Das Buch
»Seine Beerdigung war nur spärlich besucht. Wallace war nicht erfreut. Er war nicht einmal sicher, wie er hierhergekommen war. Im einen Moment hatte er noch auf seinen Körper gestarrt. Dann hatte er geblinzelt und sich irgendwie vor einer Kirche wiedergefunden, die Türen standen offen, und die Glocken läuteten. Das große Schild vor der Kirche machte die Sache auch nicht besser. FEIERLICHE ZUSAMMENKUNFT ZUM GEDENKEN AN WALLACE PRICE, stand da.«
Der gefühlskalte Anwalt Wallace Price ist Anfang vierzig, erfolgreich, geschieden. In seinem Leben spielen nur drei Dinge eine Rolle: Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Es kommt ihm daher äußerst ungelegen, als er eines Tages tot umfällt und im Teeladen von Hugo Freeman landet. Hugo ist Fährmann, und er wird Wallace alles beibringen, was er über seine Reise ins Jenseits wissen muss. Selbstverständlich hasst Wallace Tee. Er ist Kaffeetrinker. Abgesehen davon hat Wallace auch keine Zeit zum Sterben. Er hat schließlich Termine, die er wahrnehmen, Fristen, die er einhalten und Mandanten, denen er das Geld aus der Tasche ziehen muss. Nach einem missglückten Fluchtversuch wird ihm jedoch klar, dass der Tod keine Verhandlungssache ist. Mithilfe von Hugo und seinen neuen Freunden bekommt Wallace die Chance, etwas über den wahren Sinn des Lebens zu lernen …
Einfühlsam, warmherzig und mit einer gehörigen Portion Humor erzählt Bestsellerautor T.J. Klune in DAS UNGLAUBLICHE LEBEN DES WALLACE PRICE eine berührende Geschichte über das Leben, das Sterben und die Liebe.
Der Autor
Im Alter von sechs Jahren griff TJ Klune zu Stift und Papier und schrieb seine erste Geschichte – eine mitreißende Variante des Videospiels »Super Metroid«. Die Begeisterung für Geschichten hat TJ Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung seiner Figuren wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Sein Roman Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste
T.J. KLUNE
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Michael Pfingstl
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe: UNDER THE WHISPERING DOOR
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Deutsche Erstausgabe 04/2022
Redaktion: Charlotte Lungstrass-Kapfer
Copyright © 2021 by Travis Klune
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München, unter Verwendung einer Illustration von Red Nose Studio
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-27544-0
V001
www.heyne.de
Für Eric.
Ich hoffe, du bist an einem außergewöhnlichen Ort aufgewacht.
Diese Geschichte handelt sowohl von Leben und Liebe,
als auch von Verlust und Trauer.
Der Tod tritt in verschiedenen Formen auf: still, unerwartet oder durch Selbstmord.
Bitte aufmerksam lesen.
Patricia weinte.
Wallace Price hasste es, wenn Menschen weinten.
Kleine Tränen, große Tränen, bebende Schluchzer, egal. Tränen waren sinnlos, und Patricia zögerte das Unvermeidliche nur hinaus.
»Woher wussten Sie das?«, entgegnete sie mit feuchten Wangen und griff nach der Kleenex-Schachtel auf seinem Schreibtisch. Sie sah nicht, wie er das Gesicht verzog. Das war wahrscheinlich auch besser so.
»Wie hätte es mir entgehen können?«, sagte er und faltete die Hände auf seinem Eichenholzschreibtisch. Sein Arper-Aston-Stuhl quietschte, während er sich auf das vorbereitete, was mit Sicherheit ein Fall von übertriebenem Theater werden würde, und er gleichzeitig versuchte, keine Grimasse zu schneiden wegen des Gestanks nach Bleichmittel und Glasreiniger. Jemand von der Nachtschicht musste etwas in seinem Büro verschüttet haben, der Geruch war penetrant und unangenehm. Er überlegte, alle in einem Memo daran zu erinnern, dass er eine empfindliche Nase hatte und man nicht von ihm erwarten konnte, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Es war geradezu barbarisch.
