Über das Buch

„Lesen ist wie Reisen, es eröffnet neue, unbekannte Welten.“ 

London, 1939. Die junge Grace kommt in die vom Krieg gebeutelte Metropole, ihr größter Wunsch ist es, endlich ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. In einem kleinen Buchladen in Primrose Hill findet sie eine Anstellung. Sie hat alle Hände voll damit zu tun, Ordnung in den Laden zu bringen und es den Menschen trotz der Kriegswirren zu ermöglichen, Bücher zu kaufen. Als ihr ein ganz besonderes Buch geschenkt wird, taucht sie plötzlich in eine Welt ein, die ihr zuvor immer verschlossen war, und findet den Mut, auch in den dunkelsten Zeiten nicht die Hoffnung aufzugeben. 

Herzerwärmend und very British: eine zauberhafte Geschichte über die Liebe zu Büchern

Über Madeline Martin

Madeline Martin ist New-York-Times-Bestsellerautorin. Sie hat ihre Kindheit in Deutschland verbracht und liebt es, sich für die Recherche ihrer Bücher in der Bibliothek zu vergraben. Mit ihren zwei Töchtern, einer sehr verwöhnten Katze und ihrem Mann lebt sie in Florida.



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Madeline Martin

Der Buchladen von Primrose Hill

Roman

Aus dem Amerikanischen von Nina Restemeier

Für die Autorinnen und Autoren all der Bücher,
die ich je gelesen habe. Danke für das Wissen,
das sie mir vermittelt haben, und die Möglichkeit,
der Welt zu entfliehen.
Ihr habt mich zu der gemacht, die ich bin.

Kapitel 1

London, Ende August 1939

Grace Bennett hatte schon immer davon geträumt, in London zu leben. Doch sie hätte niemals geglaubt, dass ihr einmal keine andere Wahl bliebe, noch dazu am Vorabend des Krieges.

Der Zug hielt im U-Bahnhof Farringdon. Weiß auf Blau vor einem roten Kreis prangte der Name an der Wand. Die Menschen auf dem Bahnsteig hatten es genauso eilig einzusteigen, wie die Passagiere aus den Abteilen hinauszukommen. Alle wirkten schick und großstädtisch in ihrer modisch geschnittenen Kleidung. Viel eleganter als in Drayton, Norfolk.

Eine Mischung aus Angst und Vorfreude durchströmte Grace. »Wir sind da!« Sie schaute ihre Freundin an.

Viv verschloss klickend ihren Lippenstift und schenkte Grace ein frisch aufgetragenes zinnoberrotes Lächeln. Dann spähte sie aus dem Fenster und ließ den Blick über die Reklameplakate wandern, die dicht an dicht an der gewölbten Wand hingen. »So lange haben wir uns gewünscht, in London zu leben.« Sie nahm Grace’ Hand und drückte sie kurz. »Und jetzt sind wir hier.«

Schon als Mädchen hatten sie sich ausgemalt, das langweilige Drayton zu verlassen und in die aufregende Stadt zu ziehen. Damals war es ein unerhörter Gedanke gewesen, das gleichförmige, vertraute Leben auf dem Land gegen das geschäftige, schnelllebige Treiben in London zu tauschen. Niemals hätte Grace es für möglich gehalten, dass sie einmal dazu gezwungen sein würde.

Doch in Drayton blieb ihr nichts mehr. Zumindest nichts, wohin sie gerne zurückgekehrt wäre.

Die jungen Frauen erhoben sich von den gepolsterten Sitzen und griffen nach ihrem Gepäck. Jede hatte nur einen Koffer, verblichen und mehr vom Alter als vom häufigen Gebrauch gezeichnet. Beide waren bis zum Bersten vollgestopft und unglaublich schwer. Dazu kamen die unhandlichen Schachteln mit den Gasmasken, die ihnen an Riemen von der Schulter baumelten. Die grässlichen Dinger mussten sie auf Anweisung der Regierung überallhin mitnehmen, um im Falle eines Gasangriffes geschützt zu sein.

Zum Glück war die Britton Street bloß zwei Gehminuten entfernt, zumindest hatte das Mrs Weatherford, eine Jugendfreundin ihrer Mutter, gesagt.

