Der Roman
Ellen O’Farrell ist eine erfolgreiche Hypnotherapeutin und genießt ihr Leben, abgesehen von ihrem turbulenten Beziehungschaos. Sie hat sich damit arrangiert, aber langfristig wünscht Ellen sich einen Partner, der bleibt. Als sie Patrick kennenlernt, ist sie optimistisch. Er ist genau der Mann, den sie sich wünscht, und das Beste ist: Die Gefühle scheinen echt – auf beiden Seiten.
Dann kommt dieser gefürchtete Moment: Patrick bittet Ellen um ein Gespräch. Es stellt sich heraus, dass Patricks Ex-Freundin ihn stalkt. Ellen war auf das Schlimmste gefasst, nun ist sie eher positiv überrascht: »Eigentlich ist das ganz interessant, sich mit jemandem zu treffen, der es wert ist, gestalkt zu werden.« Sie ist von den Motiven der Frau fasziniert und würde sie sogar gern kennenlernen. Das hat sie bereits, nur weiß Ellen es noch nicht …
Die Autorin
Liane Moriarty lebt mit ihrer Familie in Sydney und ist seit Jahren auf den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Ihre Romane verkauften sich weltweit über 20 Millionen Mal und werden insgesamt in 46 Ländern veröffentlicht. Mit den Filmadaptionen von »Big Little Lies« und »Nine Perfect Strangers« eroberte die Autorin zudem Hollywood: Die Dramaserien von Produzent David E. Kelley, mit Nicole Kidman jeweils in der Hauptrolle, basieren auf den Büchern von Liane Moriarty. Ihr neuester Roman »Eine perfekte Familie« erscheint ebenfalls im Diana Verlag.
LIANE
MORIARTY
DIE FRAU
VON
FRÜHER
ROMAN
Aus dem Aus dem australischen Englisch
von Sylvia Strasser

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Überarbeitete Neuveröffentlichung 04/2022
Copyright © 2011 by Liane Moriarty,
Titel der australischen Ausgabe:
The Hypnotist’s Love Story
Copyright © der deutschsprachigen Übersetzung
by Bastei Lübbe AG, Köln
Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Diana Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotive: © plainpicture/Anja Weber-Decker
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-29251-5
V001
www.diana-verlag.de
Für George und Anna
1
Beim Stichwort Hypnose denkt jeder an schwingende Pendel, an den Satz »Sie werden schläfrig« und an Leute, die in Shows auf der Bühne dazu gebracht werden, wie Hühner zu gackern. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele meiner Patienten ziemlich nervös sind, wenn sie das erste Mal zu mir kommen. Aber Hypnose hat nichts Widernatürliches oder Beängstigendes an sich. Es ist sogar sehr gut möglich, dass Sie diesen tranceartigen Zustand aus eigener Erfahrung kennen. Sind Sie jemals eine vertraute Strecke gefahren und konnten sich, als Sie am Ziel angekommen waren, überhaupt nicht an die Fahrt erinnern? Sehen Sie, das kommt daher, dass Sie sich in einer Art Trance befunden haben!
AUS DER INFORMATIONSBROSCHÜRE ELLEN O’FARRELL, PRAXIS FÜR HYPNOTHERAPIE
Ich bin noch nie hypnotisiert worden. Ehrlich gesagt glaubte ich auch nicht wirklich an Hypnose. Ich hatte vor, einfach dazuliegen und so zu tun, als ob es funktionieren würde – und zu versuchen, nicht zu lachen.
»Die meisten Menschen sind überrascht, wie sehr sie es genießen, hypnotisiert zu werden«, sagte die Hypnotiseurin sanft.
Sie trug weder Make-up noch Schmuck. Ihre Haut wirkte so fein und zart und durchscheinend, als ob sie sich ausschließlich mit dem klaren Wasser von Gebirgsbächen wüsche. Sie duftete wie einer dieser überteuerten Kunstgewerbeläden, die in ländlichen Gegenden zu finden sind: nach Sandelholz und Lavendel.
