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Remo Rapino, geboren 1951, unterrichtete Philosophie und Geschichte und hat mehrere Romane, Erzählungen und Gedichtsammlungen veröffentlicht. Mit seinem Roman Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio, der von der Kritik und der Presse in Italien enthusiastisch gefeiert wurde und zum großen Überraschungserfolg avancierte, gewann er 2020 unter anderem den renommierten Premio Campiello. Remo Rapino lebt in Lanciano in den Abruzzen.
Was bringt uns dazu, niemals aufzugeben? Liborio Bonfiglio, ein liebenswerter Außenseiter, träumt von einer besseren Zukunft. Früh auf sich allein gestellt, verlässt er sein Zuhause und sucht das Glück anderswo. Dem Charme, mit dem Liborio in einer ganz persönlichen Sprache von Liebe und Freundschaft, Solidarität und Einsamkeit, seinen Träumen und zerbrochenen Hoffnungen erzählt, kann sich niemand entziehen.
Die Leute auf der Straße sagen, ich spinne, weil ich immer Hunger habe.
juan rulfo, MACARIO, in: DER LLANO IN FLAMMEN
Ja ihr lieben Leute, glaubt mir nur, diese Sache ist nicht so unerheblich, als Manche von euch glauben mögen.
laurence sterne, LEBEN UND MEINUNGEN DES HERRN TRISTRAM SHANDY
Jetzt gehen die auch noch her, die andern da, die ganzen Leute in diesem blöden Kaff und sagen ich spinne. Das brauchen die mir nicht jetzt zu sagen, die andern da, die ganzen Leute in diesem blöden Kaff, dass ich spinne. Weiß ich doch selber, und denk auch dauernd dran, Tag und Nacht, im Winter wie im Sommer, jeden Tag, den der Herrgott kommen und gehen lässt mit Licht und Dunkel, denk ich dran. Hab ich schon immer drüber nachgedacht, warum aus meim Schädel, der fast normal war, ein Knallkopf geworden ist, ein hirnrissiger Schmarrn. Ist ja so, wie wenn einer geradeaus geht und auf einmal verhakt sich der Blick an einer Weggabelung, die krumm und verschlungen ist wie ne Schlange, und er schlägt einen anderen Weg ein und merkt es gar nicht, und auf einen Schlag bist du an einem Ort, den du vorher noch nie gesehen hast, wo du nichts kennst, die Häuser nicht blickst, die Bäume, die Gesichter der Leute, die Stimmen, ja nicht mal die Stimmen; selbst die feine Stimme deiner Mutter klingt falsch, und du findest nicht mal mehr den Brunnen auf der Piazza Grande, dabei ist der richtig groß, und dann kacken dir voll gemein auch noch die Tauben auf den Kopf, du findest nicht einmal das Haus, wo du geboren bist, mit dieser Haustür aus völlig morschem altem Holz, wo die Holzwürmer ganze Wohnsiedlungen drin einrichten, ja das tun sie, und nach und nach alles in sich reinschlürfen, den Rost und den Schimmel fressen sie gleich mit, diese Holzwürmer. So was kann passieren. Ich meine, mir ist es auch so passiert, mir selber. Kann auch sein, es hat alles damit angefangen wie ich auf die Welt gekommen bin, zumindest nach dem was mir meine Mama erzählt hat, weil mein Vater weiß ich nicht mal, wer er ist und wo er jetzt lebt, ob er überhaupt noch am Leben ist, ob er gestorben ist als der elende arme Schlucker der er gewesen ist, weil er ja einer war, ein elender armer Schlucker der nur Pech hatte. Wer sich ihn erinnert, meint, er ist nach Amerika gegangen, nach Argentinien oder Barsilien, irgendwo hinterm Meer, aber ein großes Meer sagen sie, wie soll ich das denn wissen nach der ganzen Zeit. Wie groß wird es denn sein, dieses beschissene Meer? Was richtig Großes erzählen die Emigranten, dass die Wellen haushoch daherkommen und mit einem Schwapp ganze Schiffe und Dampfer verschlingen, und in manchen Nächten bei starkem Wind kotzen sich die Leute an Bord auch noch die Seele aus dem Leib, die Seele und die Erinnerungen und alles was sie hinter sich gelassen haben und das was noch kommt. Jedenfalls ward er seitdem nicht mehr gesehen und er hat auch keine Postkarte nicht geschrieben, kein Lebenszeichen von sich gegeben, und Geld hat er auch keins geschickt, dass man die Tage und den Bauch hätte füllen können. Gehungert haben wir, richtig gehungert, dass man sogar auf die Schafe eifersüchtig sein konnte, die hatten wenigstens ihr Gras. Vielleicht ist er auch gestorben, so was kommt vor, was weiß ich, ein Unglück, vielleicht von einem Baugerüst geflogen, das nur von Stoßgebeten und Wird-schon-gut-gehen-Sprüchen zusammengehalten war, oder ein Messerstich in ner Spelunke, ne schlimme Krankheit, oder er ist ins Meer gesprungen oder vor einen amerikanischen Zug. Woher soll ich das wissen, wo ich ihn doch nie gesehen und auch nie mit ihm geredet hab. Ich bin erst später gekommen. Mir hat meine Mutter gesagt, ich hab die gleichen Augen wie er. Das ist alles was ich weiß. Und seit ich ein kleiner Knirps war, ein ganz kleiner, und später, als ich etwas größer war auch, hab ich jedes mal wenn ich an einem Spiegel vorbeigekommen bin oder an einem Schaufenster, hab ich mich immer angeguckt, aber immer nur die Augen, um dahinterzukommen wie mein Vater ausgesehen hat, zumindest sein Geschau, wenigstens die Farbe seiner Augen. Auch als gestandener Mann ist mir das noch geblieben, wie ne Macke, eine Fantasie die ich immer mit mir herumtrage, aber es hat nichts gebracht, kein einziges Mal, nicht