Sie hatte ein Zimmer zu vermieten, und vor einem Jahr, als Grace’ Mutter gestorben war, hatte sie Grace vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Es war ein großzügiges Angebot: Die ersten zwei Monate, solange Grace eine Arbeitsstelle suchte, wären mietfrei, anschließend würde sie ihr das Zimmer zu einer reduzierten Miete überlassen. Doch so gern Grace in London leben wollte, und so begeistert Viv sie darin bestärkt hatte, war sie noch fast ein Jahr in Drayton geblieben und hatte versucht, die Scherben ihres Lebens aufzusammeln.

Das war, bevor sie erfahren hatte, dass das Haus, in dem sie aufgewachsen war, in Wahrheit ihrem Onkel gehörte. Bevor er mit seiner herrschsüchtigen Frau und den fünf Kindern dort eingezogen war. Bevor die Welt, die sie gekannt hatte, in unzählige Splitter zerborsten war.

In ihrem Zuhause gab es keinen Platz mehr für Grace, wie ihre Tante nicht müde wurde zu betonen. An dem Ort, der für Geborgenheit und Liebe stand, war sie nicht mehr willkommen. Und als ihre Tante schließlich die Frechheit besaß, sie zum Gehen aufzufordern, wusste sie, dass sie keine Wahl hatte.

Also hatte sie Mrs Weatherford einen Brief geschrieben und sie gefragt, ob das Angebot noch gelte. Das war das Schwerste gewesen, was sie jemals hatte tun müssen. Sie fühlte sich wie eine elende Versagerin, die vor Herausforderungen einknickte.

Grace war nie sonderlich wagemutig gewesen. Selbst jetzt noch fragte sie sich, ob sie es ohne Viv, die darauf bestanden hatte, sie zu begleiten, überhaupt bis nach London geschafft hätte.

Aufregung kribbelte in ihr, während sie darauf warteten, durch die glänzenden Metalltüren eine völlig neue Welt zu betreten.

»Es wird fabelhaft«, flüsterte Viv. »Alles wird so viel besser werden, Grace. Das verspreche ich dir.«

Zischend glitten die Türen des Zuges auf, und sie traten mitten hinein ins Gewimmel auf dem Bahnsteig.

An der gegenüberliegenden Wand zeigte eine Reklame für Chesterfield-Zigaretten einen gutaussehenden rauchenden Rettungsschwimmer, während das Plakat daneben die Männer Londons aufforderte, sich dem Militär anzuschließen.

Das erinnerte Grace nicht nur daran, dass ein Krieg drohte, sondern auch, dass es in der Stadt deutlich gefährlicher war als auf dem Land. Wenn Hitler England angriffe, würde er mit Sicherheit London ins Visier nehmen.

»Oh, Grace, schau mal«, rief Viv.

Grace drehte sich um und sah die stählerne Treppe, die an einem unsichtbaren Band aufwärts glitt und irgendwo oberhalb der gewölbten Decke verschwand. Hinauf in die Stadt ihrer Träume.

Als sie und Viv auf die Rolltreppe zueilten, hatte sie das Plakat schon wieder vergessen. Mühelos ging es immer weiter hinauf, hinauf, hinauf, und sie mussten sich anstrengen, ihre Begeisterung im Zaum zu halten.

Viv straffte die Schultern, sie konnte ihre Freude kaum verbergen. »Habe ich dir nicht gesagt, dass es ganz fabelhaft wird?«

Und endlich ließ sich Grace von ihrer Begeisterung anstecken: Nun waren sie tatsächlich in London!

Fort von ihrem herrischen Onkel, nicht mehr unter der Fuchtel von Vivs strengen Eltern.

Trotz all ihrer Sorgen schwebten sie und Viv aus der U-Bahn-Station wie zwei Vögel, die endlich ihren Käfig verlassen haben und drauf und dran sind, davonzufliegen.

