1 Einleitung
Die Einführung von Patientenlotsen in das deutsche Gesundheitswesen wird eine der wichtigsten Innovationen in der Versorgung von Patientinnen und Patienten1 der 2020er-Jahre sein. Das wird schon heute in den Zwischenbilanzen zu den Innovationsfonds-Projekten deutlich, in denen die Lotsen eine herausragende Stellung einnehmen (Engehausen, 2021). Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung geht dementsprechend in ihrem Geleitwort zu einer Anfang 2021 erschienenen Bilanz zum Innovationsfonds gezielt auf die neue Versorgungsform der Patientenlotsen ein und schreibt, dass diese künftig „einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, die Gesundheitskompetenz zu stärken sowie die Behandlungsergebnisse und damit letztlich die Gesundheit und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern“ (Claudia Schmidtke).
Der Schlaganfall ist eines der großen Krankheitsbilder, bei denen Lotsen Betroffenen und deren Angehörigen eine wichtige, in der Regel sogar unverzichtbare Unterstützung bieten. Die hohe gesellschaftliche Relevanz des Schlaganfalls wird anhand von wenigen Daten und Fakten deutlich. In Deutschland und in den westlichen Industrienationen zählt der Schlaganfall zu den häufigsten Erkrankungen und steht hier an dritter Stelle der Todesursachen. Im Jahr 2016 starben in Deutschland 56.000 Menschen an einer zerebrovaskulären Erkrankung, zu denen als wichtigstes Krankheitsbild der Schlaganfall gehört. Die Überlebenden weisen häufig schwere Behinderungen sowie massive Funktionseinschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens auf. Viele Erkrankte sind von bleibenden Symptomen betroffen. Diese äußern sich in Lähmungen, Sprachstörungen, kognitiven Beeinträchtigungen und Depressionen. Der Schlaganfall ist damit hauptursächlich für dauerhafte Behinderung und Pflegebedürftigkeit im Erwachsenenalter.
Ziel des STROKE OWL-Projekts der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe ist die Verbesserung der Nachsorge für Schlaganfall-Betroffene. Hier bestehen seit Jahrzehnten die größten Defizite in der Versorgung von Schlaganfall-Patienten. Im Gesundheitswesen fehlen bis heute fallbezogene Ansprechpartner, die Patienten und Angehörige nach dem Schlaganfall begleiten und für eine begrenzte Zeit beratend und koordinierend zur Seite stehen. Die zahlreichen Unterstützungsangebote, die unser Gesundheitssystem ohne Zweifel bereits heute bietet, sind in der Regel nicht bekannt und können von den in der akuten Situation überforderten Betroffenen nicht ohne Hilfe erschlossen werden. Erst der Lotse gibt die notwendige Orientierung in der Komplexität der Anforderungen und Angebote, mit denen sich die Patienten im Alltag konfrontiert sehen.
Das Schlaganfall-Lotsen-Projekt STROKE OWL ist eines von zahlreichen Patientenlotsen-Projekten, die es schon heute deutschlandweit gibt. Mit der Größe und Strahlkraft, die das Projekt in den vergangenen Jahren entfaltet hat, gehört es unbestritten zu den herausragenden Lotsenprojekten mit der größten Aufmerksamkeit, insbesondere auch bei den politischen Entscheidungsträgern. Im Jahr 2020 hat der Bundesverband Managed Care [BMC] eine Befragung von Lotsenprojekten durchgeführt. An dieser Umfrage haben sich insgesamt 38 Modellprojekte beteiligt, in denen bereits heute ca. 75.000 Patienten Leistungen von Patientenlotsen erhalten. Der vielfältige Unterstützungsbedarf durch Lotsen zeigt sich beim Leistungsumfang: In nahezu allen Projekten informieren sie über Versorgungsleistungen, koordinieren unterschiedliche Versorgungsangebote, unterstützen bei der Inanspruchnahme von Leistungen und halten Therapie- und Versorgungsmaßnahmen nach. Im Bereich des Sozialrechts beraten die Lotsen über die Leistungen von gleich drei Sozialgesetzbüchern, dem SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung), SGB XI (Soziale Pflegeversicherung) und SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe) (Brinkmeier, 2020b; Galle & Brinkmeier, 2021). Dabei werden die Patientenlotsen in den verschiedensten Fachrichtungen und Indikationen eingesetzt. Neben den Lotsen in den Schlaganfall-Projekten gibt es sie vor allem in der Geriatrie, Onkologie, bei psychischen Erkrankungen sowie zahlreichen weiteren Einsatzgebieten, wie z. B. Kardiologie, Osteoporose, Demenz, Parkinson, Adipositas oder Suchterkrankungen.
Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe hat die im STROKE OWL-Projekt entwickelte Lotsenintervention bereits heute über die Modellregion Ostwestfalen-Lippe hinaus in vielen weiteren Städten und Regionen in Deutschland etablieren können. So gibt es Stand September 2021 Schlaganfall-Lotsen in Hanau, Recklinghausen, Marl, Düsseldorf, in Ansbach und Erlangen, die nach dem STROKE OWL-Lotsenpfad arbeiten. Aus weiteren Regionen in Deutschland und Europa erreichen die Stiftung immer mehr Anfragen, wie auch dort künftig Schlaganfall-Lotsen in die Versorgung implementiert werden können. Der Bedarf ist vorhanden.
In unserem „Handbuch Schlaganfall-Lotsen“ sind die vielfältigen Erfahrungen, die wir in der vierjährigen Laufzeit des STROKE OWL-Projekts dank der Förderung durch den Innovationsfonds sammeln konnten, in kompakter Form zusammengefasst. Für ein Ausrollen der Lotsenintervention müssen Werkzeuge, wie Handbücher, Leitfäden, Schulungen und Multiplikatoren, vorhanden sein, um die Innovation erfolgreich in die Fläche tragen zu können. Die Guidelines für den deutschlandweiten Transfer in die Regionen finden Sie in diesem Handbuch.
Entsprechend dem Auftrag des Innovationsfonds an die Projekte setzen wir damit Standards und schaffen die Grundlagen dafür, dass es einheitliche Vorgaben und Richtlinien bei der Implementierung von Schlaganfall-Lotsen gibt. Diese Standardisierung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um einerseits für künftige Leistungserbringer Prozesse und Strukturen verbindlich zu definieren und andererseits den Kostenträgern die Sicherheit zu geben, dass die aufgewendeten finanziellen Mittel entsprechend wissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse und evaluierter Standards investiert werden.
Bei der Setzung neuer Standards im Bereich der Schlaganfall-Versorgung kann die 1993 von Liz Mohn gegründete Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe auf langjährige Erfahrungen zurückblicken. Die Einführung von Stroke Units, also Schlaganfall-Akutstationen, in Deutschland wurde maßgeblich von der Stifterin vorangetrieben. Deutschlandweit existieren Stand heute mehr als 330 Stroke Units. Das Zertifizierungsverfahren für diese Stationen wurde gemeinsam mit der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft entwickelt und ist heute der anerkannte Standard in der Akutversorgung bei Schlaganfall und weltweit vorbildlich.
Die Einführung einer flächendeckenden Versorgung von Schlaganfall-Patienten durch Schlaganfall-Lotsen wird ein weiterer Meilenstein für Patienten und deren Angehörige sein. Die seit Jahrzehnten bekannten Defizite in der Nachsorge können auf diese Weise endlich überwunden werden. Das vorliegende „Handbuch Schlaganfall-Lotsen“ soll dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Dr. Georg Galle,
Leiter in der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe für das Innovationsfonds-Projekt „STROKE OWL – Schlaganfall-Lotsen für Ostwestfalen-Lippe“