Die Jalousien an den Fenstern seines Büros waren geschlossen wegen der Nachmittagssonne, die Klimaanlage dröhnte und hielt ihn wach. Vor drei Jahren hatte jemand angefragt, ob man den Regler auf 21 Grad stellen könne. Wallace hatte nur gelacht. Wärme machte faul. Wer fror, der blieb in Bewegung.
Außerhalb seines Büros lief die Firma wie eine gut geölte Maschine, geschäftig und selbstständig, ohne dass er sich groß einmischen musste. Genau wie Wallace es mochte. Er hätte es nicht so weit gebracht, wenn er jeden Mitarbeiter im Detail überwachen müsste. Natürlich hatte er immer noch ein wachsames Auge auf seine Angestellten. Sie wussten, dass sie arbeiten mussten, als ob ihr Leben davon abhinge. Ihre Klienten waren die wichtigsten Menschen auf der Welt. Wenn Wallace sagte, sie sollten springen, erwartete er, dass alle in Hörweite genau das taten. Ohne belanglose Fragen von der Sorte: Wie hoch?
Was ihn wieder zu Patricia brachte. Die Maschine war kaputt, und auch wenn niemand unfehlbar war, musste Wallace das betreffende Teil gegen ein neues austauschen. Er hatte zu hart gearbeitet, um sie ausgerechnet jetzt ausfallen zu lassen. Das letzte Jahr war das profitabelste der Firmengeschichte gewesen, und dieses schickte sich an, noch besser zu werden. Egal, was auf der Welt gerade vorging, es musste immer irgendjemand verklagt werden.
Patricia putzte sich die Nase. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das interessiert.«
Wallace starrte sie an. »Wie um alles in der Welt kommen Sie denn darauf?«
Patricia lächelte feucht. »Sie sind nicht unbedingt der Typ dafür.«
Er wurde ungehalten. Wie konnte sie es wagen, so etwas zu sagen, vor allem zu ihrem Chef? Er hätte schon vor zehn Jahren, als sie sich bei ihm für die Stelle als Rechtsanwaltsgehilfin beworben hatte, wissen müssen, dass ihm das Ganze auf die Füße fallen würde. Sie war ausgelassen gewesen, und Wallace hatte geglaubt, dass sich das mit der Zeit legen würde, denn eine Anwaltskanzlei war kein Ort für Ausgelassenheit. Wie sehr er sich geirrt hatte. »Natürlich habe ich …«
»Es ist nur alles so schwer in letzter Zeit«, sprach sie weiter, als hätte er gar nichts gesagt. »Ich habe versucht, es unter Verschluss zu halten, aber ich hätte wissen müssen, dass Sie es merken würden.«
»Exakt«, erwiderte Wallace in dem Versuch, das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken. Je schneller er es zu Ende brachte desto besser für sie beide. Das würde auch Patricia merken. Irgendwann. »Ich habe es sofort gemerkt. Wenn Sie jetzt bitte …«
»Und es ist Ihnen nicht egal«, fuhr sie fort. »Das weiß ich. Ich wusste es von dem Moment an, als Sie mir letzten Monat den Geburtstagsstrauß geschickt haben. Das war sehr nett von Ihnen. Auch wenn keine Karte oder Ähnliches dabei war, ich wusste, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollen: Ihre Wertschätzung für mich. Und auch ich schätze Sie sehr, Mr. Price.«
Er hatte keine Ahnung, wovon zum Teufel sie redete. Er hatte ihr gar nichts geschenkt. Das musste seine Verwaltungsassistentin gewesen sein. Er würde ein Wörtchen mit ihr reden müssen. Blumen waren unnötig. Wozu waren sie schon gut? Am Anfang waren sie noch hübsch, aber dann starben sie, die Blätter und Blüten vertrockneten und verfaulten und hinterließen eine Sauerei, die es ohne die Blumen gar nicht erst gegeben hätte. Mit diesem Gedanken im Kopf nahm er seinen lächerlich teuren Montblanc-Füller zur Hand und kritzelte eine Notiz (IDEE FÜR MEMO: PFLANZEN SIND EIN GRÄUEL, NIEMAND SOLLTE WELCHE HABEN). Ohne aufzublicken, sagte er: »Ich wollte nicht …«
»Kyle wurde vor zwei Monaten entlassen«, fuhr sie fort.
