Mitten in einer Ehekrise reist Andrea nach New York, in die Stadt seiner Jugend. Seit
einem Aufenthalt vor vielen Jahren sehnt er sich hierhin zurück. Was als Kurzurlaub
beginnt, wird zu einem alles verschlingenden Strudel an Eindrücken, Erlebnissen und
Erinnerungen — doch zu Hause in Italien wartet Andreas Familie auf ihn, und eines
Tages muss er sich zwischen altem und neuem Leben entscheiden.
Warmherzig und klug verwebt Fabio Geda die Schicksale seiner Charaktere miteinander,
bis ein Netz entsteht, das die ganze Welt zu umspannen scheint.
Fabio Geda
Was man sieht, wenn man über das Meer blickt
Roman
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
hanserblau
Und so kehrt er am Ende wieder vom Flughafen zurück, läuft, bis er Füße und Beine nicht mehr spürt, zieht das Handy aus der Tasche, das die dösige Luft im Central Park mit Summertime erfüllt — auf dem Display ein Foto von Agnese, die über den Rand ihrer Sonnenbrille lugt —, und wirft es in einem von Billie Holidays rauer Stimme beschriebenen Bogen in einen der Teiche, zwischen den Bäumen hindurch, unter dem Blick eines Falken; wenige Meter vom Ufer erstirbt die Stimme mit einem Plumpsen im Süßwasser, geht unter und verliert sich für einen winzigen Augenblick, der Andrea so unnatürlich lang erscheint, dass er glaubt, der See würde singen, in einem letzten summertime and the livin’ is easy, fish are jumpin’ and the cotton is high.
Derselben Melodie wegen hatte er sich, an einem Frühlingsmorgen fünf Monate zuvor, in seiner Stadt in Italien die Lunge aus dem Leib gerannt.
Ein auf dem Rasen liegender Unistudent reckte, als er ihn sah, den Kopf wie eine Schildkröte über sein Chemiebuch und löste die Finger aus den Locken des Mädchens neben sich; ein kleiner Junge mit offenen Schnürsenkeln hörte auf, seinem Ball nachzulaufen; eine Touristengruppe, die neben ihren frisch gemieteten Fahrrädern stand, blickte vom Lageplan des Parks auf. Alle folgten der unsteten Bahn dieses kalligrafischen Läufers, der, gekleidet wie jedermann, wie einer der vielen, die morgens dort unter den Kastanien unterwegs sind, in leichten Schuhen, kurzen Hosen und grauem Sweatshirt vorbeirannte, als ginge es — so schien es immerhin — um sein Leben. Ein Stück weiter vorn schoben zwei Frauen schwatzend ihre Kinderwagen vor sich her; sie lachten unbeschwert und sahen ihn nicht kommen. Um ihnen auszuweichen, schoss Andrea schmal wie eine Klinge zwischen ihnen und der Mauer des botanischen Gartens hindurch und schürfte sich dabei den Handrücken auf. Die größere Frau ohne Halstuch ließ die Wasserflasche fallen, aus der sie gerade trinken wollte, und schlug die Finger vor den Mund, um den Schreck zu ersticken; die andere krümmte sich katzenhaft über ihr Kind, um es zu schützen. Ein greiser Chinese unterbrach seine Atemübungen und drehte, die Arme vorgestreckt, mit mondartigem Phlegma den Kopf — später sollte er zu Hause einen Dokumentarfilm über die Gezeiten sehen und seine Frau überreden, das Foto ihres Sohnes zu vernichten.
Auf den zwei Kilometern, die ihn von der gynäkologischen Abteilung trennten, zog Andrea eine knirschende Spur hinter sich her. Aus einem fernen Winkel stieg die Erinnerung auf, wie er mit acht oder neun Jahren von einem Baum gefallen war und sich den Oberarm gebrochen hatte: Der erkletterte Ast war zu schwach gewesen, um ihn zu tragen, und von der Beobachtung eines Rotmilans gebannt, hatte er das Knacken des Holzes überhört.
Bei der Brücke ließ er den schützenden Park hinter sich und stürzte sich in die Straßen. Die Autos machten eine Vollbremsung, um ihn nicht zu überfahren, und doch musste er sich mit der Hand auf der Motorhaube eines Taxis abstützen. Er schnellte auf den Gehsteig und rannte entlang der Häuser weiter.
Frauen und Männer betraten und verließen Geschäfte, bestiegen und entstiegen Autos, nahmen Anrufe entgegen. Recycling-Müllcontainer wurden geleert, Fahrräder geklaut, Brotlaibe aus Öfen gezogen.
Hinter einer Reihe niedriger Gebäude tauchte das Krankenhaus auf. Die Schiebetür öffnete sich, ohne dass Andrea abbremsen musste. Er schlitterte über den Marmor und hielt mit rudernden Armen das Gleichgewicht; bog in den Gang ein und folgte der hellblauen Linie am Boden, die zur Abteilung führte. Es war heiß, unerklärlich heiß. Doch das irritierte ihn nicht, auch nicht die fragenden Blicke der Leute. Was ihn wirklich stutzen ließ, war, dass die Stimmen der Ärzte und Patienten, die Reifen der Rollstühle, das Klackern der Absätze, das Schlagen der Türen, das Knirschen der Rohrleitungen wie das des Astes, auf dem er als Kind gesessen hatte, und des berstenden Knochens in seinem Oberarm mit einem Mal verstummten.
Und als ihm das bewusst wurde, verloren die Sohlen die Bodenhaftung.
Das ist der Mann unserer Tochter, sagten zwei Stimmen.