Um sie herum ragten überall hohe Häuser auf, und Grace musste die Augen vor der Sonne abschirmen, um die Dächer sehen zu können. In den Schaufenstern strahlten ihnen die bunt bemalten Schilder von Cafés, Friseuren und sogar einer Apotheke entgegen. Lastwagen ratterten vorbei, und in die Gegenrichtung rumpelte ein Doppeldeckerbus, der genauso rot glänzte wie Vivs Fingernägel. Beinahe hätte Grace ihre Freundin am Arm gepackt und »Schau mal« gequietscht. Viv staunte auch, mit großen, glänzenden Augen. Genau wie Grace wirkte sie wie ein ehrfürchtiges Landei, trotz ihres eleganten Kleids und der perfekt frisierten kastanienbraunen Locken.

Grace war nicht so schick, obwohl sie zur Feier des Tages ihr bestes Kleid angezogen hatte. Es reichte ihr bis knapp unter die Knie und wurde an der Taille von einem schmalen schwarzen Gürtel zusammengehalten, der zu ihren flachen Schuhen passte. Es war nicht so modern wie Vivs schwarz-weiß gepunktetes, aber der hellblaue Baumwollstoff brachte ihre grauen Augen und die blonden Haare zur Geltung.

Wie die meisten ihrer Kleidungsstücke hatte Viv auch das selbst genäht. Die Freundinnen hatten Stunden damit verbracht, zu nähen und sich die Haare zu frisieren, jahrelang Woman und Woman’s Life über Mode und Etikette gelesen und einander wieder und wieder verbessert, um endlich den Drayton-Akzent loszuwerden.

Inzwischen sah Viv mit ihren hohen Wangenknochen, braunen Augen und langen Wimpern aus, als wäre sie einem dieser Magazine entsprungen.

Grace ging voraus. Glücklicherweise war die Wegbeschreibung aus Mrs Weatherfords letztem Brief ausführlich und leicht zu verstehen. Nur davon, dass ihnen sogar auf ihrem kurzen Weg überall die Anzeichen des nahenden Krieges begegnen würden, hatte in dem Brief nichts gestanden.

Einige Plakate forderten die Männer dazu auf, ihren Teil beizutragen, andere schlugen den Menschen vor, Hitler und seine Drohungen gar nicht zu beachten und dennoch ihren Sommerurlaub zu buchen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite säumten aufgetürmte Sandsäcke ein Tor mit einem schwarzweißen Schild, das das Gebäude als öffentlichen Luftschutzraum auswies.

Wie angekündigt erreichten sie zwei Minuten später die Britton Street und fanden sich vor einem Reihenhaus aus rotem Backstein wieder. Es hatte eine grüne Tür mit einem glänzenden Klopfer aus Messing, und auf dem Fensterbrett stand ein Blumenkasten mit weißen und violetten Petunien. Der Beschreibung zufolge war es unzweifelhaft Mrs Weatherfords Haus. Ihr neues Zuhause.

Mit wippenden Locken stürmte Viv die Stufen hinauf und klopfte. Grace folgte ihr aufgeregt. Mrs Weatherford war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen und hatte sie mehrmals in Drayton besucht, als Grace noch ein Kind war.

Sie hatten sich angefreundet, als Mrs Weatherford noch in Drayton wohnte, und nachdem sie fortgezogen war, überdauerte ihre Freundschaft nicht nur den Großen Krieg, in dem beide den Ehemann verloren, sondern auch die Krankheit, die Grace’ Mutter schließlich hinwegraffen sollte.

Mrs Weatherford erschien in der Tür. Sie wirkte älter, als Grace sie in Erinnerung hatte. Sie war noch immer rundlich mit roten Apfelwangen und funkelnden blauen Augen, aber trug mittlerweile eine runde Brille, und ihr dunkles Haar war von silbernen Strähnen durchzogen. Als Erstes fiel ihr Blick auf Grace. Sie seufzte leise. »Grace, du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Beatrice war so hübsch mit ihren grauen Augen.« Die ältere Frau öffnete die Tür weiter und gab den Blick auf ihr weißes Baumwollkleid mit blauem Blumenmuster und dazu passenden blauen Knöpfen frei. Der Flur hinter ihr war schmal, aber aufgeräumt, und wurde fast vollständig von der Treppe zum Obergeschoss eingenommen. »Bitte, kommt doch herein.«

Grace bedankte sich murmelnd für das Kompliment und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie ihre Mutter immer noch vermisste. Sie schleppte ihren Koffer über die Türschwelle ins warme Haus, in dem es köstlich nach Fleisch und Gemüse duftete. Grace lief das Wasser im Mund zusammen. Seit ihre Mutter gestorben war, hatte sie keine anständige Hausmannskost mehr gegessen. Zumindest keine gute. Ihre Tante war keine sonderlich begabte Köchin, und Grace war im Laden ihres Onkels viel zu beschäftigt gewesen, um sich selbst etwas Ordentliches zu kochen.

