. Danach ging er aus dem Haus und kam vor dem Morgengrauen nicht wieder.
Lange saß Hanna im Sessel und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Schlagartig war ihr klar geworden, dass sie nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Sohn verloren hatte.
Am nächsten Morgen, als Eberhard zurückkam, saß sie immer noch da. Mit starrem Blick und bleichen Wangen. Sie sah, wie Eberhard mit einem Rucksack an ihr vorbeiging und sich verabschiedete.
Sie saß noch immer in der gleichen Haltung, als er rief: »Mach dir keine Sorgen um mich, Mutter. Denke lieber an dich statt an mich, und ich denke auch an mich.«
Die Tür fiel ins Schloss.
Sechs Jahre später
Es regnete, der Wind trieb feuchte Blätter in die Bahnhofshalle. Es war ein früher Herbstmorgen. Grau blickte der Himmel auf den kleinen Bahnhof herab. Im Innern gab es zwei Schalter und eine lange, dicht an die Wand gedrängte Bank. Auf dieser lag mit geschlossenen Augen ein Obdachloser. Sein Mantel war zerrissen, seine Schuhe durchlöchert, die Hände, die eine Flasche hielten, gerötet und rau.
Eine ältere Dame eilte zielstrebig auf einen der Schalter zu. Bevor sie ihn erreichte, stockte ihr Schritt und ihr Kopf wandte sich dem Obdachlosen zu. Sie runzelte die Stirn, näherte sich ihm, blickte ihm direkt ins Gesicht und sagte: »Eberhard?«
Der Obdachlose öffnete die Augen und sah die ältere Dame an. Ein Strahlen erhellte sein schmutziges Gesicht. Er reckte sich, wollte sich hochrappeln, sank aber sofort wieder zurück. Dann antwortete er freudig: »Tante Magda? Bist du es?«
»Ja, ich bin es. Aber bist du es?«
»Ja, ich bin es. Wie geht es Mutter?«
»Liebe Güte, Eberhard, was ist aus dir geworden?
»Das siehst du doch.« Endlich richtete sich Eberhard auf.
Tante Magda setzte sich neben ihn.
Eberhard grinste sie an. »Ja, ich sollte Arzt werden, wollte Musiker werden und wurde: das hier!« Er griff sich in die Haare, ins Gesicht, strich über seinen alten Mantel, zeigte auf die Schuhe.
»Oh, Eberhard! Wie entsetzlich traurig ist das. Deine Eltern waren die glücklichsten Menschen, als du auf die Welt kamst. Wenn sie wüssten, was aus dir geworden ist, sie würden sich im …« Magda drückte die Hand auf die Lippen.
»Mutter ist also tot?«
Die ältere Dame nickte und erzählte ihm, was passiert war.
Anfangs habe sie nicht gewusst, dass er einfach davongelaufen sei. Irgendwann habe sie Hanna in der Stadt getroffen und von ihr alles erfahren. Dabei habe sie die Hälfte nicht verstanden, so heftig habe diese geschluchzt und geweint. Ihr Zustand sei ihr sonderbar vorgekommen und sie habe Hanna hin und wieder besucht. Da diese aber immer eigenartiger wurde, nicht mehr zur Arbeit ging und auch das Haus vergammeln ließ, musste etwas getan werden.
»Als ich merkte, dass sie kaum noch ansprechbar war und nicht auf mich reagierte, habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit sie in ein betreutes Wohnen kam. Dazu musste natürlich das Haus verkauft werden.«
»Und nun?« Eberhard hatte sich ganz aufgerichtet und blickte Magda mit traurigen Augen an.