einmal wenn ich mich angestrengt und die Augen zugemacht habe um besser zu sehen. Nur ein Schatten ist mir geblieben zwischen den Fingern und im Herz, weil dem Herz war manchmal auch zum Heulen, vor allem nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte in Gedanken an diese schlimme Sache, keinen Vater zu haben, und mich zwischen den Decken hin- und hergewälzt und gerufen hab, aber leise, damit mich keiner hört, Papa, Papa, oh Pa. Wenigstens ein einziges Mal wollte ich ihn sehen, und dann alles nach dem Herrgott seinem Willen, Schöpfer des Himmels und der Erden, Amen. Dann überkam mich der Schlaf, aber geträumt hab ich nichts, zum Glück. Ein Glück war auch, dass ich den Namen meiner Mutter hatte, Bonfiglio. Denn so hat meine Mama geheißen, Bonfiglio, Maria Bonfiglio, Maria wie die Muttergottes, und so stand mein Name auch auf der Gemeinde, in einem Register mit schwarzer Tinte, und das o hatte ein Ringelschwänzchen ganz genauso wie bei denen, die einen richtigen Vater hatten, der da war, der sie in die Schule begleitete und ihnen ab und zu auch mal was schenkte. Also als ich geboren bin, sind diese Dinge passiert und noch viel anderes mehr, und vieles sollte noch passieren, was mir widerfahren ist, dieweil die Jahre nach und nach vergingen, wie lauter Wolken in allen Farben, weiße, violette, schwarze, rote, die Sonne ging auf und ging unter, und ab und zu kam ein Sturzregen, dass alle Meere vollliefen, alle Flüsse und alle Schlaglöcher der Welt, und die Gemüsegärten mit den Tomaten und den Kürbissen drin auch. So viel Regen hats auch gegeben als ich geboren bin, an nem Abend im August, wo am Himmel hinter den Wolken klar und deutlich das Zeichen des Löwen gewesen sein muss, was man aber nicht hat sehen können, weil es geschüttet hat wie aus Eimern, dass Petrus es nur so hat herunter prasseln lassen und ein Donnerwetter auf die Erde heruntergekracht ist, dass alle Viecher, Hunde und Katzen vom Angesicht der Erde verschwunden sind und die Vögel sich in ihre Nester verkrochen haben und keiner mehr geredet hat, nicht mal ein Stoßgebet zur Rettung der eigenen Seele. Es mag der Südwestwind gewesen sein oder der Libeccio, die Blitze zerfetzten jedenfalls den Himmel und der Donner ließ die Dächer erbeben, die Scheiben, die Häuser, die Herzen und die Ohren. Mein Opa, Nonno Peppe Bonfiglio, so erzählte es mir immer meine Mama Gotthabsieselig, hat unter Schreckgeschrei und Gezitter zwei Kerzen fest in der Hand gehalten, dass wenigstens ein bisschen Licht war, und hat in einem fort geflucht Wo bleibt verdammtnochmal dieser Esel von Don Nicola? Wo bleibt verdammtnochmal diese Hure von Commar’Elisa? Wobei Don Nicola der Gemeindearzt war und Commar’Elisa die Hebamme. Don Nicola spielte gern Karten und zwar mit jedem und allen, dem Bürgermeister, dem Pfarrer, dem Zöllner, dem Gemeindesekretär, aber mit dem nicht so oft, weil der ein Schwindler war und Punkte klaute, sagte Don Nicola immer, aber er spielte auch mit den Maurern und den Bauern, wenn die aus der Gegend heraufkamen, die Sachen vom Land zu verkaufen. Vielleicht war Don Nicola auch das eine Mal, als ich auf die Welt kommen sollte, im Wirtshaus, mit einem Glas Konjak und einer Zigarette im Mundwinkel, bei Kerzenschein, weil der Strom ausgefallen war, und da kannst du lange warten, wenn er keine Ansage für Herz bekam, bis der Lust kriegte, sich um meinen Mist zu kümmern. Und auch die Commar’Elisa machte unter all dem Wasser keine Anstalten, sich blicken zu lassen, bei den voll verschlammten Gassen und ohne das Licht der Laternen, oder vielleicht hatte sie selber ihre liebe Not, sie hatte ja auch einen Sohn, aber ohne Mann, wo sich die bösen Zungen das Maul zerrissen und spotteten, er sei der Sohn vom Heiligen Geist oder vom Baron Della Torre und Amen. Die einen sagten, der Vater, der ihr das Balg gemacht hatte, sei ins Ausland abgehauen, andere meinten, es sei einer, der schon verheiratet war, manche hielten den Pfarrer für den Vater des Kindes, zwar auch ein Don, aber Don Biagio allerdings. Dies Kind war so schön pummelig schon von Geburt an, und von seinen ersten Jahren an, wo es krabbelte und scharrte wie ein Besoffener der erst ganz ganz spät aus der Schenke herausfindet, nannten die Leute es Filippone, obwohl er Filippo hieß und klein war, dass man meinen konnte er kriegt nicht genug zu essen. Ich erinnere mich wie er groß geworden und schön und kräftig war, und weiß auch noch, wie sie ihn eines Tages, weil er so groß und schön und kräftig war, zum Militär eingezogen haben, ausgerechnet zu den Gebirgsjägern, und alle bewunderten ihn mitten auf der Piazza, als er mit seiner Alpini-Uniform mit dem Federhut zurückkam, und mit der Feder kitzelte er mich im Scherz und ich hatte Spaß am Kitzeln unter dem Kinn und hinter meinen Ohren, die auch ein bisschen abstehend waren, aber nicht so viel. Und Filippone war so groß, schön und kräftig, dass sie ihn ins Russenland schickten, ich erinnere mich daran, war ja schon fünfzehn, hatte schon ein bisschen Bart und Haare an den Beinen. An dem Tag weinten alle und nahmen Abschied und sagten ihm, Du musst den Krieg gewinnen, nur seine