Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
    1. Prolog
  6. TEIL 1
    1. Kapitel 1
    2. Kapitel 2
    3. Kapitel 3
    4. Kapitel 4
    5. Kapitel 5
    6. Kapitel 6
    7. Kapitel 7
    8. Kapitel 8
    9. Kapitel 9
    10. Kapitel 10
    11. Kapitel 11
    12. Kapitel 12
    13. Kapitel 13
    14. Kapitel 14
    15. Kapitel 15
  7. TEIL 2
    1. Kapitel 16
    2. Kapitel 17
    3. Kapitel 18
    4. Kapitel 19
    5. Kapitel 20
    6. Kapitel 21
    7. Kapitel 22
    8. Kapitel 23
    9. Kapitel 24
    10. Kapitel 25
  8. TEIL 3
    1. Kapitel 26
    2. Kapitel 27
    3. Kapitel 28
    4. Kapitel 29
    5. Kapitel 30
    6. Kapitel 31
    7. Kapitel 32
    8. Kapitel 33
    9. Epilog

Über das Buch

Band 1 der Reihe »Villa-Amalfi-Saga«

In ihrem von mediterranen Farben und Düften durchwehten Roman entführt Giulia Romanelli an die zauberhafte Amalfiküste während der 1950er Jahre und lässt mit ihrer liebenswerten Heldin Ida eine Zeit voller Hoffnungen und Träume lebendig werden.

Das süditalienische Küstenstädtchen Amalfi in den Fünfzigerjahren. Die junge Ida kann ihr Glück kaum fassen, als sie eine Anstellung in der Villa Amalfi erhält. Das an den Felsen geschmiegte kleine Hotel mit seiner besonderen Tradition verströmt für sie den Duft der weiten Welt. Schnell erobert Ida mit ihrer fröhlichen Offenheit und ihrem Fleiß das Herz des Eigentümerpaars. Sehr zum Missfallen von deren launenhafter Tochter Guendalina. Als Ida sich in den charmanten Reiseleiter Ranieri verliebt, scheint ihr Glück vollkommen. Doch auch die intrigante Guendalina hat ein Auge auf Ranieri geworfen und wird zur erbitterten Rivalin. Dann erkrankt die Hotelbesitzerin schwer, und Idas Zukunft ist mehr als ungewiss.

Über die Autorin

Giulia Romanelli ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Sie wurde in Bayern geboren und entdeckte während ihrer Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin ihre Liebe für das Schreiben. Seit vielen Jahren lebt sie mit ihrer Familie im Süden Italiens, wo sie an einem kleinen grünen Schreibtisch mit Blick aufs Meer ihrer Phantasie freien Lauf lässt.

Giulia Romanelli

Träume über dem Meer

Roman

Prolog

Tramonti, Januar 1934

Emilia kam erst, als es Nacht wurde und Raffaele schon fast nicht mehr darauf gehofft hatte. Die Hebamme war beeindruckend groß und vielleicht auch ein wenig furchteinflößend in ihrer schwarzen Robe, die schon bald unter einem weißen Kittel verschwinden würde. Sie war stark und unabhängig, und man wusste im Ort, dass sie sich von keinem Mann etwas sagen ließ, was sie bei den Herren der Schöpfung nicht gerade beliebt machte. Aber man kam auch nicht um sie herum; wenn die Familie wuchs, brauchte man sie irgendwann.

Es war kalt und roch nach Schnee, doch das schien ihr nichts auszumachen. Vielmehr sah sie aus, als wisse sie nicht, wie Kälte sich anfühlt, obwohl jeder ausgestoßene Atemzug ein Wölkchen in der Luft hinterließ. Nun pustete sie ihre Öllampe aus und stellte sie zusammen mit der Tasche ab, dann zog sie ihre Handschuhe aus und blickte auf. Ihr Alter war schwer zu schätzen, da ihr Haar zwar vollkommen ergraut, ihr Gesicht aber von keiner einzigen Falte durchzogen war.

Raffaele setzte an, ihr wegen ihrer Verspätung ordentlich die Leviten zu lesen, wenngleich sie sicherlich einen triftigen Grund dafür hatte – immerhin war sie die einzige Hebamme in der Gemeinde Tramonti, und die jungen Familien bekamen viele, wirklich viele Bambini, immerzu und dicht an dicht, eine ganze Armee geradezu. Noch dazu lebte Raffaele mit Maria Grazia weit außerhalb des Ortes, was es schwierig machte, zu ihnen zu gelangen.

Aber sein Vater Peppo hielt ihn mit eisernem Griff zurück. Der alte Mann hatte bis zu dem Moment ruhig, geradezu unbeteiligt, auf dem klapprigen Stuhl mit der geflochtenen Sitzfläche neben ihm vor dem Eingang gesessen und eine filterlose Zigarette nach der anderen geraucht. Die Zigarettenstummel zu seinen Füßen waren kurz und dick und sahen im Dunkeln aus wie Maden, was Raffaele an diesem besonderen Abend regelrecht anwiderte. Er schüttelte sich, während er darüber nachdachte, dass die Geste seines Vaters gereicht hatte, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Emilia, die jeder rufen ließ, wenn die Wehen einsetzten, nickte ihnen flüchtig zu – sie allein wusste, ob sie etwas von dem Geschehen mitbekommen hatte – und ging mit ihrer Tasche hoch erhobenen Hauptes ins Haus. Ihre herrische Art ging Raffaele gehörig auf die Nerven und störte ihn noch mehr als das Rascheln ihres dicken schwarzen Rockes, der in mehreren Lagen ihre breiten Hüften und Beine umkleidete. Emilias schwere Schritte überdeckten Maria Grazias Wimmern aus dem Haus jedoch nicht. Aber dann schloss die Hebamme die Tür, und Raffaele hörte nur noch die gewöhnlichen Laute der Nacht. Das war ihm auch lieber. Er konnte das Wimmern seiner Frau nicht ausstehen, denn auch darin zeigte sich, wie lahm sie war, selbst wenn sie ein Kind gebar. Wäre sie ein Tier, hätte er ihr schon längst mit der Axt gezielt den Schädel eingeschlagen, um sie nicht mehr hören zu müssen. Nichts geschah bei ihr spontan oder mit einer gehörigen Portion Leidenschaft, und er hatte ihre Passivität so satt – vor allem im Bett. Raffaele wunderte sich noch immer, dass sie überhaupt schwanger geworden war bei all ihrer Zurückhaltung. Aber, nun gut, irgendwie hatten sie trotzdem ein Kind gezeugt – was natürlich allein sein Verdienst war. Bald schon würde sein Sohn auf die Welt kommen – für ihn war klar, dass es ein Junge war –, und wenn alles nach Plan lief und er gesund und stark wuchs, dann würde Raffaele schon in fünf, sechs Jahren seine erste Arbeitskraft mit auf den Feldern haben. Das fühlte sich warm an und versöhnte ihn ein bisschen mit dem furchtbaren Wimmern.