Wallace brauchte länger, als er zugeben wollte, bis ihm einfiel, wer gemeint war. Kyle war ihr Mann. Er hatte ihn bei einer Firmenveranstaltung kennengelernt. Kyle war betrunken gewesen; der Champagner, den Moore, Price, Hernandez & Worthington nach einem weiteren erfolgreichen Jahr gestiftet hatten, schmeckte ihm offensichtlich. Mit gerötetem Gesicht unterhielt Kyle die Partygesellschaft mit einer detaillierten Geschichte, die Wallace nicht im Geringsten interessierte, vor allem nicht, da Kyle Lautstärke und üppige Ausschmückungen anscheinend für einen unverzichtbaren Teil des Erzählens hielt.
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte er steif und stellte sein Telefon auf den Schreibtisch. »Aber ich glaube, wir sollten uns auf das eigentliche Thema konzentrieren …«
»Er findet keine Arbeit«, sagte Patricia, zerknüllte ihr Taschentuch und nahm sich ein neues. Sie wischte sich die Augen ab und verschmierte dabei ihr Make-up. »Es kam zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Unser Sohn heiratet diesen Sommer, und wir sollen die Hälfte der Hochzeit bezahlen. Ich weiß nicht, wie wir das machen sollen, aber wir werden es schon schaffen. Wir schaffen es immer. Ein kleiner Stolperstein, nicht mehr.«
»Masel tov«, sagte Wallace. Er wusste nicht einmal, dass sie Kinder hatte. Er beschäftigte sich nicht mit dem Privatleben seiner Angestellten. Kinder waren eine Ablenkung, und zwar eine, für die er sich nie hatte erwärmen können. Sie waren der Grund, dass ihre Eltern – seine Angestellten – sich freinahmen für Dinge wie Schulaufführungen oder Krankheit, während andere für sie die Arbeit erledigten. Und da die Personalabteilung ihm mitgeteilt hatte, er könne seine Angestellten nicht bitten, von einer Familiengründung abzusehen (»Sie können den Leuten nicht sagen, sie sollen sich lieber einen Hund anschaffen, Mr. Price!«), hatte er es zu oft mit Müttern und Vätern zu tun, die den Nachmittag frei brauchten, damit sie ihren Kindern lauschen konnten, wie sie sich erbrachen oder Lieder über Kugeln und Wolken und anderen Unsinn plärrten.
Patricia blies erneut in ihr Taschentuch. Ein langes und furchtbar feuchtes Geräusch, das bei Wallace Gänsehaut auslöste. »Und dann ist da noch unsere Tochter. Sie hatte keinerlei Orientierung im Leben, ich dachte schon, sie würde als Chinchillazüchterin enden, aber dann hat die Firma ihr liebenswürdigerweise ein Stipendium gewährt, und sie hat ihren Weg endlich gefunden. Ausgerechnet ein Wirtschaftsstudium. Ist das nicht wunderbar?«
Wallace blinzelte sie an. Er würde mit seinen Partnern sprechen müssen. Ihm war nicht bekannt, dass sie Stipendien vergaben. Sie spendeten für wohltätige Zwecke, ja, aber die Steuervergünstigungen machten das mehr als wett. Wallace wusste nicht, was für eine Art von Rendite es abwerfen sollte, wenn sie Geld für etwas so Lächerliches wie ein Wirtschaftsstudium verschenkten, selbst wenn auch das abgeschrieben werden konnte. Die Tochter würde wahrscheinlich so etwas Dämliches wie ein Restaurant eröffnen oder eine gemeinnützige Organisation gründen. »Ich glaube, wir haben eine unterschiedliche Definition von ›wunderbar‹.«