Mama und sein Hund blieben stumm, und die Leute fragten sich warum sie nicht weinten, wenigstens die Mama, weil von den Hunden weiß man ja, dass sie nicht weinen wie die Christenmenschen. Stattdessen nur ein Winken mit der Hand aus dem Fenster vom Postbus, der blau war und wo Vulcano draufstand, und keiner wusste wer das war, dieser Vulcano. Seitdem hat ihn keiner mehr in der Uniform gesehen, und auch nicht ohne, nicht mal seine eigene Mutter, die viele Jahre drauf gewartet hat, dass er zurückkommt, aber dem war nicht so, nicht einmal ein Brief, dass er verschollen ist, und die Mutter hat immer gespannt auf ihn gewartet und nach ihm Ausschau gehalten auf der Piazza, wie ein Vorstehhund, und nichts da, er ist nicht mehr aufgetaucht. Der Mutter sagte man, der Weg sei lang, voller Flüsse und Berge, vielleicht war sogar ein Meer zu überqueren, und wenn Filippone zu Fuß zurückkam, brauchte es einfach seine Zeit, ja die brauchte es. Am Ende war die Mutter das Warten leid, sie verrenkte sich die Hände und weinte alle Abende, auch im Sommer, und eines Tages dann, genauer eines Nachts, ist sie gestorben, und was sollte Filippone, der nur sie hatte als Familie, wo selbst der Hund gestorben war unter einem Lastwagen der auf dem Morgentau ins Schleudern geraten war, was sollte Filippone also zu Hause, und vielleicht ist er deswegen im Russenland geblieben auch wenn es dort fast das ganze Jahr kalt war, vielleicht sogar im Sommer schneite, sagten die die im Ausland gewesen waren, in Amerika, in Argentinien, in Barsilien, nur im Russenland nicht. Wie konnten sie das dann sagen? Wobei sie dann, ganz am Ende, doch noch gekommen sind, der Doktor und die Hebamme, aber ich war zwischen einer Verleugnung und der nächsten schon auf eigene Faust geboren, hatte schon geschrien und an der Brust genuckelt, machte schon das erste Schläfchen meines Lebens und vielleicht hab ich mir gedacht Das fängt ja gut an wie das anfängt, wobei wer weiß ob ich das schon denken konnte Das fängt ja gut an wie das anfängt, wo ich doch gerade erst geboren war. Das erzählten mir meine Mama und der Nonno, jedes mal wenn es regnete oder wenn ich Geburtstag hatte, und der Nonno fing, sobald er sich daran erinnerte, wieder an, alle zu verfluchen, Christus, die Heiligen, die Madonnen und auch den Duce, der zwar wenig zu suchen hatte in der Reihe von Sprechsünden, Käskopf nannte er ihn, und er leierte die ganze Liste des Heiligenkalenders und der Madonnen herunter, der an der Küchenwand hing, auch wenn er vom Jahr davor war, und meine Mutter bekreuzigte sich, er aber fluchte weiter bis ihm die Stimme versagte, da half kein Kreuzzeichen nicht, weil der Nonno auch noch Komunist oder Sozialist war, von Nennis Seite allerdings; stur war er wie ein Maulesel, er hatte ja keine Angst in die Hölle zu kommen, weil meinem Gefühl nach ist er direkt in die Hölle gefahren, mit dem Satan, den Mistgabeln, den Flammen, den reichen Landbesitzern und Geschäftsleuten, und mit dabei auch ein paar Päpste, so wie ich ihn sehe, wohin denn auch sonst, nachdem er gestorben ist, als Komunist oder Sozialist, wenn auch von Nenni einer, der er sein ganzes Leben lang gewesen ist ohne auch nur einen Deut abzuweichen? Also von mir aus und nach dem was man mir tausendmal erzählt hat, hat dieses Unwetter ja etwas bedeuten müssen, es war wie ne Art Vorwarnung für die Jahre danach. Es hätte vielleicht einen tüchtigen Hellseher gebraucht, um zu warnen, einen Rat zu geben, Schau, es erwarten dich schwierige Zeiten, sei auf der Hut, pass auf, wie du dich aufführst, halte es mit denen, die es besser draufhaben als du, und geh ihnen auch zur Hand, so was halt, dass einer sich drauf einstellen kann und aufpasst, beim tun und lassen was zu tun und zu lassen ist, und beim sagen auch. Aber nichts dergleichen. Denn, hört euch auch das an, ein paar Monate, nachdem ich geboren war, ging meiner Mutter die Milch aus, weil sie wenig Rotwein getrunken hatte, weil der macht die Milch, sagten die alten Weiber im Viertel, und so bin ich nicht recht gewachsen, da hätte es einen Krug Bier gebraucht ab und zu und Hühnerbrühe, ordentlich viel Bier und viel Brühe. Stattdessen war es ein Leben mit lauter Wegwarte und wildem Salat, ein paar Häppchen Käse, Fleisch zu Weihnachten und Ostern, aber nicht jedes Weihnachten und Ostern. So war das damals. Es mögen ja Redereien alter Leute gewesen sein, aber ich bin halt nicht gewachsen wie Filippone zum Beispiel, und wie ich langsam größer wurde, hab ich mich nach und nach arrangiert, und gefressen hab ich alles, Weißbrot und Schwarzbrot, gebratenen Kürbis, Stockfisch voller Gräten, aus den Weinbergen stibitzte Trauben, Steine ebenso, wie man so sagt, und so bin ich, auch wenn in diesem Haus an Hunger nie kein Mangel herrschte, dann ganz und gar nicht gestorben. Der Nonno allerdings ist ganz plötzlich gestorben, keiner hätte gedacht, dass er so abnippeln kann, von Knall auf Fall. Es war ein Nachmittag, da ist ihm ne Bohle aus dem Gerüst unter den Füßen weggebrochen, ein von Wind und Wetter zermorschtes Holz, dort auf der Baustelle, wo sie die neue Schule hochgezogen haben, und er ist runtergeflogen