Raffaele selbst hatte mit fünf Jahren zum ersten Mal eine Hacke in der Hand gehalten und wenig später auch gekonnt benutzt, um die harte, von der Sonne stark vertrocknete Erde aufzulockern. Er wusste, wie man unermüdlich arbeitete, und, bei Gott, seinem Sohn würde er das ebenso beibringen.

»Wir brauchen Grappa, Raffaè, oder irgendetwas Starkes, mir ist kalt.«

»Wir können auch hineingehen und uns ans Feuer setzen«, schlug Raffaele seinem Vater vor.

Peppo gab einen Laut von sich, der an ein Lachen erinnerte, was selten genug vorkam, und schüttelte den Kopf. »Nie im Leben! Es wird bald gefährlich laut in der Stube, das kannst du mir glauben.« Er machte eine vage Bewegung mit dem Arm in Richtung Haus. »Ich habe mehr Geburten miterlebt, als mir lieb ist. Das reicht mir. Jetzt bist du an der Reihe.«

Doch auch Raffaele konnte sich nicht so recht dazu durchringen, näher an den Ort des Geschehens zu rücken, also holte er schnell Grappa, füllte zwei Gläser, setzte sich zu seinem Vater und stieß mit ihm an. Der dürre Kater, der im Sommer dafür sorgte, dass Nagetiere und Reptilien sich vom Haus fernhielten und daher im Winter für Raffaele vollkommen nutzlos war, versuchte, sich auf seine Füße zu legen, doch er trat ihn so unsanft in die Flanke, dass das Tier zuerst ein Stück weggeschleudert wurde und dann fauchend davonlief.

Das schwache Licht der Öllampe an der Hauswand flackerte unruhig, es war eine ungemütliche Nacht, und recht viel länger würden sie wohl nicht mehr draußen sitzen können, ohne sich den Tod zu holen. Raffaeles Hände waren schon ganz steif, da half auch kein Grappa. Wieso dauerte das denn so lange, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Maria Grazia war auch in dieser Nacht übertrieben lahm, das war das Problem, beschloss er. Es war ihm unangenehm, dass seine Eltern, die er – wie es sich eben gehörte – zur Geburt seines ersten Kindes zu sich geholt hatte, nun offenbar die Nacht hier verbringen mussten, denn sein Heim war immer noch etwas bescheiden, obwohl er, sooft er konnte, daran arbeitete, das zu ändern. Seine Mutter hatte sich nach ihrer Ankunft am späten Morgen sogleich an Maria Grazias Bettende gesetzt und sich sicher keine Sekunde ausgeruht, sondern seiner Frau gekonnt zur Seite gestanden. So machte man das, so wollte es die Tradition, und Raffaele wusste sehr wohl, wie man Traditionen respektierte und respektieren ließ.

Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er aufschrak und sofort aufsprang, als die Haustür geöffnet wurde. Emilia trat heraus, stemmte die starken Arme in die Hüfte und reckte das Kinn. Ihr Gesicht war gerötet, und sie sah Raffaele herausfordernd an, als sie sagte: »Das Kind ist gesund auf die Welt gekommen. Die Mutter braucht aber jetzt viel Ruhe, sie hat …«

»Ja, ja, schon gut«, wiegelte Raffaele ab. Er verspürte nicht das Bedürfnis, sich irgendwelche Frauenprobleme anzuhören. Daran hatte er kein Interesse, noch nie gehabt. Außerdem war jetzt, da die Tür offen stand, lautes Babygeschrei zu hören. Das war schon viel besser als Maria Grazias Wimmern.

Emilia trat auf ihn zu. »Es ist übrigens ein Mädchen, falls das von Interesse ist.«

Es war, als hätte sie ihm mit der Faust mitten ins Gesicht geschlagen. Raffaele taumelte ein paar Schritte rückwärts. Er glaubte, ein triumphierendes Funkeln in den Augen der Hebamme zu erkennen, doch alles um ihn herum verschwand unter einer Art Schleier.

Ein Mädchen?

Er war sich so sicher gewesen … Er war überzeugt gewesen, dass … Buon Dio, ein Mädchen? Was sollte er denn mit einer Tochter anfangen? Raffaele nahm die Wollmütze vom Kopf und verfluchte diese Nacht, seine Frau und sich selbst. Mädchen bedeuteten Ärger und Arbeit, noch mehr Arbeit. Irgendwann, nach viel zu vielen Jahren, würde er jemanden mit einer Mitgift dafür bezahlen müssen, dass er das Mädchen heiratete und Raffaele den Ärger abnahm.

Die Hebamme trat beiseite, und in der Tür erschien seine Mutter, mit einem Bündel im Arm. Unter Schichten von dicken, warmen Decken lag sein Kind, und es hatte eine kräftige Stimme.

»Darf ich vorstellen: Das ist unsere Ida! Sie soll den Namen von Maria Grazias Mutter tragen«, verkündete seine Mutter so stolz, als hätte sie das Kind selbst zur Welt gebracht.

Raffaele beobachtete, wie sein Vater aufstand und auf das Neugeborene zuging. Der alte Mann hielt kurz inne, legte seine raue, von harter Arbeit gezeichnete Hand an Idas Wange, und sofort hörte sie auf zu weinen. Das Licht der Öllampe flackerte noch immer, warf aber einen warmen Schein auf Raffaeles Mutter, Vater und Tochter. Es war ein schönes Bild, doch fand Raffaele keine Zuneigung in seinem Herzen, keinen Zugang zu der Harmonie, die darin lag.

Ida war auf der Welt, und von nun an würde sie sein größtes Problem sein. An nichts anderes konnte er mehr denken.

TEIL 1

Kapitel 1

Heute hatte ich eine kleine Hochzeitsgesellschaft zu Gast. Die Brauteltern waren vorher ein paarmal in Amalfi und bei mir zum Essen. Sie haben darauf bestanden, bei uns zu feiern, obwohl ich zuvor noch nie für so viele Gäste auf einmal gekocht habe und unsere Wohnung eigentlich zu klein dafür ist. Aber alle haben mir geholfen, ich weiß nicht, wie ich ihnen dafür danken soll.
Geliebter Francesco, irgendwie wird es weitergehen. Ruhe in Frieden und mach dir keine Sorgen um uns.
Deine Betta