Patricia nickte, aber er glaubte nicht, dass sie ihn hörte. »Diese Arbeit ist so wichtig für mich, jetzt mehr denn je. Die Leute hier sind wie eine Familie. Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne sie hätte ich es nie so weit gebracht. Und dass Sie gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, und mich gebeten haben hierherzukommen, damit ich mich aussprechen kann, bedeutet mir mehr, als Sie sich vorstellen können. Es ist mir egal, was die anderen sagen, Mr. Price. Sie sind ein guter Mensch.«
Was sollte das denn bedeuten? »Was sagt man denn über mich?«
Patricia erbleichte. »Ach, nichts Schlimmes. Sie wissen ja, wie das ist. Sie haben diese Firma gegründet. Ihr Name steht auf dem Briefkopf. Das … schüchtert ein.«
Wallace entspannte sich. Jetzt ging es ihm wieder besser. »Ja, nun, ich vermute, das …«
»Ich meine, zugegeben, die Leute reden darüber, wie kalt und berechnend Sie sein können. Und wenn etwas nicht sofort erledigt wird, werden Sie erschreckend laut. Aber die anderen sehen Sie nicht so wie ich. Ich weiß, dass sich hinter den teuren Anzügen ein fürsorglicher Mann verbirgt.«
»Verbirgt«, wiederholte Wallace, freute sich aber, dass sie seinen Geschmack bewunderte. Seine Anzüge waren teuer. Schließlich waren es nur die besten. Deshalb gehörte zu dem Paket, mit dem die neuen Mitarbeiter begrüßt wurden, eine detaillierte Aufzählung akzeptabler Kleidungsstücke. Er verlangte zwar nicht, dass jeder sich Designermarken leistete (zumal er wusste, was es hieß, einen Studentenkredit zurückzuzahlen), aber wenn jemand etwas trug, das offensichtlich von einem Discounter stammte, bekam er eine ordentliche Standpauke, gefälligst auf ein angemessenes Äußeres zu achten.
»Sie haben eine harte Schale, aber Ihr Kern ist weich wie ein Marshmallow«, fügte sie hinzu.
Wallace war noch nie in seinem Leben so beleidigt worden. »Mrs. Ryan …«
»Patricia, bitte. Ich habe es Ihnen schon so oft gesagt.«
Hatte sie. »Mrs. Ryan«, wiederholte er mit fester Stimme. »Ich schätze Ihre Begeisterungsfähigkeit, aber ich glaube, wir haben andere Dinge zu besprechen.«
»Richtig«, sagte sie hastig. »Selbstverständlich. Ich weiß, dass Sie es nicht mögen, wenn man Ihnen Komplimente macht. Ich verspreche, es wird nicht mehr vorkommen. Wir sind schließlich nicht hier, um über Sie zu reden.«
Wallace war erleichtert. »Exakt.«
Ihre Unterlippe zitterte. »Wir sind hier, um über mich zu reden und darüber, wie schwierig die Dinge in letzter Zeit geworden sind. Deshalb haben Sie mich herbestellt, nachdem Sie mich weinend in der Abstellkammer gefunden haben.«
Er hatte geglaubt, sie mache Inventur und habe allergisch auf den Staub reagiert. »Ich denke, wir sollten uns wieder aufs Thema konzentrieren …«
»Kyle fasst mich nicht mehr an«, flüsterte sie. »Es ist Jahre her, dass ich seine Hände gespürt habe. Ich habe mir eingeredet, dass das passiert, wenn ein Paar so lange zusammen ist, aber irgendwie glaube ich, dass mehr dahintersteckt.«
Wallace zuckte zusammen. »Ich weiß nicht, ob das angemessen ist, vor allem, da Sie …«
»Genau!«, rief sie. »Es ist überhaupt nicht angemessen. Ich weiß, ich arbeite siebzig Stunden die Woche, aber ist es denn zu viel verlangt, dass mein Mann seine ehelichen Pflichten erfüllt? Er hat es geschworen.«
Was für eine schreckliche Hochzeit das gewesen sein musste. Die Feier fand wahrscheinlich in einem Holiday Inn statt. Nein. Schlimmer. In einem Holiday Inn Express. Wallace schauderte bei dem Gedanken. Er zweifelte nicht, dass Karaoke im Spiel gewesen war. So, wie er Kyle in Erinnerung hatte (nicht sehr gut), sang er wahrscheinlich ein Medley aus Journey und Whitesnake, während er sein Bierchen exte.