genau auf einen Stapel gerade abgeladener Ziegelsteine, und sein Kreuz, das eh schon ganz kaputt war, ist in tausend Stücke zersprungen, vielleicht auch mehr, und dann hat er noch den am Kreuz gestorbenen Christus verleugnet und war dann selber tot. Nur so hat der Nonno sterben können, im Verleugnen. Auf den Bau ist er gegangen, wo er doch schon ein ziemlich alter Knacker war, weil ja irgendwo was zu futtern hat herkommen müssen, und auch weil er ein tüchtiger Maurer war, der Mauern im Nu hochzog, und stark war er wie eine Eiche, trotz all der Jahre die er auf dem Buckel hatte, er hatte es noch drauf, ein halbes Schaf zu verschlingen und literweise Wein dazu, ohne mit der Wimper zu zuckern. Nur so konnte er sterben, oder von einem anderen Haudegen wie ihm über den Haufen geknallt, oder unter einem Zug, kurz, immer starker Tobak, nicht etwa ein übler Huster oder ein starker Dünnpfiff, der dir die Eingeweide rausfrisst. Und vielleicht war auch das ein Zeichen, mit den Katastrophen ist es wie mit den Kirschen, es kommt selten ein Unglück allein, wie die Stimmen die von weither kommen, um die Christenmenschen zu warnen, sie sollen sich in acht nehmen, still sein und s’Maul halten, weil das Leben einem übel zusetzen kann, da muss man sich rechtzeitig drauf einrichten, wie wenn du pechschwarze Wolken vom Meer her aufziehen siehst und du weißt, gleich wird es fürchterlich schütten und der Wind wird heftig brausen, dass es den Bäumen die Krone vom Kopf reißt. Wie wenn du so rausgehst, hübsch herausgeputzt wie am Ostermontag, ohne Schirm, Umhang und Stiefel, klar, dass du dann ganz begossen dastehst wie eine Vogelscheuche, dass du dir auch noch ne Lungenentzündung holen kannst, die kannst du dir holen. Nun könnte einer meinen, dass das eine wirklich vom Schicksal gebeutelte Familie war, die von Maria Bonfiglio, Nonno Peppe und Sohn Liborio, weil freilich war sie vom Pech verfolgt, wenn wir noch oben draufpacken, dass einen Monat nach dem Unglück auf dem Bau der Rauswurf aus der Wohnung dazukam. Weil dieses Aas von Don Vincenzo, Esel der er war, der mehr Wohnungen hatte als Haare im Arsch, wollte mehr Miete, sonst raus unter den Sternenhimmel. Also packst du das bisschen eigene Habe auf irgendeinen Handkarren, die paar Möbel, die alte Wollmatratze, wo die Schafe dieser Wolle schon seit über hundert Jahren tot waren, und findest einen Platz eine finstere Gasse hoch, zwei vom Schimmel dermaßen stickige Zimmer, die man nicht einmal dem Vieh zumuten konnte als Behausung, ein Sternenzelt wäre wirklich besser gewesen, wenigstens wär es nicht voller Löcher und Flicken gewesen á la Wer Gottes Beistand will, muss schon selber beten. Und dann fangen dir an die Knochen weh zu tun, dass du alle verdammten Tage heulen könntest, weil Don Vincenzo kriegte nie genug, mit seinem Wanst, der immer gut gesättigt war mit Maccheroni und Fleischklößchen, aber nie platzte, je mehr er in sich reinstopfte desto weniger platzte er. Über die Jahre musste ich da immer wieder dran denken, all die Scheiß Don hier und die Don da sind mir immer wieder in die Quere gekommen und haben mein Leben durchkreuzt, das ja gerade erst angefangen hatte, und Don Nicola und Don Biagio und Don Vincenzo, und es wird noch ein paar andere gegeben haben, die mir auf den Sack gegangen sind, ein Don nach dem andern, lauter verfickte hohe Herren, immer frisches Weißbrot auf dem Tisch, als wären sie verwandt gewesen oder eine Clique die es darauf angelegt hatte, den armen Leuten in ihrem Elend das eh schon saure Leben noch saurer zu machen. Und die Sache mit der Räumung sollte auch ein schwarzes Zeichen sein. So fing es meiner Mutter an schlecht zu gehen, nach und nach, ein Hustenanfall ab und an, aber das zog sich hin, bis sie dunkles Blut aufs Kissen spuckte, während sie die Böden der Herrenhäuser schrubbte, mit kaltem Wasser Wäsche wusch, um sich was zum essen zu verdienen, und derweil spuckte sie Blut, spuckte und redete nicht mehr, auch wenn sie mir abends Märchen und Geschichten erzählte, an die ich mich jetzt nicht mehr genau erinnere, und vielleicht ist es besser, dass ich sie vergessen habe, abgesehen von der Geschichte, dass ich die gleichen Augen hatte wie mein Papa. Weil das war ja auch ein weiteres schwarzes Zeichen, wie soll man da nicht stinksauer werden auf die Welt, den Himmel und die Erde, und auf die Pfaffen, die einen mit einem Pater unser und einem Gloria trösten wollten, und mit der Sache vom Paradeis und den Engeln auch, das roch schon damals nach Beschiss, auch wenn mir erst später aufgegangen ist, dass das alles eine Verarschung war. All diese schwarzen Zeichen, als ich noch auf allen vieren krabbelte und ständig Rotz an der Nase hatte und mich einpinkelte wie ein Tattergreis im Altersheim. Aber woher sollte ich Ahnung haben von schwarzen oder roten Zeichen, ich war doch keiner von denen, die aus dem Flug der Vögel oder aus dem Gekröse eines Schafs lesen können und dann wissen, was noch wird, da hätte es einen Hellseher gebraucht, hätte es, aber woher sollte ich wissen, was für ein Leben mich erwartete, und wo ist da außerdem der Reiz, wenn man vorher weiß, was