Es war warm in dem winzigen Zimmer, einem ungewöhnlichen Raum, der seitlich an das Haus angebaut war wie ein verglaster Balkon. Der Teppich mit seinen verschossenen rosaroten Rosen hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber die Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, waren neu und durchfluteten den Raum mit Licht. Ich hatte das Gefühl, dass eine frische Brise durch meinen Kopf wehte. Es roch tatsächlich nach Meer.
Wir standen nebeneinander ganz nah am Fenster, die Hypnotiseurin und ich. Mit der Nase so dicht an der Scheibe konnte man den Sandstrand unterhalb des Hauses nicht sehen, nur das Meer, das sich bis zur blassblauen Linie des Horizonts erstreckte. »Als ob man auf einem Schiffsbug stünde«, sagte ich zu der Hypnotiseurin. Sie schien sich unbändig über diese Bemerkung zu freuen und riss die Augen weit auf. Ihr gehe es ganz genauso, meinte sie.
Wir setzten uns einander gegenüber, ich in einen Ruhesessel aus weichem grünem Leder, sie in einen rot-beige gestreiften Lehnsessel. Auf einem niedrigen Beistelltisch zwischen uns lag eine Schachtel Papiertaschentücher. Wahrscheinlich muss der eine oder andere weinen, wenn er sich an sein früheres Leben als hungernder Bauer erinnert; daneben standen ein Krug eisgekühltes Wasser, auf dem zwei kreisrunde Zitronenscheiben schwammen, sowie zwei hohe Gläser, eine kleine Silberschale mit Konfekt und ein flaches Tablett mit kleinen bunten Glasmurmeln.
Ich besaß einmal eine große, altmodische Murmel, die meinem Vater gehört hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Ich hatte sie bei Prüfungen und Bewerbungsgesprächen immer als Glücksbringer in der Hand gehalten. Aber dann, vor ein paar Jahren, habe ich sie verloren und mein Glück mit ihr.
Ich schaute mich um. Das gleißende Licht wurde vom Meer wie von einem Prisma an die Wände zurückgeworfen, was in der Tat eine hypnotisierende Wirkung hatte. Die Hypnotiseurin hatte die Hände im Schoß gefaltet und ihre Füße nebeneinander auf den Boden gestellt. Sie trug flache Ballerinas, schwarze Strümpfe, einen bestickten Rock im Folklorelook und einen cremefarbenen Wickelcardigan – New Age und klassisch zugleich.
Was für ein herrliches, ruhiges Leben du haben musst, dachte ich. Jeden Tag in diesem außergewöhnlichen Zimmer sitzen zu dürfen, in tanzendes Licht gehüllt. Keine E-Mails, die deinen PC-Bildschirm bombardieren, keine erbosten Anrufe, die deinen Kopf überschwemmen. Keine Besprechungen, keine Tabellen.
Ich konnte ihre Zufriedenheit förmlich riechen, Übelkeit erregend wie der Geruch eines billigen Parfüms. Nicht, dass sie jemals ein billiges Parfüm benutzen würde. Ich schmeckte den sauren Geschmack von Neid. Um ihn loszuwerden, nahm ich mir ein Konfekt.
»Oh, gute Idee, ich werde mir auch eins nehmen«, sagte die Hypnotiseurin mit kumpelhafter Herzlichkeit, als wären wir alte Freundinnen.
Sie ist dieser Typ. Sie hat wahrscheinlich eine ganze Schar kichernder, reizender Freundinnen, die immer für sie da sind, die sich zur Begrüßung umarmen und Sex-and-the-City-DVD-Abende veranstalten und lange Telefonate mit viel Gekreische führen, in denen es nur um Männer geht.