»Aber die vielen Überstunden machen mir nichts aus«, fuhr sie fort. »Sie gehören zu meinem Job. Das habe ich schon bei meiner Einstellung gewusst.«
Ah! Eine Gelegenheit! »Da wir gerade von Ihrer Anstellung sprechen …«
»Meine Tochter hat sich die Nasenscheidewand piercen lassen«, sagte Patricia verzweifelt. »Mein kleines Mädchen sieht jetzt aus wie ein Stier. Als wäre sie auf der Suche nach einem Torero, der sie in die Ecke treibt und Dinge in sie hineinsteckt.«
»Jesus Christus«, murmelte Wallace und rieb sich das Gesicht. Er hatte keine Zeit für so etwas. In einer halben Stunde begann eine Besprechung, auf die er sich noch vorbereiten musste.
»Genau!«, rief Patricia. »Kyle sagte, das gehört zum Erwachsenwerden. Dass wir ihr erlauben müssen, sich auszuprobieren und Fehler zu machen. Aber ich wusste nicht, dass dazu auch gehört, sich einen verfluchten Ring durch die Nase zu schieben! Und fragen Sie erst gar nicht nach meinem Sohn.«
»Okay«, sagte Wallace. »Ich frage nicht.«
»Er will ein Hochzeitscatering von Applebee’s! Applebee’s.«
Wallace schnappte entsetzt nach Luft. Er hätte nicht geglaubt, dass geschmacklose Hochzeiten erblich waren.
Patricia nickte eifrig. »Als ob wir uns das leisten könnten. Geld wächst schließlich nicht auf Bäumen! Wir haben unser Bestes getan, um unseren Kindern ein gewisses Verständnis für finanzielle Angelegenheiten zu vermitteln, aber wenn man noch jung ist, hat man das nicht immer im Griff. Und jetzt, wo seine zukünftige Braut schwanger ist, kommt er zu uns und bittet um Hilfe.« Sie seufzte theatralisch. »Zurzeit schaffe ich es morgens überhaupt nur aufzustehen, weil ich weiß, dass ich hierherkommen und … alldem entfliehen kann.«
Wallace spürte ein seltsames Ziehen in der Brust. Er rieb sich das Brustbein. Wahrscheinlich Sodbrennen. Er hätte die Finger von dem Chili lassen sollen. »Ich bin froh, dass wir Ihnen eine Zuflucht bieten konnten, aber das ist nicht der Grund, warum ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe.«
Sie schniefte. »Ach?« Sie lächelte wieder. Zuversichtlicher diesmal. »Was denn dann, Mr. Price?«
Er sagte: »Sie sind gefeuert.«
Patricia blinzelte.
Wallace wartete. Sie würde es bestimmt jeden Moment begreifen, und dann konnte er wieder zurück an seine Arbeit gehen.
Sie sah sich um, ein verwirrtes Lächeln auf dem Gesicht. »Ist das eine dieser Reality-TV-Shows?« Sie lachte – ein Gespenst ihres damaligen Überschwangs, von dem er dachte, es sei längst gebannt. »Filmen Sie mich etwa? Kommt gleich jemand hereingesprungen und ruft Überraschung? Wie heißt diese Sendung? Du bist gefeuert, aber nicht wirklich?«
»Das bezweifle ich sehr«, sagte Wallace. »Niemand ist autorisiert, mich zu filmen.« Er sah die Handtasche auf ihrem Schoß an. »Oder aufzunehmen.«
Patricias Lächeln wurde eine Spur verhaltener. »Dann verstehe ich das nicht. Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht, wie ich es noch klarer ausdrücken soll, Mrs. Ryan. Ab heute sind Sie nicht mehr bei Moore, Price, Hernandez & Worthington beschäftigt. Bevor Sie das Gebäude verlassen, wird der Sicherheitsdienst Ihnen gestatten, Ihre Habseligkeiten einzusammeln, und dann werden Sie aus dem Gebäude eskortiert. Die Personalabteilung wird sich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen, um den finalen Papierkram zu erledigen, falls Sie sich um … Oh, wie hieß das noch gleich?« Er blätterte durch die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Ah, ja. Arbeitslosenunterstützung. Denn anscheinend können Sie, auch wenn Sie arbeitslos sind, in Form meiner Steuergelder dennoch am staatlichen Milchfläschchen nuckeln.« Er schüttelte den Kopf. »In gewisser Weise ist es also so, als ob ich Ihnen immer noch Gehalt zahlen würde. Nur eben nicht mehr so viel. Oder während Sie hier arbeiten. Denn das tun Sie nicht mehr.«
Ihr Lächeln verschwand. »Ich … was?«
»Sie sind gefeuert«, wiederholte Wallace langsam. Er wusste nicht, was daran so schwer zu verstehen war.