kommt, weil dann freust du dich über nichts mehr und die Schmerzen spürst du auch schon vor der Zeit. Was hast du davon, wenns dir zweimal dreckig geht. Weil Zeichen hin oder her, Hellseher hin oder her, das Leben ist eh wie es ist, wies kommt kommts, und entweder kommst du damit klar oder du schickst alle zum Teufel. Aber der Vater der wie ein Vogel auf und davon fliegt und verloren geht, das Ungewitter zu meiner Geburt, Don Nicola und Commar’Elisa die nicht kommen, meine Mutter der die Milch ausgeht, Nonno Peppe den’s auf den Boden zerschmettert, und die Räumung und meine Mama die ein böses Blut spuckt und dies und jenes, wo es mir jetzt auch peinlich ist, gar alles aufzuzählen, weil alles von sich preiszugeben ist auch nicht in Ordnung, wer weiß was die Leute denken, am Ende versteht dich eh keiner und du stehst noch mutterseelenalleiner und blöder da als du eh bist. Vielleicht wollte der Herrgott mir was zu verstehen geben, aber dann, mein lieber Herr Gott, bitte klar schiffen, dann bleibt auch nix im Ungewissen. Woher sollte ich ahnen, der ich kaum ein Dreikäsehoch war, dass ein Windstoß langte, mich hinwegzufegen, und wer weiß wo man mich dann wieder aufgelesen hätte, dass das ganze Leben ein starker Sturm ist, manchmal mehr und manchmal weniger, aber immer ein Wind, der dich hin und her beutelt. Jetzt weiß ich’s wies läuft, und ich verstehe auch die Zeichen von damals, aber ich hab mitten durch den Sturm durch müssen, um zu kapieren, was Wasser und Wind heißt und was es heißt, wenn vom Schicksal die Rede ist, das schon geschrieben steht, aber um das lesen zu lernen braucht es ein ganzes Leben, und bis du’s gelernt hast, ist es zu spät und du kannst ja nicht umkehren, von wegen, nur vorwärts gehts voran, mit den Augen am Boden entlang und die Füße tun dir weh. Ja, ab und zu darfst du dich auch umdrehen und einen flüchtigen Blick auf die Trümmer werfen, die um dich rum niedergegangen sind, aber nur so, spaßhalber. Wo steht denn geschrieben, dass man, um die Dinge auf Erden zu erkennen, in die Wolken gucken muss und schauen, ob sie in der Form von einem Hund daherkommen, als Pferd, als Vogel, wo die dann am Himmel im Nu die Farbe wechseln und schwarz werden, rot und violett, hoch oder tief stehen, dass du nicht mal mehr weißt, wo dir der Kopf steht. So ist mir dann diese anheimelige Spinnerei in den Sinn gekommen und auch ans Herz gewachsen, all das zu erzählen, was mir passiert ist, seit ich geboren bin bis jetzt wo ich über achtzig Jahre alt bin, freilich das, was ich mich erinnere zwischen der einen und der anderen Besinnung, weil ich kann mich ja nicht an alles erinnern, was passiert ist und sich zugetragen hat. Also hab ich ein Heft mit lauter geraden Linien besorgt, dass ich nicht krumm schreibe, und hab losgelegt mit einem schönen schwarzen Bic-Kuli, der gut schreibt hier auf dem marmornen Küchentisch. Der ist kalt, und ich weiß auch nicht warum dieser Marmor und diese Kälte, weil bei einem Tisch mit Marmor drauf muss ich an den Tod denken. Hie und da denke ich an den Tod, auch wenn ich nicht am Tisch sitze, du brauchst dich nur umzuschauen und siehst, dass jeden Tag einer den Löffel abgibt, weil auch wenn du ihn nicht kennst, hängen da die Todesanzeigen, die extra für die Toten gemacht sind, du siehst sie, du liest sie und jedes mal tun sie dir ein bisschen leid, auch wenn dir der abgedruckte Name fremd ist. Ich denke auch mal an meinen Tod, aber nur wenig, einen Vogelschiss, aber jetzt will ich nicht dran denken, weil vorher hab ich diese meine Geschichte als Knallkopf zu Ende zu schreiben, das braucht seine Zeit die es braucht, weil achtzig Jahre sind kein Pappenstiel, auch wenn sie wie ein geölter Blitz vergangen sind, ohne dass ich’s gemerkt hab, und meine Hand ist halt auch wie sie ist. Deswegen schreib ich, schreib ich und schreib nochmal neu, so kann der Tod warten, auch wenn ich ihn manches Mal zu sehen meine, mit seiner schlohweißen Visage und den schwarz umrandeten Augen wie ein Herzkranker, und ich sag ihm, er soll noch ein paar Monate warten, wenigstens bis zur Weihnachtszeit, dann krieg ich wenigstens noch ein letztes Mal die Krippe zu sehen, die sie in der großen Kirche herrichten, und wenn mein Heft voll ist, melde ich mich dann bei ihm, ich geb ihm halt zu verstehen, dass ich bereit bin, denn so was kapiert der Tod im Flug, das brauchst du ihm nicht lang aufzubröseln. Er ist schließlich irgendwie auch ganz nett, er zeigt sich geduldig und nimmts dir ab und geht, und einmal, aber nur das eine mal, hat er sogar gelächelt, aber nur gerade angedeutet, halb verstohlen, hat gewunken mit seiner dürren Hand, und kaum hat er die Finger bewegt, um winke winke zu machen, haben sie mehrfach geknackt wie bei einem, dem die Arthrose in den Knochen sitzt und den es wetterwendisch überall sticht, wie die Stacheln einer Distel. Und wenn er dann gegangen ist, schnaufe ich erst einmal auf, zur Beruhigung, mach die Augen zu, um mich zu erinnern, an was ich mich erinnern soll, und schreibe weiter, aber langsam, weil wenn ich’s langsam angehe, hält mein Leben noch ein Weilchen länger an, und das ist ja auch nicht so schlecht.