Tagebucheintrag von Elisabetta Esposito

Tramonti, Sommer 1950

Idas neues Kleid kratzte am Hals. Der dunkelgrüne Stoff, aus dem ihre Mutter es genäht hatte, war steif und rau und nicht annähernd so anschmiegsam wie der ihres alten Gewandes. Und das Kleid betonte ihre Figur – an manchen Stellen zu sehr, wie sie fand, weshalb sie nun einmal scharf die Luft einzog, im Versuch, ihre Brust kleiner erscheinen zu lassen. Es half nichts. Sie sah trotzdem mehr wie eine Frau als wie ein Mädchen aus. Es war ihr unangenehm, dass dieses Kleidungsstück sie so klar definierte. Ganz anders als ihr altes Kleid, das sie achtlos über die Stuhllehne geworfen hatte. Sie drehte sich danach um, und so, wie es dalag, wirkte es, als sei es gestorben. Ida schluckte schwer und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie fühlte sich wie in Trauer. Nicht um das alte Kleid, das nicht. Viel mehr trauerte sie um die Freude, die auch diesmal an ihr vorbeigezogen war, ohne Halt zu machen. Denn was hatte sie gejubelt, als ihre Mutter Maß genommen und angefangen hatte, für sie zu nähen. Doch nun, da sie sich anzog, empfand sie keinerlei Herzklopfen. Ganz im Gegenteil. Wenn sie ehrlich war, kam sie sich fremd vor, und das Gefühl mochte sie nicht. Es machte sie nervös. Auch die aufgebrachten Stimmen ihrer Eltern aus dem anliegenden Raum, der als Küche, Wohn- und Esszimmer fungierte, trugen dazu bei, dass ihre Nervosität wuchs. Ihre Eltern hatten sich nie gut vertragen, so viel wusste Ida. Doch schien in den letzten Wochen einiges noch schlechter zu laufen als in den Jahren zuvor. Ida hatte die aufgeplatzte Lippe ihrer Mutter natürlich bemerkt, aber, wie so oft, nicht kommentiert. Über manche Dinge redete man nicht, das hatte Ida schon sehr früh gelernt.

Sie wusste, dass heute Besuch kam. Mehr hatte sie nicht erfahren. Aber sie war nicht dumm, und allein die Tatsache, dass der Besuch ein neues Kleid für sie erforderte, zeigte ihr, dass es um sie gehen würde. Und natürlich wusste sie, dass sie das Alter erreicht hatte, in dem man heiratete. Eine Hochzeit … in Weiß … Der Gedanke war absurd und weit entfernt von Idas Wirklichkeit. Und doch war bei der Vorstellung immer ein leichtes Zittern im Magen, das sich anfühlte, wie wenn sie ganz schnell bergab rannte. Dann sah sie sich vor ihrem inneren Auge zum Altar schreiten, mit einem kleinen Strauß in der Hand, wunderschön. Sie malte sich aus, wie der Stoff des Kleides bei jedem Schritt raschelte. Um sie herum, verteilt in der ganzen Kirche, duftende, prächtige Blumen und lächelnde Gäste, die jeden ihrer Schritte wohlwollend, bisweilen auch gerührt, beobachteten. Ihr Bräutigam, elegant gekleidet und gutaussehend, mit Augen nur für sie, wartete dann mit verliebtem Blick am Altar auf sie und konnte es kaum erwarten, sie zur Frau zu nehmen. Und sie zu küssen, sobald der Priester es nach der Trauung erlaubte.

Ida schüttelte den Gedanken ab. In ihrem richtigen Leben kannte sie Romantik nur aus Büchern oder aus einigen sehr wenigen Familien – natürlich nicht von ihren Eltern. Trotzdem musste es sie geben, denn wozu wurde man sonst ein Paar, wenn nicht, um sich zu lieben, lieben, lieben, bis es wehtat? Vor wenigen Monaten hatte sie miterlebt, wie Carmela geheiratet hatte, die Tochter ihrer nächsten Nachbarn, die ähnlich alt war wie sie. Idas Familie war eingeladen gewesen und hatte natürlich teilgenommen – ihr Vater ließ sich kein Fest entgehen, auf dem er trinken konnte, bis ein Auge das andere nicht mehr sah, wie man bei ihnen sagte. Eigentlich war es trotzdem schön gewesen, doch hatte sich Carmelas verwirrter, verängstigter Gesichtsausdruck in Idas Gehirn gebrannt. Einen ähnlichen Ausdruck hatte sie auf den Gesichtern der Lämmer ihres Vaters kurz vor der Schlachtung gesehen. Und so sollte es einer Braut doch nicht ergehen an ihrem Hochzeitstag, nein, so viel wusste Ida mit ihren sechzehn Jahren.

Ida fuhr zusammen, als die Haustür zugeschlagen wurde. Ein Zeichen dafür, dass ihr Vater gegangen war, nachdem er ihre Mutter eine Ewigkeit lang ausgeschimpft hatte – dazu fand er immer einen Grund. Ida blendete die Stimmen ihrer Eltern oft aus, zu ihrem eigenen Schutz, auch wenn sie sich deshalb manches Mal schuldig fühlte. Einmal, ein einziges Mal, war sie bei einem Streit dazwischengegangen – da war sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen. Die Narbe auf ihrer Wange erinnerte sie noch immer an das, was dann passiert war. Die Ohrfeige ihres Vaters war so heftig gewesen, dass Ida quer durch das Zimmer geflogen und mit dem Gesicht auf die Tischkante aufgeschlagen war. Ihre Mutter hatte weinend die Wunden versorgt und ihr befohlen, das nie, nie wieder zu tun. Wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass es dennoch richtig war, fuhr Ida sich vorsichtig mit der Fingerspitze über das vernarbte Stück Haut auf ihrer Wange. Sie hasste Gewalt, aber sie hasste es auch, klein beizugeben, zu kuschen. Hundert-, nein tausendmal hatte sie sich vorgestellt, ihrem Vater zu sagen, dass seine Schläge gemein und ungerecht waren. Und irgendwann … Ach, sie seufzte. Was konnte sie schon tun? Wenn sie so aufbegehrte, würde sie damit vermutlich ihr eigenes Todesurteil unterschreiben. Sie war nicht sicher, wie weit ihr Vater gehen würde, ob er tatsächlich imstande sein würde, sie ernsthaft – lebensbedrohlich – zu verletzen. Ja, sie hatte Angst vor ihm, denn er war stark, unerbittlich, so als hätte er gar keine schönen Gefühle, nur schlechte. Und Ida liebte das Leben eben doch ein bisschen mehr als ihren Stolz, sie liebte ihre Träume von Romantik und Freiheit und all den schönen Dingen, die auf sie warteten – irgendwo in der Ferne.

Entmutigt beschloss sie, sich die Haare zu machen, sie wollte fertig sein, wenn er zurückkam, um ihn nicht unnötig zu verärgern. Ida warf einen Blick in den kleinen Spiegel, der auf der alten Kommode aus dunklem Holz stand. Den hatte sie von Nonna Ida zur Kommunion bekommen, eine der wenigen schönen Erinnerungen, die sie in ihrem Herzen aufbewahrte. Das kleine Fest ihr zu Ehren hatte bei ihren Großeltern mütterlicherseits stattgefunden, fernab von Idas Elternhaus, in dem sie an jenem Tag die Probleme und Vaters Launen zurückgelassen hatten.