»Nun, eine Weile hielt sie es durch …« Magda machte eine Pause und verzog schmerzlich das Gesicht, bevor sie den nächsten Satz sprach. »Dann brach ihr wohl endgültig das Herz. Wir wissen nicht, wie sie an die vielen Schlaftabletten gekommen ist, jedenfalls hat sie sich, erst vor drei Wochen übrigens, das Leben genommen.«
Eberhard schoss hoch. Seine Augen quollen hervor, auf seiner Stirn glänzte Schweiß und seine Lippen zitterten, als es mühsam aus ihm herausbrach: »Was? Sie ist keines natürlichen Todes gestorben? Sie besitzt die Frechheit, sich das Leben zu nehmen. Zuerst haben sie über mein Leben bestimmt, so dass ich nicht wusste, was ich selbst will. Und dann sterben sie, ohne mir eine Chance auf ein neues Leben zu geben.«
Aus Magdas Gesicht war alle Farbe gewichen. Auch sie hatte nun Mühe, ihren Satz hervorzubringen: »Wie kannst du nur so ungerecht sein!« Sie stand auf. »Dein Vater konnte für seinen Tod nichts. Er hat dich geliebt wie sonst nichts auf der Welt. Ich erinnere mich noch, mit welchem Stolz er in deine Wiege blickte. Mein Sohn, mein wunderbarer Sohn, hat er geflüstert und dich sanft gestreichelt.«
In Magdas Augen standen Tränen. Doch Eberhard stimmte ihre Regung keineswegs milde. Sie brachte ihn noch mehr auf. »Mein Sohn, mein Sohn! Ja, ja, aber irgendwann lag ich nicht mehr in der Wiege und sollte ein eigenständiger Mensch werden, was mir nie gelungen ist, weil sie mir meinen Lebensweg vorgeschrieben haben.«
»Ach was! Du hattest doch einen Kopf und einen Mund, um dich zur Wehr zu setzen. Du bist nichts weiter als ein Idiot. Wenn du noch ein bisschen Grips im Schädel hast, dann geh aufs Rathaus, weise dich als der Sohn von Hanna und Bernd Pross aus, damit du wenigstens ans Erbe kommst. Mit dem, was vom Hausverkauf übriggeblieben ist, kannst du dir vielleicht das Leben aufbauen, von dem du immer geträumt hast.« Erbost über sein egoistisches Betragen stand Magda rasch auf und strebte zum Schalter.
Müde beobachtete Eberhard, wie sie ein Ticket kaufte, ohne sich nach ihm umzudrehen, zu den Gleisen hinausging und aus seinem Blickfeld verschwand.
Er sank zurück auf die Bank. Irgendetwas war anders als vor einer Stunde. Er hatte das Gefühl, dass sich seine trägen Arme und Beine mit frischem Blut füllten. Unwillkürlich griff er in die Innentasche seiner abgegriffenen Jacke. Natürlich, da war sein Pass. Da steckte seine formale Identität. Sollte er nicht auf Magdas Ratschlag hören? So wie er aussah, würde ihm keiner glauben, aber dem Pass würden sie glauben. Und vielleicht könnte er doch noch in ein richtiges Leben starten.
Fin
Erika und Renate waren beide zehn Jahre und einige Monate alt, als sie der Klassenlehrer nebeneinandersetzte. Die blasse, schüchterne Renate kam aus der Großstadt, trug einen karierten Rock, das dazu passende Jäckchen und Stadtschuhe. Ihre Wimpern waren fast unsichtbar, ihre Lippen farblos, ihre Augen von einem wässrigen Blau. Sie redete wenig, lachte aber oft und über jede Belanglosigkeit. Daran störten sich ihre Kameradinnen und wandten sich ab, denn zu alledem trug Renate eine Zahnspange und riss ihren Mund beim Lachen weit auf. Ihr Haarschnitt sah aus, als hätte sie ihn selbst zurechtgeschnipselt. Ungleich und strähnig. Und oft schüttelte sie ihr dünnes Haar nach allen Himmelsrichtungen. Es fiel ihr schwer, Freundschaften zu schließen, weshalb sie froh über Erika war, die sich rührend um sie kümmerte.
Wie die meisten Mädchen ihrer Klasse trug Erika ihr Haar sorgfältig zu einem Zopf geflochten. Hin und wieder konnten es zwei Zöpfe sein und löste sie diese dann auf, fiel ihr Haar wunderschön gelockt bis zur Taille. In solchen Momenten kämpfte Renate mit ihrem Neid. Denn sie wollte keinesfalls neidisch sein. Sie hätte Erika ja um fast alles beneiden müssen. Erikas Haut war immer leicht gebräunt, ihre Augen strahlend blau, ihr Gesicht herzförmig, ihre Zähne gleichmäßig. Bald wurde sie zur guten Freundin und besuchte Renate jeden Tag im alten Haus am Ende der Kleinstadt, in das ihre Eltern in den ersten Monaten des Jahres 1982 gezogen waren.