Erinnerungen: keine. Nur ein Säuseln,
die Stimme des Meeres ist Erinnerung geworden.
cesare pavese, MATTINO, in: LAVORARE STANCA
Als ich klein war, wollte meine Mutter mich in die Schule schicken, weil ich bin gern in die Schule gegangen, als ich klein war. Am allermeistens mochte ich die Wörter, die in den Gedichten standen, am allermeistens in denen, wo Tiere vorkamen, Schafe, Pferde, Ochsen, Füchse, Wölfe, und dann gefielen mir die Zahlen, alle Zahlen, die großen und die kleinen und die zwischendrin. Manche Gedichte hab ich mir bis heute gemerkt, wenn auch nicht mehr ganz genau, etwa das eine mit der komischen jungen Stute, die nicht zurückkommt, oder das andere mit den Schäfern, die im September zu den Schafen sagen, Los, es ist jetzt Zeit, an die Küste zu ziehen, ins Flachland, aber am meistens musste ich bei dem Gedicht lachen, wo einer einen Ochsen liebt, aber mit richtig viel Gefühl, nur weiß ich jetzt nicht mehr, wie diese Geschichte ausgegangen ist, die mir weniger wie eine Liebesgeschichte vorgekommen ist, sondern eher wie eine Verarschung, weil die Liebe ja schon für Christenmenschen eine komplizierte Sache ist, ganz zu schweigen für einen Ochsen. Die Zahlen allerdings brachten mich noch mehr zum träumen als die Wörter, und ich habe Stunden damit zugebracht, die allergrößte Zahl der Welt zu schreiben, ne Reihe von Ziffern, die nie aufhörte, sodass mich manchmal der Schlaf überkam, ich schlief ein und träumte, die größte Zahl der Welt erfunden zu haben. Manchmal bekam ich das Kribbeln in den Fingern, und dann musste ich aufhören und hab dann am nächsten Tag weitergemacht, weil ich bin gern in die Schule gegangen, als ich klein war. Auch wenn ich heute immer noch nicht weiß, welche Zahl die größte der Welt ist. Mein Lehrer hieß Romeo Cianfarra und er kam von weither, aus einer Stadt im oberen Italien. Aber wie es ihn in unsere Gegend verschlagen hatte, das wusste man nicht und hat es auch nie erfahren. Es gab Gerüchte von politischen Sachen, weil damals durfte man nicht so viel sagen, nur der Duce konnte sagen was er wollte, und auch noch ein paar andere Granden konnten sagen was sie wollten. Vielleicht war Lehrer Cianfarra kein Grande und durfte das nicht sagen, vielleicht war ihm was rausgerutscht und jetzt war er dort, wo er war. Manche sagten, um dort zu sein, wo er war, musste er wohl ein bisschen Komunist gewesen sein, vielleicht mehr als Nonno Peppe, der immer auf den König schimpfte, diesen Wicht von König Säbelchen, wie er ihn nannte, und auch auf den Duce, der eine glatte Birne hatte wie ein Provolone-Käse, auch so was sagte er, nur nicht zu laut, denn der Feind hört mit, seid still, sagte er, und verkugelte sich selber vor lauter Lachen. In der Klasse waren wir mehr als dreißig Schüler, aber mich mochte er mehr als die anderen, der Lehrer Romeo Cianfarra. Denn in der vierten Klasse Grundschule oder war es die fünfte Klasse, das war gerade vor der Osterzeit mit Feiern, Essen und allem Drum und Dran, hat mir der Lehrer eines Tages das Buch Cuore geschenkt, das hatte einen schönen roten Einband aus harter Pappe, und auf der ersten Seite hatte er mit der Füllfeder, die wie Gold aussah, aber nicht aus Gold war, eine Widmung geschrieben, in der stand: Meinem Schüler Liborio Bonfiglio für sein künftiges Leben von Herzen, und drunter die Unterschrift Lehrer Romeo Cianfarra und das Datum 7. April 1936. Dieses Buch hab ich wie eine Reliquie gehegt und gepflegt und hundert Mal am Tag gelesen, so ungemein hat mir dieses Buch Cuore gefallen. Es kam mir vor, als wäre auch ich in der Klasse von Lehrer Perboni mit all den Jungens aus dem Buch. Am allermeistens gefiel mir Garrone, und Muratorino Hasenschnauze, Garoffi allerdings brachte mich zum lachen mit seinen Hosentaschen voller Krimskrams, aber Precossi und Nelli der Bucklige gingen mir aufs Gemüt, und auch Franti tat mir leid, weil der war ja nicht böse, er hatte nur Pech, vielleicht hatte ja auch er seine schwarzen Zeichen gehabt seit seiner Geburt. Manchmal kam mir der Gedanke, dass wenn der Lehrer Romeo Cianfarra nicht gewesen wäre, hätte auch ich wie Franti werden und dann in einer Besserungsanstalt landen können oder noch schlimmer auf einem Friedhof. Aber richtig unsympathisch, das weiß ich noch, waren mir die reichen Kinder wie Nobis und Derossi und auf den Keks ging mir auch dieser Bottini, Vater und Sohn, die sich Briefe schrieben, wo sie doch im selben Haus wohnten, und die waren zwei Arschgeigen, die suchten immer überall das Haar in der Suppe und gingen einem immer auf den Sack bei allem was geschah, bei jedem Wort, jedem blöden Umstand, immer den Rücken gerade und den Bauch rein, kam einem ja vor wie in einer Carabinieri-Kaserne bei den Bottini zu Hause, das macht man und das macht man nicht, ich meine, bei denen zu Hause waren die zehn Gebote bestimmt mehr als zehn. Aber dann waren da diese Geschichten, die man nie