»Warum?«, fuhr sie auf.
Endlich waren sie beim Thema. Das Warum der Dinge war Wallace’ Spezialität. Nichts als die Fakten. »Wegen des Amicus-Briefs in der Cortaro-Sache. Sie haben ihn zwei Stunden nach Ablauf der Frist eingereicht. Er ist allein deshalb noch angekommen, weil Richter Smith mir einen Gefallen schuldete, und selbst das hätte beinahe nicht gereicht. Ich musste ihn daran erinnern, dass ich ihn und seine zur Geliebten gewordene Babysitterin dabei beobachtet hatte, wie … Es spielt keine Rolle. Sie hätten die Firma Tausende von Dollar kosten können, und das entspricht nicht einmal ansatzweise dem Schaden, den es unserem Klienten verursacht hätte. Diese Art von Fehler wird nicht toleriert. Ich danke Ihnen für Ihr jahrelanges Engagement für Moore, Price, Hernandez & Worthington, aber ich fürchte, Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.«
Patricia stand ruckartig auf, ihr Stuhl kratzte über die Hartholzdielen. »Ich habe ihn nicht zu spät eingereicht.«
»Doch, haben Sie«, erwiderte Wallace gemessen. »Ich habe den Zeitstempel aus dem Büro des Sachbearbeiters hier, wenn Sie ihn sehen wollen.« Er tippte mit den Fingern auf den Ordner, der auf seinem Schreibtisch lag.
Ihre Augen verengten sich. Wenigstens weinte sie nicht mehr. Mit Wut konnte Wallace umgehen. An seinem ersten Tag an der juristischen Fakultät hatte man ihm gesagt, dass Anwälte zwar unabdingbar für eine funktionierende Gesellschaft seien, aber stets allen Zorn abbekommen würden. »Selbst wenn ich ihn zu spät eingereicht habe, ist so etwas noch nie vorgekommen. Es war ein einziges Mal.«
»Und Sie können sich beruhigt in dem Wissen zurücklehnen, dass es auch nie wieder vorkommen wird«, sagte Wallace. »Denn Sie arbeiten nicht mehr hier.«
»Aber … aber mein Mann. Und mein Sohn. Und meine Tochter!«
»Richtig«, sagte Wallace. »Ich bin froh, dass Sie es ansprechen. Falls Ihre Tochter ein Stipendium von uns erhalten hat, ist es hiermit natürlich aufgehoben.« Er drückte eine Taste auf seinem Tischtelefon. »Shirley? Könnten Sie bitte an die Personalabteilung weiterleiten, dass die Tochter von Frau Ryan kein Stipendium mehr von uns erhält? Ich weiß nicht, was da zu tun ist, aber ich bin sicher, dass die irgendein Formular ausfüllen müssen, das ich unterschreiben muss. Kümmern Sie sich sofort darum.«
Die Stimme seiner Assistentin knisterte durch den Lautsprecher. »Ja, Mr. Price.«
Er sah zu seiner ehemaligen Anwaltsgehilfin auf. »So. Sehen Sie? Ich habe mich um alles gekümmert. Bevor Sie jetzt gehen, möchte ich Sie bitten, daran zu denken, dass wir Profis sind. Es gibt keinen Grund zu schreien oder mit Gegenständen zu werfen oder mit Dingen zu drohen, die zweifellos als Straftat gelten würden. Und bitte achten Sie beim Ausräumen Ihres Schreibtisches darauf, nichts mitzunehmen, was der Firma gehört. Ihre Nachfolgerin fängt am Montag an, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie es für sie wäre, wenn ihr ein Hefter oder ein Klebebandroller fehlen sollte. Was Sie sonst an Nippes angesammelt haben, gehört natürlich Ihnen.« Er nahm den Stressball mit dem Firmenlogo darauf von seinem Schreibtisch. »Die sind wunderbar, nicht? Ich meine mich zu erinnern, dass Sie zur Feier des siebenjährigen Firmenbestehens einen bekommen haben. Nehmen Sie ihn mit, mit meinem Segen. Ich habe das Gefühl, Sie werden ihn noch brauchen.«
»Sie meinen es ernst«, flüsterte Patricia.