Ein cremeweißer Teppich mit pastellfarbenen Blumen dämpfte ihre Schritte. Er war sauber, wenn auch an manchen Stellen ein wenig abgewetzt.

»Vivienne«, sagte Mrs Weatherford zu Viv, die Grace ins Haus folgte.

»Meine Freunde nennen mich Viv.« Sie setzte ihr unvergleichlich bezauberndes Viv-Lächeln auf.

»Was für Schönheiten ihr doch geworden seid. Ich wette, ihr bringt meinen Jungen zum Erröten.« Mrs Weatherford bedeutete ihnen, ihre Koffer abzustellen. »Colin«, rief sie die Holztreppe hinauf. »Kümmere dich um das Gepäck der Damen, während ich Tee mache.«

»Wie geht es Colin?«, fragte Grace höflich.

Er war wie sie ein Einzelkind und nach dem Krieg ohne Vater aufgewachsen. Obwohl er zwei Jahre jünger war als sie, hatten sie als Kinder zusammen gespielt. Sie dachte gern an diese Zeit zurück. Colin war immer so sanftmütig gewesen, hinter seinen scharfen, intelligenten Augen verbarg sich ein freundliches Wesen.

Mrs Weatherford hob resigniert die Hände. »Er will immer noch die Welt retten und bringt ein Tier nach dem anderen nach Hause.« Ihr amüsiertes Lachen verriet, dass es ihr nicht so viel ausmachte, wie sie behauptete.

Während sie auf Colin warteten, sah Grace sich im Hausflur um. Neben der Treppe befand sich ein Tischchen mit einem glänzenden schwarzen Telefon. Die Tapete aus fröhlichem blau-weißen Brokat war ein wenig verblichen und passte zu den weißen Türen und Türrahmen. Alles war schlicht, aber tadellos sauber. Grace war überzeugt, dass sie im ganzen Haus nicht ein einziges Staubkörnchen finden würde.

Ein Knarzen erklang, und auf der Treppe erschien ein großer, schlanker Mann. Seine dunklen Haare waren ordentlich gekämmt, und er trug ein Hemd und eine braune Hose. Er lächelte schüchtern, was seine Gesichtszüge weicher machte und ihn jünger wirken ließ als seine einundzwanzig Jahre. »Hallo, Grace.«

»Colin?«, fragte sie ungläubig. Er war fast einen Kopf größer als sie, überragte sie so wie sie ihn früher.

Er errötete. Seine Reaktion war herzerwärmend, und es freute sie, dass er sich in all den Jahren seine Liebenswürdigkeit bewahrt hatte. Sie blickte zu ihm auf. »Du bist eindeutig gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

Er zuckte verschämt mit den schmalen Schultern, ehe er Viv zunickte, mit der er ebenfalls als Kind gespielt hatte, da die beiden Mädchen unzertrennlich gewesen waren. »Viv! Willkommen in London. Mum und ich haben uns schon auf euch gefreut.« Er grinste Grace zu, dann bückte er sich nach den Koffern der beiden jungen Frauen. Er zögerte. »Darf ich euch die abnehmen?«

»Gerne«, erwiderte Viv. »Danke, Colin.«

Er nickte, nahm in jede Hand einen Koffer und trug sie mühelos die Treppe hinauf.

»Wisst ihr noch, wie Colin und ich euch besucht haben?«, fragte Mrs Weatherford.

»Natürlich«, sagte Grace. »Er ist noch genauso wie früher.«

»Nur viel größer«, ergänzte Viv.