Nun flocht Ida sich eilig zwei Zöpfe und sprach ihrem Spiegelbild Mut zu, während ihr der Gedanke kam, dass das Dunkle in ihrer Seele auch einen Teil ihres Körpers einzunehmen schien, denn rabenschwarz war auch ihr Haar, und ebenso dunkel waren ihre Augen. Nur ihre Haut, die war olivfarben. Ihr Vater bezeichnete sie als brutta come la notte – hässlich wie die Nacht. Und für Ida wurde es zunehmend schwierig, ihm das nicht zu glauben. Ihre Mutter hingegen erzählte immer wieder mit leuchtenden Augen von der kalten Januarnacht, in der Ida geboren wurde. Der für ihre Mutter schönsten Nacht ihres Lebens. Ida fragte sich, warum es so viel leichter war, ihrem Vater mit seiner herabwürdigenden Meinung zu glauben.

Ihr Vater torkelte, als er schließlich zurückkam. Der Mann, den er durch die Eingangstür schob, schwankte ebenfalls, wenn auch ein bisschen weniger. Ida stand neben ihrer Mutter, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt. Sie sah die Beine, die zum Besuch gehörten und in schlechtsitzenden Hosen steckten – weiter nach oben wagte sie nicht zu blicken. In einer Geste der Demut verharrte sie auf der Stelle, während in ihr ein Gefühl wuchs, das sie nicht benennen konnte, das ihr jedoch das Atmen zunehmend erschwerte.

»Hörst du nicht?« Ihr Vater sprach in erbostem Ton mit ihr, trat zu ihr und rüttelte sie unsanft am Arm.

Ida hatte ihn in der Tat nicht gehört. »Es tut mir leid, Padre.« Ihre Mutter sagte nichts, das brauchte sie auch nicht, Ida konnte ihre Anspannung fühlen.

»Bring Wein, habe ich gesagt!«, bellte er.

»Natürlich, Padre!« Sie machte einen Knicks und schickte sich an, seiner Anordnung Folge zu leisten. Als sie in die Anrichte griff, um zwei der guten Gläser herauszunehmen, merkte sie, dass ihre Hände zitterten.

»Du wirst sie wohl noch ein bisschen erziehen müssen«, hörte sie ihren Vater zum Besuch sagen. »Ich habe es mit allen Mitteln versucht, aber ihre Mutter mischt sich immerzu ein …« Diesen Satz ließ er in der Schwebe, als hätte er gemerkt, dass er selbst sich damit wenig schmeichelte. »Notfalls nimmst du den Gürtel. Damit hat noch jede Frau gehorcht.« Er lachte wie jemand, der etwas sehr Witziges erzählt hatte.

Ida hingegen war erschüttert über seine Worte. Machtlos sah sie dem schweren Glas dabei zu, wie es ihr aus der kraftlosen Hand glitt und auf dem Boden zerschellte. Die Scherben schossen in alle Richtungen. Ida stand da wie gelähmt. Sie schrie nicht, atmete nicht, bewegte sich nicht. Ergeben wartete sie auf die Ohrfeige.

Doch sie kam nicht, ihr Vater unterhielt sich einfach weiter, als wäre nichts geschehen, und das beunruhigte Ida, wenn möglich, noch mehr, denn mit seinen Ohrfeigen kam sie zurecht. Gott allein wusste, was ihm sonst noch einfallen konnte.

Ihre Mutter trat leise zu ihr, half ihr beim Aufkehren der Scherben, die sich im bloßen Betonboden – zu Fliesen hatte es nie gereicht – in jeder noch so kleinen Unebenheit verfingen, drückte ihr ein neues Glas in die Hand und gab ihr das Zeichen, den Wein zu servieren.

Ida stellte die Gläser und die Flasche auf ein Tablett und tat, was man von ihr erwartete: Sie ging die wenigen Meter von der Anrichte zum Tisch, an dem ihr Vater mit dem Besuch saß und sich unterhielt. Bei jedem Schritt spürte sie eine Scherbe unter ihrer Schuhsohle. Bei jedem Schritt hörte sie das Knirschen. Bei jedem Schritt wünschte sie sich, einfach fliehen zu können. Doch sie erreichte die beiden ohne weitere Zwischenfälle, stellte das Tablett ab, goss Wein ein und servierte zuerst ihrem Vater.

Als Ida schließlich dem Besuch sein Glas reichte, legte dieser seine Hand auf ihre. Und ließ sie nicht mehr los. Er hielt sie fest, so stark, dass sie ihn wohl oder übel ansehen musste, denn lange würde sie es sicher nicht aushalten mit dieser verschwitzten, schmutzigen, schwieligen Hand auf ihrer.

Sie hob den Blick und sah in das Gesicht eines reifen Mannes mit schwarzen, dichten Haaren, die bereits graue Strähnen aufwiesen. Das Haar war streng zurückgekämmt, doch alles an ihm wirkte ungepflegt, wie mit einem Ölfilm überzogen. Er versuchte sich an einem Lächeln, das wohl nett gemeint war, Ida aber abstieß, denn der Mann hatte nur zwei oder drei Zähne im Mund. Idas Magen rebellierte, sie schluckte schwer.

»Wie heißt du?«, fragte der Mann. Dabei flog ihm Speichel aus dem Mund, der direkt auf Idas Arm landete.

»Ich heiße Ida, Signore.« Sie versuchte noch immer, ihre Hand unter seiner hervorzuziehen, doch er hielt sie fest. Sanfter jetzt, aber durchaus bestimmt.

»Kennst du den Ortsteil Gete, Ida?«

»Nein, Signore.« Sie antwortete mechanisch, hörte kaum, was er sagte – zu stark war der Drang, seinen Speichel von ihrem Arm zu wischen. Sie fürchtete, ihre Abscheu nicht mehr lange verstecken zu können und ihn schon bald mit der gleichen Entschlossenheit abschütteln zu müssen, wie sie es mit einem ekligen Insekt auf ihrer Haut getan hätte.

»Gete gehört uns Weinbauern. Ich lebe dort allein und kümmere mich den ganzen Tag um meine Weinreben.«

»Ich verstehe, Signore.« Das tat sie wirklich, obwohl alles in ihr sich wünschte, ihn vielleicht doch missverstanden zu haben. Ihre Vorstellungskraft weigerte sich, ein Bild zu erzeugen von ihr selbst und diesem Mann, irgendwo in einem fremden Ortsteil. Als Mann und Frau. Ehefrau. Ida schloss für einen Moment die Augen in dem Bemühen, sich zu beherrschen.

»Wir sollten heiraten, damit ich, wenn ich abends nach Hause komme, jemanden habe, der mir Gesellschaft leistet, der für mich kocht, mich umsorgt«, sagte er freundlich.