»Todernst«, erwiderte Wallace. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss …«
»Sie … Sie … Sie Monster!«, schrie sie. »Ich verlange eine Entschuldigung!«
Natürlich tat sie das. »Eine Entschuldigung würde implizieren, dass ich etwas falsch gemacht habe. Das habe ich nicht. Wenn überhaupt, dann sollten Sie sich bei mir entschuldigen.«
Ihr Antwortschrei beinhaltete keine Entschuldigung.
Wallace behielt einen kühlen Kopf und betätigte noch einmal die Taste an seinem Tischtelefon. »Shirley? Ist der Sicherheitsdienst inzwischen eingetroffen?«
»Ja, Mr. Price.«
»Gut. Schicken Sie ihn herein, bevor ich noch etwas an den Kopf geworfen bekomme.«
Das Letzte, was Wallace Price von Patricia Ryan sah, waren ihre wild um sich tretenden Füße, als ein großer Mann namens Geraldo sie wegzerrte, wobei sie Wallace’ Warnung, keine strafpflichtigen Drohungen auszusprechen, lauthals ignorierte. Er war fast schon beeindruckt, mit welcher Hingabe Mrs. Ryan ihm einen glühenden Schürhaken in den Schlund rammen wollte, bis der Haken – wie sie es nannte – seinen Genitalbereich durchstoßen und ihm extreme Qualen verursachen würde. »Sie werden auf den Füßen landen!«, rief er ihr von der Bürotür hinterher in der Gewissheit, dass die gesamte Etage zuhörte. Alle sollten wissen, dass ihm solche Dinge nicht egal waren. »Die eine Tür schließt sich, dafür geht eine andere auf und so weiter.«
Die Fahrstuhltüren glitten zu und unterbrachen Patricias Wortschwall.
»Ah«, sagte Wallace. »So ist es schon besser. Zurück an die Arbeit, Leute. Nur weil heute Freitag ist, heißt das nicht, dass ihr faulenzen dürft.«
Alle setzten sich sofort in Bewegung.
Perfekt. Die Maschine lief wieder wie geschmiert.
Er ging zurück in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
An Patricia dachte er an diesem Nachmittag nur noch einmal, als er eine E-Mail von der Leiterin der Personalabteilung erhielt, in der sie ihm mitteilte, dass sie sich um das Stipendium kümmern würde. Das Stechen in seiner Brust kehrte zurück, aber das war in Ordnung. Auf dem Nachhauseweg würde er sich eine Packung Magensäureblocker besorgen. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr daran – oder an Patricia Ryan. Immer nach vorne schauen, sagte er sich, während er die E-Mail in einen Ordner mit der Aufschrift MITARBEITERBESCHWERDEN verschob.
Immer nach vorne.
Wallace fühlte sich besser. Wenigstens war es jetzt wieder still in seinem Büro.
Nächste Woche würde die neue Anwaltsgehilfin ihre Stelle antreten, und ihr würde er von Anfang an klarmachen, dass er keine Fehler tolerierte. Besser frühzeitig einschüchtern, als sich später mit inkompetenten Angestellten herumschlagen.
Er bekam keine Gelegenheit dazu.
Stattdessen starb Wallace Price zwei Tage später.