müde wurde zu lesen, die ich immer noch auswendig weiß wie Der kleine lombardische Kundschafter, Der kleine florentinische Schreiberling und Ferruccio und der sardische Tamburin, aber was mir das Herz zum hüpfen brachte war die Geschichte von dem Jungen aus Genua, der von Italien aus bis nach Argentinien fährt, um seine Mama wiederzufinden, und am Ende findet er sie auch, und mir fiel dann beim lesen mein Vater ein, der vielleicht auch dort unten in der Gegend war, und ich kam auf den Gedanken, die selbe Reise zu machen, um ihn wieder zu finden, wenigstens um zu sehen, ob es stimmte, dass er die selben Augen hatte wie ich oder ich wie er. Weil so sagte es mir meine Mama immer bis zum letzten Tag wo sie gestorben ist für immer. Und wie gern ich gelesen und mit Zahlen hantiert habe, in der Schule kam ich immer super gut voran, da mochten mich alle und meine Mama hat sich gefreut, und bei Feierlichkeiten musste ich die Fahne tragen oder in der ersten Reihe stehen oder ein Gedicht aufsagen, Bonfiglio Liborio, Hier!, in der Fünften war ich schon Balilla, nachdem ich bereits Figlio della lupa gewesen war, Wolfskind, Wölfchen, Lupetto. Libro e moschetto fascista perfetto, der Faschist gewinnt mit Lesebuch und Flint’, ich halt immer in der ersten Reihe, schwarzes Hemd und blaues Halstuch, graugrüne Hose, schwarze Schleife und Fez. Wo ich mir dann dachte, weil irgendwie musste ich lachen bei all den großen Worten und dem kleinen Holzgewehr, und alle am Duce, Duce rufen, dass wenn ich mich an Nonno Peppe erinnerte, den hätte wohl der Schlag getroffen, wenn er mich in diesem Aufzug gesehen hätte, dann dachte ich mir, zum Glück ist er gestorben, auch wenn es mir, kaum hatte ich’s gedacht, gleich leid getan hat, dass ich’s dachte. Den Tag kann ich allerdings nicht vergessen, das war am 9. Mai 1936. Da brannte eine schöne Sonne auf den Platz herunter, der voller Leute war, der Platz. Alle schön in Reih und Glied, mit sauberen Gesichtern, die keine Miene verzogen, kein Mucks, da waren die Figli della lupa, die Balilla, die Piccole italiane, die Avanguardisti, daneben die Giovani italiane, bis hin zu den größeren und gedrillten wie den Jungens der Fasci giovanili di combattimento und den Mädchen der Giovani fasciste. Alle in den Uniformen ihrer Einheit bei Turnübungen, Schwüngen, beim exerzieren mit den Holzgewehren, bei Sprüngen durch den Feuerring, und keiner lachte, nicht einmal zum Spaß. Die Mädchen aber trugen weiße Blusen und schwarze Röcke, drehten sich im Kreis, schwenkten die Fahnen und die flinksten hüpften und liefen. Auf dem Balkon der Casa di Conversazione standen der Federale, stocksteif, und der Parteisekretär mit der Visage eines grimmigen Bulldocks, die Schuldirektorin, deren unübersehbar üppige Brust bei jedem Atemzug anschwoll, dass der Präfekt seinen notgeilen Blick nicht davon lassen konnte, denn auch der Präfekt stand auf dem Balkon, und dann der Monsignore mit einem großen roten Band um den dicken Bauch und ein paar Pfaffen im Geleit, der Podestà mit Signora, die sich aufplusterte, weil ihr Mann Podestà war, und dann all die anderen hohen Herren der Stadt, solche die einen Einspänner mit Pferd in ihren Diensten hatten, manche sogar einen Kraftwagen, und die Gattinnen mit Perlenketten und Pelzmänteln, aber an dem Tag wars heiß und sie trugen nur die Perlen und die Armreife, und dann, um das Bild komplett zu machen, noch das eine oder andere eingeschlichene Weibsluder und haufenweise schwarze Männchen als Staffage, wo klar war, dass keiner ihnen Beachtung schenkte. Unten stand das gemeine Fußvolk, die weißen Taschentücher bereit zum schwenken, und wartete darauf, der tönenden Stimme des Duce zu lauschen. Zwei junge Kerle, die wie ausgewechselt waren im Sonntagsgewand, lachten und klopften sich gegenseitig auf die Schulter, und witzelten, dass nur noch Donn’Assunta fehlte, die Mätresse des Freudenhauses, wo ich dann später entdeckt habe, dass es Fickeleien für Geld bedeutete. Und auch die anderen lachten mit und zwinkerten sich zu. Ich kapierte zwar nichts, aber um nicht blöd dazustehen, lachte ich mit. An den vier Ecken der Piazza hatten die Arbeiter der Gemeinde vier große Lautsprecher aufgestellt, aus denen Musik und Lieder rieselten, damit die Zeit beim warten leichter verging, und derweil konnte man sich die große Fresse des Duce anschauen, die übergroß von der Vorderseite des Turms herunter hing, mit seinen schwarzen Augen, die jedem einzelnen ins Gesicht sahen, und den zusammengepressten Lippen, die nie lachten, obwohl doch Feiertag war. Aber die Musikkapelle war auch da, die konnte ja schließlich nicht fehlen, die spielte das Lied vom Piave, wo der Fremde nicht durchkommt zumm zumm, und dann Giovinezza giovinezza primavera di bellezza, Sole che sorgi libero e giocondo, Vincere vincere vincere, e vinceremo, wo die Leute dann dazu in die Hände klatschten, aber vor allem, um sich