Der Gedanke, dass Ida mit diesem Mann, den sie gerade ein paar Minuten kannte, Haus, Tisch, Bett und ihr Leben teilen sollte, war unerträglich und schnürte ihr die Kehle zu. Dabei wirkte er nicht einmal bösartig, er sprach sanft und mit freundlicher Stimme, auf jeden Fall viel netter als ihr Vater. Sie schluckte. Ihre Hand … sie steckte noch immer unter seiner fest. So manches Mal hatte sie sich gefragt, wie es wohl sein würde, von einem Mann berührt zu werden. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie vor Scham rot anlaufen, ja, vielleicht sogar mit gesenkten Augenlidern lächeln würde, wie eine Diva im Film. Das, was sie gerade erlebte, erinnerte aber eher an einen Alptraum als an einen Film.

»Ich dachte im Sommer.« Er sprach den Satz wie eine Frage aus.

»Tut mir leid, Signore. Das wird nicht geschehen. Nicht im Sommer, nicht im Winter.« Die Worte strömten einfach so aus ihrem Mund, Ida dachte nicht nach, kontrollierte sie nicht. Sie setzte an, ihm zu erklären, dass es nicht an ihm lag, dass er durchaus freundlich war, sie ihn aber trotzdem niemals als ihren Mann nehmen konnte – in hundert Jahren nicht! Doch dann kam die Ohrfeige, der sie zuvor wie durch ein Wunder entkommen war. Ihr Vater schlug so feste zu, dass ihr der Kopf schwirrte und sie zu Boden ging. Ein Pfeifton im Ohr machte es ihr schwer einzuordnen, was um sie herum geschah. Doch das war mit einem Mal nicht mehr wichtig, denn Ida spürte dem Gefühl nach, dass sich in ihr ausbreitete: Obwohl ihre Wange brannte, ihr Ohr vor Empörung schrie und sie zusammengekrümmt am Boden lag, kam sie sich doch irgendwie aufrecht vor. Ihr Vater konnte sie schlagen und ihr wehtun. Aber da war, wie sie überrascht erkannte, etwas in ihr, etwas Starkes: ihr eigener Wille, und der war unüberwindbar, selbst für ihren Vater und seine Ohrfeigen. Niemand konnte sie zu einer Hochzeit zwingen. Niemand, nicht einmal ihr Vater!

Kapitel 2

Jedem Menschen widerfährt früher oder später im Leben Schlimmes - das lässt sich nicht vermeiden. Wichtig ist, wie man damit umgeht.

Ida war froh, als sie am nächsten Morgen den Hahn krähen und dann ihre Mutter in der Küche mit dem Geschirr klappern hörte. Die tröstlichen Geräusche des Alltags milderten die Erinnerungen an den gestrigen Tag, wie bei einem Bild, das man durch federleichte Striche und sanfte Farben weichzeichnete. Für einen Augenblick schien es ihr, als wäre er gar nicht so schlimm gewesen, doch der Eindruck hielt nicht lange an.

Der Besuch war, trotz Idas eindeutiger Aussage, bis zum Abend geblieben. Pläne für ihre Hochzeit waren geschmiedet worden, als hätte sie sich nicht deutlich dagegen ausgesprochen. Dabei wusste sie nicht einmal, wie der Mann hieß. Sie war sich nicht sicher, ob sein Name überhaupt erwähnt worden war.

»Gestatten, ich bin der Zahnlose!«, flüsterte Ida in ihr Kissen und musste unwillkürlich kichern, obwohl die Situation alles andere als lustig war, wenn sie es sich recht überlegte.

Denn je weiter die Planungen von den Männern vorangetrieben worden waren, desto stärker war das Nein in Ida gewachsen. Für sie stand nach wie vor eines fest: Es würde keine Hochzeit geben. Trotzdem blieb in ihr ein ungutes Gefühl, denn sosehr sie auch davon überzeugt war, so wusste sie doch noch nicht, wie sie es anstellen sollte, das von ihrem Vater gegebene Versprechen zu brechen.

Wie so oft, wenn sie darüber nachdachte, wie anders das Leben sein könnte, wanderten ihre Gedanken nach Amalfi, den schönen Ort an der Divina Costiera, der göttlichen Küste. Ihre Mutter hatte als junges Mädchen eine Saison lang in einem Hotel in Amalfi gearbeitet, eine Weile, bevor sie Idas Vater heiratete. Sie und Ida hatten sich oft darüber unterhalten. Unzählige Male hatte Grazia Maria mit leuchtenden Augen vom Meer erzählt und von den vielen Menschen, die aus aller Welt dorthin kamen. Sie hatte Ida mehr als einmal davon vorgeschwärmt, wie viele Möglichkeiten der Austausch mit Touristen bot, wie viel man von ihnen lernen und abschauen konnte. Sie hatte dabei auch immer betont, dass Arbeit, speziell für eine junge Frau, Unabhängigkeit bedeutete. Ida hatte immer gespürt, wie wichtig ihrer Mutter diese Zeit gewesen war, auch wenn sie im Verlauf der Jahre immer seltener davon erzählt hatte. Was nicht bedeutete, dass Ida nicht mehr daran dachte, sie hatte immer wieder davon geträumt, eines Tages genau das zu tun, wovon ihre Mutter stets geschwärmt hatte: nach Amalfi zu gehen, um unabhängig zu sein. Amalfi war für Ida warm wie eine Hoffnung. Oft schloss sie die Augen und glaubte, die Sonne auf der Haut zu spüren. Sie tat es auch jetzt, denn die Vorstellung war bestärkend und ermutigend, obwohl ihr Vater ihr mit dem gestrigen Tag hatte zeigen wollen, dass sie auf jeden Fall als Ehefrau enden würde, hier in der Gegend. Doch die verheißungsvolle Vorstellung von Amalfi mit seiner Sonne war stärker. Die Sonne, das Meer, ein Leben mit vielen Möglichkeiten und aufregenden neuen Wegen, all das wollte Ida für sich.

Sie musste kurz wieder eingeschlafen sein, denn plötzlich stand ihre Mutter im Zimmer, direkt an ihrem Bett. Ida schrak auf. In ihrem Haus war es die Regel, morgens nicht lange im Bett zu liegen, und Ida war immer schon auf und fertig angezogen, bevor der Hahn anfing, laut und wiederholt den neuen Tag anzukündigen. Doch heute war alles anders, irgendwie.

»Madre, es tut mir leid, ich bin wieder eingenickt. Verzeih mir, bitte.« Sie hörte, wie verschlafen ihre Stimme klang, und schämte sich. Es war an der Zeit, sich zusammenzureißen. Die Welt drehte sich schließlich weiter, und noch war nichts passiert außer einer mündlichen Vereinbarung zwischen ihrem Vater und dem Weinbauern.

»Schon gut, Ida, sei unbesorgt, Kind, ich bin nicht hier, um dich zu schelten.«

Oh, wie liebevoll ihre Stimme doch immer klang! Ida wurde warm ums Herz. Ihre Mutter war stets freundlich, warmherzig und sanft und sah auch heute aus wie ein Engel – trotz der blauen Flecken an ihrem grazilen Körper.