Mrs Weatherford schaute ihm bewundernd nach, als könnte sie ihn immer noch sehen. »Ein guter Junge. Kommt, trinken wir einen Tee, und dann zeige ich euch das Haus.«

Sie bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und öffnete die Küchentür. Vom Fenster über der Spüle fiel Licht durch hauchdünne weiße Vorhänge herein. In der kleinen Küche war alles genauso makellos wie im Flur, und der Essensduft war hier noch verlockender.

Sie deutete auf ein Tischchen mit vier weißen Stühlen und nahm den Wasserkessel vom Herd. »Da hat sich dein Onkel ja einen schönen Zeitpunkt ausgesucht, um Anspruch auf dein Haus zu erheben. Ausgerechnet, wenn uns ein Krieg bevorsteht.« Sie trug den Kessel zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf. »Das ist so typisch für Horace«, verkündete sie mit offenkundiger Abscheu. »Beatrice hatte befürchtet, dass er etwas Derartiges versuchen könnte, aber ihre Krankheit kam so plötzlich …«

Mrs Weatherford warf einen raschen Blick auf Grace. »Aber was rede ich da? Ihr seid doch gerade erst angekommen. Es ist so schön, dass ihr da seid. Ich wünschte nur, es wäre unter erfreulicheren Umständen.«

Grace biss sich auf die Unterlippe und wusste nicht, was sie antworten sollte.

»Sie haben ein wunderschönes Haus, Mrs Weatherford«, beeilte sich Viv zu sagen.

Grace warf ihr einen dankbaren Blick zu, den Viv mit einem verschwörerischen Zwinkern beantwortete.

»Danke.« Die ältere Frau sah sich lächelnd in ihrer sonnendurchfluteten Küche um. »Es gehörte seit Generationen der Familie von meinem Thomas. Es ist nicht mehr so gut in Schuss, wie es einmal war, aber man tut, was man kann.«

Grace und Viv setzten sich. Die Kissen, auf denen Zitronen prangten, waren so dünn, dass man das harte Holz darunter spürte. »Wir sind so dankbar, dass wir hier unterkommen können. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Das ist doch nicht der Rede wert.« Mrs Weatherford stellte den Kessel auf den Herd und drehte am Knopf, der die Gasflamme entzündete. »Für die Tochter meiner besten Freundin würde ich alles tun.«

»Meinen Sie, es wird schwierig, Arbeit zu finden?«, fragte Viv. Auch wenn sie sich um einen unbeschwerten Tonfall bemühte, wusste Grace, wie sehr sie sich wünschte, eine Anstellung als Verkäuferin zu finden.

Auch Grace fand die Vorstellung verlockend. Wie glamourös es wäre, in einem Kaufhaus zu arbeiten, vielleicht in einem großen und edlen wie Woolworths, dessen Verkaufsflächen sich auf mehreren Etagen über die Länge eines ganzen Blocks erstreckten.

Mrs Weatherford lächelte geheimnisvoll. »Wie es der Zufall will, bin ich mit einigen Ladenbesitzern in London bekannt. Ich kann euch bestimmt behilflich sein. Und Colin arbeitet bei Harrods. Er könnte dort ein gutes Wort für euch einlegen.«

Vivs Augen leuchteten vor kaum verhohlener Begeisterung, als sie tonlos den Namen des Kaufhauses wiederholte.

Mrs Weatherford griff nach einem gelben Geschirrtuch und nahm einen Teller von der Spüle, um die letzten Tropfen abzuwischen. »Ich muss sagen, man hört euch nicht an, dass ihr aus Drayton kommt.«

Viv reckte das Kinn ein wenig höher. »Dankeschön. Wir haben auch viel geübt. Hoffentlich hilft es uns dabei, Arbeit zu finden.«

»Wie reizend.« Mrs Weatherford öffnete einen Schrank und stellte den Teller hinein. »Ihr habt doch sicherlich Empfehlungsschreiben?«

Viv hatte sich am Tag vor ihrer Abreise nach London auf einer geborgten Schreibmaschine selbst eins ausgestellt. Sie hatte auch für Grace eins schreiben wollen, aber die hatte abgelehnt.

Mrs Weatherford widmete sich wieder dem Geschirr. Viv sah Grace mit hochgezogener Augenbraue an, offenbar war sie der Meinung, Grace hätte das Angebot annehmen sollen.