vor denen zu zeigen, die auf dem Balkon wie die Pfauen herumstolzierten, weniger weil ihnen danach gewesen wäre, in die Hände zu klatschen. Die Musikkapellanten waren auf zack, und auch der Kapellmeister hatte was drauf, weil ich hatte sie einmal gehört, Opernsachen zu spielen wie die Traviata, Rigoletto, die Bohèm, damals beim Fest der Muttergottes, das war schönere Musik, Sänger waren auch dabei, auch wenn man die Wörter nicht verstand, die sie sangen. Ich hatte an dem Tag jedenfalls das Lied von Aspetta e spera faccetta nera im Kopf behalten, ich hatte es auswendig gelernt, weil es mich so zum lachen brachte, und wenn es mir gelang, trötete ich mit dem Mund die Trompete nach und mit den Händen klatschte ich die Becken, ich versuchte praktisch, die Kapelle nachzuspielen, aber das gelang mir nicht immer, schließlich waren sie viele und ich war allein. Auf einmal kam dann plötzlich wie eine dunkle Wolke eine tiefe Stimme vom Himmel herunter, dass alle stumm wurden wie Kinder, die Angst kriegen von den Märchen mit Hexen, Unholden und Wäldern mit Wölfen drin. Auch ich bekam von der tiefen Stimme ein wenig das Knieschlottern, und um nicht zu viel Angst zu kriegen, summte ich mir im Geist Faccetta nera vor, aber ohne mit dem Mund die Trompete zu tröten, das wäre mir unpassend vorgekommen, wo unser Duce die Worte doch klar und deutlich skandierte, um dem Volk mitzuteilen, dass auch wir ein Kolonialreich hatten und nicht nur diese Armleuchter von Engländern, dass wir mit einem leuchtenden Schwert einen afrikanischen Sieg errungen hatten, der in die Geschichte des Vaterlandes eingehen sollte, dass dies der Traum der Legionäre war, von denen die überlebt und denen die ihr Leben gelassen hatten. Italien hat endlich sein Reich! An diesen Schrei kann ich mich noch genau erinnern, wie alles aufsprang wie ein Hosenknopf, und dann rief er noch einen Gruß dem König, und ich musste lachen, weil, war nicht meine Schuld, es fiel mir ein wie Nonno Peppe, Sozialist von Nennis Seite, immer gesagt hatte, Dieser Wicht von einem König, und auch, Der Duce hat eine glatte Birne wie ein Provolone-Käse, und ich dachte, dass vielleicht auch der Lehrer Romeo Cianfarra genauso dachte und wer weiß wie viele andere noch. Aber derweil spielte die Musikkapelle ihre Musik und mir reichte das, um mich wohlzufühlen und auch einmal froh zu sein, es genügte mir, mit dem Mund die Trompete zu tröten, und ich ängstigte mich nicht mehr wegen der zu vielen Erinnerungen, denn auch wenn ich erst zehn war, hatte ich schon meine Erinnerungen und die schwarzen Zeichen als wie ein Greis von über hundert Jahren. Außerdem war das mein letzter Festtag. Die Schule war bald zu Ende und ich hatte in dem Jahr noch die Prüfung der fünften Klasse und allemann sagten mir schon, dass ich ja nun ein großer Kerl bin, dass ich zu Hause mit anpacken sollte, was ja nur mich und meine Mama meinte, die schon mehr drüben als hüben war mit ihrem Husten, der einfach nicht aufhören wollte, nicht einmal mit der Medizin, auch nicht mit Gebeten an die Madonna, und den Flüchen auf alle Heiligen des Paradeises auch nicht. Einen Beruf sollte ich lernen, meinten sie, die Schule ist was für die reichen Leute. Aber mir gefiel es in der Schule und bei der Prüfung glänzte ich, ich verhaute keine einzige Frage und der Lehrer Romeo Cianfarra sagte es mir mit den Augen, dass er zufrieden und stolz war auf mich, ich Liborio Bonfiglio, Jahrgang 1926. Und ich kann mich noch richtig gut erinnern an diesen glorreichen Tag, es ist mir alles im Gedächtnis geblieben, der Aufsatz am ersten Tag, wo ich unter die Überschrift geschrieben habe Ausarbeitung, und die Überschrift war Mit dem Schiff um die Welt, ich hatte mir doch das ganze Vom Apennin zu den Anden reingezogen, also habe ich geschrieben, dass ich mit einem Schiff bis in das Land von Argentinien fahren wollte, um zu schauen, ob ich meinen Vater finden konnte, der vielleicht dort war, und um zu sehen, ob ich wirklich die gleichen Augen hatte wie er, wie es mir meine Mama immer sagte, und wenn sie es mir sagte, guckte sie so traurig drein wie ein Fisch, den man gerade aus dem Meer gefischt hat. Es wurde daraus wirklich ein schöner Aufsatz und der Lehrer Romeo Cianfarra streichelte mir sogar über den Kopf, um mir zu zeigen, dass es wirklich ein schöner Aufsatz geworden war. Und so habe ich auch in Erdkunde und in Geschichte einen guten Eindruck gemacht, vielleicht weil ich mit dem Dampfer nach Argentinien fahren wollte, und auch weil ich das Buch CuoreGiovinezza giovinezza primavera di bellezzaAmami AlfredoDi quella pira l’orrendo focoChiamatemi MimìFaccetta neraAspetta e spera faccetta nera Faccetta neraBella ciao ciao ciaoSu fratelli, su compagne, su, venite in fitta schiera Amami AlfredoFigaro qua Figaro làE muoio disperatoDi quella pira l’orrendo focoTraviataRigolettoTraviataAmami AlfredoAll’alba vincerò, vincerò, vinceròòòòò!