»Ich …« Ida wusste nicht, was sie erwidern sollte. Noch dazu setzte sich ihre Mutter jetzt mit ernster Miene auf ihr Bett. Das Stroh in der Matratze knisterte leicht. Sie sah müde aus, dabei hatte der Tag noch nicht einmal richtig begonnen.

»Ida, dein Vater wird dich zur Hochzeit mit diesem Mann zwingen. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, aber …«

»… aber dann hat er dich geschlagen, Madre, ich weiß.« Ida sah, wie ihre Mutter zusammenzuckte, und sofort tat es ihr leid, die Dinge beim Namen genannt zu haben. Sie strich leicht über die Hand ihrer Mutter, als Zeichen ihrer tiefen Liebe und Verbundenheit.

Ihre Mutter hob den Blick und sah ihr direkt in die Augen. Der Blick war stolz, stark, klar, wie auch die Worte, die folgten: »Zieh dich an, figlia mia, und geh. Du musst dieses Haus verlassen, bevor es zu spät ist.«

Ida starrte sie an. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass es ihrer Mutter ernst war, sie hatte sie selten so entschlossen erlebt. Meist war sie zurückhaltend und still. Und Ida ging zum wiederholten Male auf, dass ihre Mutter sich zwar gezwungenermaßen so gab, wie ihr Vater das von ihr erwartete, in ihr aber eine Kraft schlummerte, die Berge versetzen konnte.

Ida brach der Schweiß aus. »Aber, wo soll ich denn hin?«, stieß sie hervor.

Ihre Mutter schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Darüber habe ich die ganze Nacht nachgedacht, tesoro mio. Du gehst zu deiner Zia. Bleibst erst einmal dort. Dann sehen wir weiter.«

Idas Zia, das war Mutters ältere Schwester Giannina. Im Gegensatz zu ihnen führte die Tante ein glückliches Leben, sie hatte einen Mann, Sesto, der sie geradezu vergötterte, und mehrere Kinder. Die älteste Tochter, Pantalea, war so etwas wie Idas beste Freundin. Ida mochte alles an Lea, ihr rundes Gesicht, ihre braunen Zöpfe, ihren großen Mund, vor allem aber ihr freundliches, aufgeschlossenes Wesen. Im Haus ihrer Tante und ihres Onkels wurde gelacht, gesungen, getanzt. Deshalb sah Idas Vater es nicht gern, wenn ihre Mutter Kontakt zu Zia Giannina hatte. Dennoch verstand er sich gut mit deren Mann, der ihnen mehr als einmal Geld geliehen hatte. Idas Vater respektierte ihn.

Dorthin zu gehen klang für sie verlockend, aber: »Padre wird mich holen …«, gab sie zu bedenken.

»Das wird er nicht. Ich werde ihm erzählen, dass meine Schwester Hilfe im Haus braucht und dich dafür bezahlen wird.«

»Du wirst ihn anlügen?«

Ihre Mutter legte ihre Hände auf Idas Schultern. »Lügen ist falsch, und ich bitte die heilige Madonna jeden Tag um Vergebung dafür. Lügen ist aber auch das, was mir jeden Tag das Leben rettet. Verstehst du das?«

»Er wird dich umbringen, Madre.« Ida sah diese Gefahr so konkret vor sich, dass ihr Tränen in die Augen schossen.

»Nein, das wird er nicht.« Ihre Mutter stand entschlossen auf. »Denn dann würde er ins Gefängnis kommen, und dort gäbe es für ihn nichts zu trinken. Meinst du, dieses Risiko würde er eingehen wollen?«, fragte sie augenzwinkernd, bevor sie ernst hinzufügte: »Zieh dich an, Ida. Subito, bevor er wiederkommt. Ich schreibe in der Zwischenzeit einen Brief an Giannina. Sie wird wissen, was zu tun ist. Vertrau ihr, vertrau mir. Wir werden einen Weg finden.«

Idas Gedanken rasten. Sie wollte den Zahnlosen nicht heiraten, sie wollte nicht in ständiger Angst vor ihrem Vater leben, aber noch viel weniger wollte sie ihre Mutter verlassen. Sie allein lassen mit ihm. War das der Preis, den Ida zahlen musste, um frei zu sein?

»Komm mit!«, bat sie schließlich, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Ach, Ida … Du weißt genau, dass das nicht geht.« Ihre Mutter stieß einen Seufzer aus, dann fuhr sie mit fester Stimme fort: »Ich will es gar nicht schönreden: Es wird ganz sicher nicht leicht werden, dich nicht immer um mich zu haben, aber es wäre für mich noch schlimmer, wenn ich mit ansehen müsste, wie du hier oder in Gete unglücklich wirst, mein Kind.« Sie schwieg einen Moment. »Du kannst noch alles erreichen, jeder Weg steht dir offen. Aber dafür musst du jetzt gehen.«

Ida spürte, dass ihre Mutter es ernst meinte, und war ihr zutiefst dankbar für ihre Worte. Dennoch schmerzte auch sie der Gedanke, ihre Mutter nicht mehr in ihrer Nähe zu wissen. Ihre Mutter war ihre Verbündete, der ruhende Pol, wärmendes Licht. Wie sollte sie ohne sie auskommen? »Versprich mir nur, dass wir uns wiedersehen werden«, brachte sie schließlich hervor.

»Aber selbstverständlich sehen wir uns wieder, bambina mia! Du und ich, wir sind so.« Ihre Mutter formte mit Zeigefinger und Daumen beider Hände einen Ring und verschränkte sie ineinander. Dann wurde ihre Miene ernst. »Ida, ich bitte dich, mach dir um mich keine Gedanken. Das hier ist deine Chance. Ich weiß, dass sich das für dich jetzt anfühlt wie ein Sprung ins Ungewisse. Aber ich werde dafür sorgen, dass du schön weich landest, ja?« Maria Grazia strich ihr liebevoll über den Kopf und lächelte. »Und für alle weiteren Schritte bist du jetzt groß genug, mein Herz.«

Ida atmete tief durch. Sie wusste, was ihr blühte, wenn sie blieb. Nein, das wollte sie auf keinen Fall. Und sie wollte ja auch weg, wollte frei sein, all das erleben, von dem sie träumte. Was, wenn jetzt wirklich der Augenblick dafür gekommen war? Ihre Mutter schien sich ihrer Sache so sicher zu sein, das beruhigte Ida ein wenig. Sie horchte in sich hinein: Der Ruf nach Freiheit war in ihr, Ida hatte ihn nie so stark verspürt wie in diesem Moment. Noch einmal atmete sie tief durch, dann fasste sie einen Entschluss: Ja, sie würde diesem Ruf folgen, selbst wenn sie sich dafür von ihrer Mutter trennen musste.