Renates Eltern waren stille Menschen. Seit ihrem Umzug führten sie die Buchhandlung und das Schreibwarengeschäft im Ort. Sie verkauften Zeitschriften, Schreibutensilien, empfahlen Bücher, beschränkten sich dabei aber auf das dafür notwendige Vokabular. Sofort nach Ladenschluss eilten sie nach Hause, jeder in sein Zimmer, und verkrochen sich hinter Büchern und Schriften. Renates Mutter, Frau Groß, besorgte ihre Einkäufe in den Morgenstunden, während ihr Mann schon im Laden stand.
Frau Groß hatte wenig von einer Großstädterin, obwohl sie in Bonn aufgewachsen war. Sie trug das schwere dunkle Haar mit einer kräftigen Spange im Nacken gebunden, stets Kostüme in unterschiedlichen blassen Farben, flache Schuhe, einen goldenen Ehering und winzige Perlohrringe. Eine flüchtige Ähnlichkeit mit Simone Veil war zu erkennen. Dies war Absicht. Frau Emilie Groß verehrte Simone Veil, auch ihr Gatte, ein bebrillter schüchterner Mann mit hellen dünnen Haaren, war voller Bewunderung für die französische Politikerin. Die Eheleute verehrten auch Marthe Argerich, die geniale Pianistin, sowie Frida Kahlo und Simone de Beauvoir. Und insgeheim beneideten sie diese Künstler um ihren Ruhm und hätten es gerne nur annähernd so weit gebracht. Vermutlich mangelte es ihnen an Talent, vielleicht auch an Durchhaltevermögen, Gelegenheit oder Glück. Jedenfalls begnügten sie sich schließlich damit, in diese Welten zu flüchten, statt ihre Träume zu verwirklichen.
In Bonn hatten sie ein Musikgeschäft betrieben, das Partituren, kleine Instrumente und CDs anbot. Leider lief das Geschäft zunehmend schlecht. CDs verkauften sich noch gut, allerdings waren Partituren und kleine Instrumente nicht mehr gefragt. Das Ehepaar konnte kaum noch die Miete aufbringen, da starb überraschenderweise Herrn Groß’ Vater und vererbte dem Sohn sein Häuschen in Steinnach. Wenig später segnete auch der dortige Buch- und Schreibwarenhändler das Zeitliche und da dieser keine Nachkommen hatte, fackelte das Ehepaar nicht lange, nahm einen Kredit auf, was zur damaligen Zeit noch mit weniger Unannehmlichkeiten verbunden war, und kaufte den Laden. In kurzer Zeit bewährte sich ihre Schreibwarenhandlung und gewann durch den Verkauf und die kompetente Empfehlung interessanter Bücher an Ansehen.
Darüber vergaßen Herr und Frau Groß allerdings nicht ihre Träume. Und eine Verwirklichung derselben rückte dank der kleinen Tochter Renate in greifbare Nähe. In Bonn hatten sie Renate schon mit Tanz- und Klavierunterricht konfrontiert. Anfangs fand Renate an den Übungen an der Stange noch Gefallen - sie war damals sechs –, doch bald störten sie die Strenge der Lehrerin, das ständige Zurechtrücken ihrer Gliedmaßen, der missbilligende Ausdruck im Gesicht der älteren Tänzerin, wenn sie Renate musterte.
»Du wirst immer größer. Man könnte meinen, du wächst jeden Tag fünf Zentimeter.«
Es stellte sich heraus, dass Renate für eine Weiterbildung im Tanz zu dünn und zu lang war. Große Mädchen avancierten nicht zu Spitzentänzerinnen. Sie landeten in Nachtclubs oder Varietétheatern, erfuhr Frau Groß. Davon wollte sie natürlich nichts wissen und fokussierte Renate auf das Klavier. Renate spielte gern und übte täglich, was in Mutter Emilie die Hoffnung nährte, eine geniale Pianistin heranzuziehen. Nach ihrem Umzug erkundigte sie sich dann auch sofort am Konservatorium Stuttgart nach dem besten Lehrer und ließ ihn einmal wöchentlich kommen. Der tat es gern, denn Familie Groß besaß aus der Erbschaft des alten Groß ein Steinway Piano.
»Renate hat mit vier Jahren angefangen, sie kann es noch zu etwas bringen!«, empfing sie den Lehrer.
Fin