»Natürlich«, antwortete Viv für sie beide, zweifellos schmiedete sie bereits den Plan, ein zweites für Grace zu verfassen.

»Viv hat eines«, berichtigte Grace. »Ich leider nicht. Mein Onkel hat sich geweigert, mir für die Zeit, die ich bei ihm gearbeitet habe, eines auszustellen.«

Das war seine letzte Demütigung gewesen, die Vergeltung dafür, dass sie »den Laden im Stich ließ«, in dem sie viele Jahre gearbeitet hatte. Es kümmerte ihn nicht, dass seine Frau es gewesen war, die Grace weggeschickt hatte, er sah nur, dass er Grace von nun an nicht mehr herumkommandieren konnte.

Der Kessel stieß ein schrilles Pfeifen aus, und aus der Tülle stieg Dampf auf. Mrs Weatherford nahm ihn vom Herd und stellte ihn auf einen Untersetzer.

Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, löffelte Teeblätter in eine Teekugel und goss das heiße Wasser in die Kanne. »Das ist eine Schande, wirklich eine Schande«, schimpfte sie vor sich hin, während sie die Teekanne auf ein silbernes Tablett stellte, auf dem schon drei Tassen, eine Zuckerdose und ein Sahnekännchen standen. Mit einem resignierten Stirnrunzeln musterte sie Grace. »Ohne so ein Schreiben wird dich kein Kaufhaus einstellen.«

Grace ließ den Kopf hängen. Vielleicht hätte sie Viv doch erlauben sollen, ihr eins zu fälschen.

»Allerdings«, fügte Mrs Weatherford langsam hinzu, während sie das Tablett zum Tisch trug und ihnen allen eine dampfende Tasse einschenkte, »kenne ich ein Geschäft, wo du sechs Monate arbeiten könntest, um dir ein ordentliches Empfehlungsschreiben zu verdienen.«

»Egal, was es ist, Grace wäre perfekt dafür.« Viv nahm ein Stück Zucker aus der Schale und ließ es in ihre Tasse fallen. »Sie hatte in der Schule immer die besten Noten. Vor allem im Rechnen. Den Laden ihres Onkels hat sie praktisch allein geführt und sogar noch erfolgreicher gemacht.«

»Dann glaube ich, dass das sehr gut passen wird.« Mrs Weatherford trank einen Schluck Tee.

Irgendetwas berührte Grace am Schienbein. Sie schaute hinunter und entdeckte eine junge getigerte Katze, die sie mit großen bernsteinfarbenen Augen auffordernd ansah.

Grace streichelte dem Kätzchen sanft über das zarte Fell hinter den Ohren und erhielt ein Schnurren zur Antwort.

»Sie haben ja eine Katze.«

»Nur noch ein paar Tage, ich hoffe, das stört euch nicht.« Mrs Weatherford wollte das Tierchen verscheuchen, aber es blieb beharrlich neben Grace sitzen.

»Der Racker ist nicht aus der Küche zu vertreiben, wenn er Essen riecht.« Verdrossen musterte Mrs Weatherford den Kater, der sie ohne Scham oder Reue anschaute. »Colin hat ein Händchen für Tiere. Wenn ich ihm erlaubt hätte, jeden Streuner zu behalten, den er aufgelesen hat, dann hätten wir hier schon einen richtigen Zoo.« Ihr Lachen verwirbelte den Dampf, der von ihrer Teetasse aufstieg.

Der Kater rollte sich auf den Rücken, so dass ein weißer Fleck auf seiner Brust erkennbar wurde. Grace kraulte die Stelle und spürte sein rhythmisches Schnurren unter ihren Fingerspitzen. »Wie heißt er?«

»Tiger.« Mrs Weatherford verdrehte spöttisch die Augen. »Mein Sohn ist deutlich besser darin, Tiere zu retten, als Namen für sie zu finden.«

Wie aufs Stichwort erschien in diesem Augenblick Colin in der Küche. Tiger sprang auf und tapste zu seinem Retter hinüber. Colin nahm ihn sanft in die großen Hände, und der Kater schmiegte sich zutraulich an ihn.