Ida stand auf und blickte ihrer Mutter in die Augen. Sie nahm ihre Hände und sagte: »Ich danke dir, Madre. Ich weiß, dass du das tust, weil du möchtest, dass ich all das erlebe, was du mir über Amalfi erzählt hast, nicht wahr?«

»Das und so viel mehr, liebste Ida«, sagte ihre Mutter und drückte die Hände ihrer Tochter. Sie schwieg einen Moment, dann strich sie ihr sanft über die Wange. »Aber jetzt beeil dich, mein Kind«, sagte sie und verließ den Raum.

Fertig angezogen und mit einer kleinen Tasche in der Hand, die auch den Brief für ihre Tante enthielt, stand Ida wenig später an der Haustür. Der Moment des Abschieds war gekommen. Sie spürte einen Kloß im Hals und wagte es kaum, ihrer Mutter ins Gesicht zu blicken. Doch Maria Grazia stellte sich vor sie und strich ihr mit ihrer warmen Hand über die Wange. Sie wirkte so glücklich und zufrieden wie nie zuvor.

»Egal, was passiert, egal, welche Entscheidungen du in Zukunft treffen wirst, ich werde immer stolz auf dich sein. Hab keine Angst, Fehler zu machen, und fürchte dich nicht davor, Dinge auszuprobieren. Du musst dich für nichts schämen, hast du mich verstanden? Geh immer erhobenen Hauptes durchs Leben. Ich liebe dich bis in alle Ewigkeit – vergiss das nie. Und jetzt geh!«

»Madre …«

Doch ihre Mutter schüttelte den Kopf, schob Ida entschlossen durch die Tür ins Freie und schloss sofort von innen ab.

Der Drang, an die ihr so vertraute Haustür zu klopfen, war schier übermächtig, aber nur so lange, bis ein Sonnenstrahl unverhofft Idas Gesicht traf. Die Wärme war tröstlich, trotzdem kämpfte Ida mit den Tränen. Sie holte tief Luft, und ihre Lunge füllte sich mit Sauerstoff, ihre Nase nahm die vertrauten Düfte der naheliegenden Wiese auf, und dann setzte Ida einen Fuß vor den anderen, machte einen Schritt nach dem anderen, der sie immer weiter weg von dem Haus brachte, in dem sie geboren und aufgewachsen war.

Der Weg zu Zia Giannina war lang und zu Fuß beschwerlich, Ida würde erst ankommen, wenn die Sonne ganz hoch oben am Himmel stand. Diesen Weg war sie schon oft gegangen, wenn auch nie allein. Sie spürte dem Gefühl nach und bemerkte, dass das Fehlen einer Begleitung sie keineswegs verunsicherte, im Gegenteil, sie war bereit, Verantwortung zu tragen. Und sie wollte es gut machen, richtig. Denn sie war sich bewusst, dass ihre Mutter ihr gerade etwas Großes geschenkt hatte: die Freiheit. Aus Liebe. Damit Ida ihr Leben leben konnte.

Sie schwitzte in der zunehmend wärmeren Luft, war hungrig und durstig, und doch fühlte sie sich immer stärker, sicherer. Ihr Kopf war jetzt klar, ihre Sinne geschärft, sie sog die Eindrücke der Umgebung intensiver auf als jemals zuvor. Alles, was sie sah und spürte, traf sie ins Herz, weckte Erwartungen und Hoffnungen in ihr: Sonnenschein, blauer Himmel, Steine unter den Fußsohlen, blühende Obstbäume, Passanten, Stimmen, das Schwirren geschäftiger Insekten. Dann der Geruch nach Pferdeäpfeln, die den Weg säumten, das vertraute Geräusch von Kutschrädern, das Aufschlagen der Fußsohlen auf den Pflastersteinen, als Ida in Tramonti endlich den Ortsteil Pietre betrat. Zum ersten Mal war sie hier, ohne die Last ihres Vaters zu spüren. Ida merkte, wie sich das bereits auf ihr Wesen auswirkte, denn sie blickte sich frei und interessiert um und den Menschen, die geschäftig an ihr vorbeiliefen, direkt ins Gesicht. Sie sah Kinder mit dicken Bäckchen, Mädchen mit beeindruckenden Frisuren und junge Männer, die auf Fahrrädern durch die Straßen fuhren und dabei wirkten, als gehörte ihnen die ganze Welt. Im Beisein ihres Vaters hätte sie sich nicht getraut, sich so offen umzuschauen. Ohne ihn war sie schon ein bisschen mehr die Ida, die sie immer gehofft hatte zu werden. Eine Ida, die sich nicht verstecken und die keine Bedenken haben musste, wenn sie voller Neugierde erlebte und versuchte zu verstehen, wie die Welt sich drehte. Hier in Tramonti oder – warum nicht, dachte Ida lächelnd – in Amalfi.

Und dann endlich, die Sonne stand hoch am Himmel, klopfte sie an die Haustür ihrer Tante, die mit ihrer Familie genau gegenüber der Kirche mit dem gelben Anstrich wohnte. In der Wohnung wusste man immer, wie spät es war, dafür sorgten die Glocken im hohen Turm. Als Zia Giannina wenige Augenblicke später die Tür öffnete, drückte ihre Miene Verwunderung, Schrecken und Freude zugleich aus. Ida umarmte sie aus einem Impuls heraus.

»Ida … ja, um Himmels willen, komm rein, amore di zia

Und kaum hatte Ida den Fuß in das Haus ihrer Tante gesetzt, überkam sie eine tiefe Erleichterung. So wie man sie verspürte, wenn man nach großer Anstrengung eine Hürde meisterte. Sie hatte es geschafft, und sie war stolz auf sich, ja, das war sie.

Kapitel 3

Das Beisammensein mit den Gästen erfüllt mich. Genau wie das Kochen. Das alles gibt mir das Gefühl, etwas zu können und nützlich zu sein. Ich kann es nicht richtig erklären, aber es ist, als bekäme ich für jedes Gericht zehnmal so viel Liebe zurück, wie ich hineinstecke.

Sie saßen bei Tisch, alle zusammen. Zia Giannina hatte den Jüngsten im Arm, der heiter seine dicken Händchen in seine Pasta tauchte und dabei mehr auf dem Tisch verteilte, als er in den Mund steckte. Niemand schimpfte ihn deswegen aus. Zio Sesto, der ihm gegenübersaß, beobachtete die Szene amüsiert und lachte. Idas Onkel, Zio Sesto, arbeitete immer lange – er zog Milchkühe auf, verarbeitete deren Milch und verkaufte die Produkte – und war erst kurz zuvor nach Hause gekommen. Die größeren Kinder aßen entspannt und hungrig, auch Lea. Nur Ida hatte nicht viel Appetit, sie war noch erfüllt von den vielen Eindrücken des Tages. Sie erlebte gerade so viel Neues, und dazu gehörte auch die Normalität eines Familienlebens, die sie bisher verpasst hatte. Hier war nichts zu spüren von Anspannung und Angst, Ida hingegen hatte so lange damit gelebt, dass sie jetzt beinahe taumelte. Sie fühlte sich leicht, es war als hätte sie auf einmal Platz, als könnte sie fliegen. In ihrem Magen kribbelte es, als wirbelte sie gerade tatsächlich durch die Lüfte, bis ganz nach oben in den Himmel.