Dieses Mal war es ihr Sohn, den Mrs Weatherford verscheuchen musste. »Raus mit ihm.«

»Verzeihung, Mum.« Colin lächelte Grace und Viv entschuldigend an, dann verschwand er, den Kater an die Brust gedrückt, aus der Küche.

Mrs Weatherford blickte ihm mit liebevoller Belustigung nach und schüttelte den Kopf. »Ich werde nachher bei Mr Evans vorbeigehen und dafür sorgen, dass du eine Stelle in seinem Laden bekommst.« Sie lehnte sich zurück und schaute seufzend aus dem Fenster.

Grace folgte ihrem Blick in den Garten hinaus, wo neben einem traurigen Haufen ausgerissener Blumen und einem Stapel Wellblech ein gähnendes Loch in der Erde klaffte. Hier sollte vermutlich ein Anderson-Bunker entstehen.

In Drayton, wo die Gefahr eines Luftangriffes nicht sonderlich hoch war, hatte Grace bisher keinen zu Gesicht bekommen, aber sie hatte gehört, dass in mehreren Städten Bausätze für solche Unterstände ausgegeben worden waren. Es handelte sich um kleine Wellblechhütten, die man im Garten eingrub und mit Sandsäcken bedeckte, um darin im Falle von deutschen Luftangriffen Schutz zu suchen.

Ein Schauer lief Grace den Rücken hinunter. Warum nur hatte sie ausgerechnet so kurz vor einem Krieg nach London kommen müssen?

Doch nach Drayton zurückzukehren war auch keine Option. Lieber stellte sie sich der Gefahr hier, wo sie willkommen war, als sich mit der Feindseligkeit ihres Onkels auseinandersetzen zu müssen.

Auch Viv spähte neugierig aus dem Fenster, wandte aber sofort den Blick ab. Nach ihrer Jugend auf einem Bauernhof war sie, wie sie es ausdrückte, »endgültig fertig mit dem Dreck.«

Mrs Weatherford seufzte erneut und trank noch einen Schluck Tee. »Das war einmal ein so schöner Garten.«

»Und das wird er irgendwann auch wieder«, tröstete Grace sie, und es klang zuversichtlicher, als sie tatsächlich war. Denn falls es zu Luftangriffen käme, würde der Garten dann jemals wieder so werden wie zuvor? Oder sie selbst?

Solche Gedanken spukten ihr im Kopf herum und warfen einen unheimlichen Schatten. »Mrs Weatherford«, sagte sie unvermittelt, weil sie nicht länger über Krieg und Bomben nachdenken wollte. »Darf ich fragen, was für eine Art Geschäft Mr Evans führt?«

»Aber natürlich, meine Liebe.« Klappernd stellte Mrs Weatherford ihre Teetasse auf der Untertasse ab, ihre Augen funkelten begeistert. »Einen Buchladen.«

Grace versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Mit Büchern kannte sie sich nicht aus. Sie hatte keine Muße zum Lesen gehabt, viel zu beschäftigt war sie damit gewesen, im Laden ihres Onkels Geld für sich und ihre Mutter zu verdienen. Und dann war ihre Mutter krank geworden …

In Onkel Horace’ Geschäft war sie zurechtgekommen, denn Haushaltsgegenstände waren etwas, das sie selbst benutzte. Es fiel ihr leicht, Teekessel, Geschirrtücher, Vasen und andere Waren, mit denen sie sich auskannte, zu verkaufen. Aber über Literatur wusste sie nichts. Nun, so ganz stimmte das nicht. Sie erinnerte sich an die Ausgabe von Grimms Märchen, die ihre Mutter besessen hatte, mit einer hübschen Prinzessin auf dem Umschlag. Wie gern hatte sie sie sich die bunten Illustrationen angeschaut, während die Stimme ihrer Mutter die zauberhaften Geschichten zum Leben erweckte. Doch abgesehen von den Märchen hatte sie nie Zeit zum Lesen gefunden.

»Wunderbar!« Grace lächelte strahlend, um ihr Unbehagen zu verbergen. Sie würde sich schon arrangieren. Alles war besser, als im Laden ihres Onkels zu arbeiten.

Aber wie sollte sie etwas verkaufen, wovon sie so wenig verstand?