»Du isst ja gar nichts, Ida«, stellte ihre Tante fest und wischte gleichzeitig gedankenverloren ihrem Sohn mit der Serviette über den Mund.

»Ich bin nicht sehr hungrig. Mein Bauch schlägt einen Purzelbaum nach dem anderen, die ganze Zeit schon.«

Zia Giannina lächelte sie liebevoll an und legte beschwichtigend eine Hand auf Idas. »Das wird sich wieder legen.«

Aber Ida wollte gar nicht, dass es aufhörte. Sie lächelte ihr dankbar zu. Natürlich hatten sie bei ihrer Ankunft miteinander geredet und kurz das Wesentliche ausgetauscht, auch hatte Ida ihrer Tante sofort den Brief ihrer Mutter ausgehändigt. Richtig reden miteinander würden sie nach dem Essen – Idas Geschichte war nichts für die Ohren ihrer kleinen Cousins und Cousinen.

»Pantalea, sei bitte so gut und deck mit deinen Geschwistern den Tisch ab, ja?«, bat Zio Sesto seine älteste Tochter freundlich, als alle ihre Teller leergegessen hatten.

Ida sprang sofort mit auf, doch Zia Giannina legte die Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück. »Das schaffen sie allein. Bleib sitzen Ida, tesoro

Lea räumte mit ihren Geschwistern ab, nahm ihrer Mutter den Kleinen aus dem Arm. Dabei suchte sie Idas Blick und zwinkerte ihr aufmunternd zu, bevor sie das Wohnzimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.

Nun waren sie allein am Esstisch. Der Onkel, die Tante, Ida und viel Unausgesprochenes. Es dämmerte, bald schon würden sie das Licht anmachen. Hier gab es Strom und im Wohnzimmer eine Lampe mit dicken grünen Glaskugeln. Bei Idas Eltern waren noch keine Stromleitungen gelegt worden, sie lebten zu weit außerhalb.

»Ihr habt es so schön hier. Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich aufgenommen habt, und hoffe, ich störe euch nicht zu sehr«, setzte Ida an. Sie strich den Stoff ihres Kleides glatt, das sich an diesem Tag vertrauter und angenehmer anfühlte – als hätte sie nach anfänglichen Berührungsängsten Frieden mit ihm geschlossen. Im Gegensatz zum Vortag war es ihr jetzt keineswegs unangenehm, nicht mehr kindlich auszusehen. Heute fühlte sie sich auch beinahe so … erwachsen.

»Nein, denk das nicht, liebe Ida. Ich bin froh, dass du hier bist. Wenn ich könnte, würde ich sofort auch noch deine Mutter holen«, erklärte ihre Tante bestimmt. Ida betrachtete sie dankbar. Zia Giannina war ein mütterlicher Typ, gemütlich, weich und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das Einzige, was an ihr wild aussah, waren ihre Haare, die stets wirkten, als käme Giannina direkt aus einem Sturm. Lea hatte oft versucht, ihrer Mutter eine ordentliche Frisur zu machen, wie Ida wusste. Doch das schaffte nur die Frisöse, zu der die Tante aber nur ging, wenn ein wichtiges Fest anstand. Sie war nicht ganz so schlank wie Idas Mutter, auch ihre Augen waren von anderer Farbe, und doch hatte Giannina so viel von ihrer Mutter, dass Ida für einen Moment schwer ums Herz wurde.

»Ich dachte wirklich, dein Vater bekommt sich in den Griff«, unterbrach Zio Sesto ihre Gedanken. »Er war so oft bei mir, um mich um Geld zu bitten! Er hat mir jedes Mal hoch und heilig versprochen, sich zu bessern, denn das war immer meine Bedingung. Stattdessen setzt er dir den alten, schmutzigen Bertone vor, um dich mit ihm zu verheiraten? Das kann nicht sein Ernst sein!«

Bertone. Der Zahnlose hieß also Bertone? Ida war sich nicht sicher, ob das ein Vorname, Spitzname oder Nachname war. Aber sie war froh, dass ihr die Antwort egal sein konnte. Und obwohl sie es gewusst hatte, war es ihr peinlich, dass ihr Vater sich Geld bei Zio Sesto borgte, denn damit war Idas Familie nicht nur die von Raffaele dem Säufer, sondern auch die von Raffaele dem Mittellosen. Welches schlechte Bild mussten die anderen von ihnen haben! Ida biss sich leicht auf die Lippe und knetete ihre Hände.

Ihre Tante lächelte ihr aufmunternd zu, als hätte sie Idas Gedanken gelesen. »Nun, das ist jetzt nicht mehr wichtig. Du bist bei uns willkommen, Ida. Immer und solange du willst«, beteuerte sie mit Nachdruck.

»Ja! Mach dir bitte keine Sorgen. Es ist für dich vielleicht etwas eng, aber bei uns werden immer alle satt«, fügte ihr Onkel hinzu.

Ida war ihnen zutiefst dankbar. Sie wusste, dass sie es ernst meinten, und fühlte sich geborgen. Und doch wollte sie nicht zu lange bleiben, wollte ihre Freiheit ganz auskosten.

»Danke. Aber ich hatte auf dem Weg viel Zeit nachzudenken. Ich möchte selbst für mich sorgen. Alt genug dafür bin ich, und auch wenn es mir an Erfahrung fehlt, will ich es auf jeden Fall versuchen. Meine Mutter hat mir so viel von ihrer Zeit in Amalfi erzählt, ich möchte nichts lieber, als dort eine Arbeitsstelle in einem Hotel zu finden. Für mich. Aber auch ein bisschen für meine Mutter.«

Eine Weile sagte niemand ein Wort, dann räusperte sich Zia Giannina. Ihre Stimme war sanft, als sie sagte: »Das ist eine sehr mutige Entscheidung, tesoro. Du sollst wissen, dass du nicht arbeiten musst, wir können auch für dich sorgen. Falls du es aber trotzdem möchtest, dann verstehe ich das. Maria Grazia hat nie vergessen, wie glücklich sie damals in Amalfi im Hotel war. Oh, sie hat immer mit leuchtenden Augen davon erzählt!«

capisci?

Ida nickte. Sie wusste, dass er recht hatte, aber ihr Herz überschlug sich gerade vor Freude. Und sie war fest entschlossen, sich diese Chance nicht entgehen zu lassen. Das war schon so viel mehr als erhofft. Übermorgen würde sie das erste Mal Amalfi sehen. Ihr war danach, ihre Freude laut herauszuschreien, doch sie hielt sich zurück. Hatte sie nicht allzu oft schon erlebt, wie nahe Freude und Trauer beieinanderlagen?