Sie klappte das Notizbuch, das in ihrem Schoß lag, auf und fing, den Mund auf bezaubernde Weise voll mit Schokolade, zu reden an. »Bevor wir anfangen, werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte sie. »O je, ich hätte mir was anderes nehmen sollen. Das Karamell ist ganz schön klebrig.«
»Was machen Sie beruflich?«, »Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?«, »Was essen Sie am liebsten?« So viele Fragen hatte ich nicht erwartet. Die meisten beantwortete ich ehrlich. Sie waren ziemlich harmlos. Um nicht zu sagen ein bisschen erbärmlich.
Schließlich lehnte sich die Hypnotiseurin zurück, lächelte und fragte: »Erzählen Sie, was führt Sie zu mir?«
Diese Frage habe ich natürlich nicht hundertprozentig ehrlich beantwortet.
Er sagte: »Ich muss dir etwas sagen.«
Er hatte Messer und Gabel auf den Tellerrand gelegt und sich kerzengerade hingesetzt, so als ob er sich endlich dazu durchgerungen hätte, den Dingen ins Auge zu blicken. Er wirkte bedrückt und ein wenig verlegen.
Ellen spürte sofort, wie ihr Magen sich schmerzhaft verkrampfte. Ein Teil ihres Verstandes registrierte, wie ihr Körper zuerst reagierte. Es war immer wieder faszinierend, dieses Zusammenspiel von Kopf, Körper und Seele in Aktion zu erleben. Ihr glückliches, offenes Lächeln blieb dummerweise auf ihrem Gesicht festgefroren.
Sie war fünfunddreißig. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Dieser nette Mann, dieser selbstständige Vermessungsingenieur, dieser alleinerziehende Vater, der Zelten und Kricket und Countrymusik liebte, war im Begriff, etwas zu sagen, was ihr ihren Barramundi in Weißweinsoße gründlich verderben würde. Er war im Begriff, etwas zu sagen, was ihr den ganzen restlichen Tag verderben würde, und es war ein so schöner Tag gewesen, und der Fisch schmeckte wirklich ganz ausgezeichnet.
Bedauernd legte sie ihre Gabel aus der Hand.
»So? Was denn?«, fragte sie in angenehm verwundertem Ton, während sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte, als mache er sich darauf gefasst, geschlagen zu werden.
Sie würde es schon verkraften. Die Welt würde deswegen nicht untergehen. Das war schließlich erst ihre vierte Verabredung. Sie hatte noch nicht allzu viele Gefühle investiert. Im Grunde kannte sie den Mann kaum. Großer Gott, er war ein Fan von Countrymusik! Das hätte ihr gleich eine Warnung sein sollen. Sicher, sie hatte sich vor dem Essen in der Badewanne ein paar hoffnungsvollen Tagträumen hingegeben, aber diese Gefahr brachte ein Date immer mit sich. Sie dachte bereits voraus, arbeitete an ihrer seelischen Gesundung. Bis Mittwoch würde sie darüber hinweg sein. Donnerstag, spätestens. Gott sei Dank hatte sie nicht mit ihm geschlafen.
Sie hatte keine Kontrolle über das, was passieren würde, nur über ihre eigene Reaktion darauf. Eine Sekunde lang sah sie ihre Mutter vor sich, wie sie vielsagend die Augen verdrehte. Sag mal, Ellen, Schatz, glaubst du diesen simplen Selbsthilfequatsch, den du da von dir gibst, wirklich?
Ja, sie glaubte tatsächlich daran. Felsenfest. Ihre Mutter hatte sich später für ihre Bemerkung entschuldigt. »Ich glaube, das war ein bisschen herablassend«, sagte sie, und Ellen tat, als falle sie ob dieser unerwarteten Entschuldigung gleich in Ohnmacht.
»Äh … Würdest du mich einen Augenblick entschuldigen?« Er stand auf, und seine Serviette rutschte ihm vom Schoß und fiel auf den Boden. Er bückte sich, hob sie mit rotem Kopf auf und legte sie behutsam neben seinen Teller.
Ellen schaute zu ihm auf.
»Ich will nur schnell …« Er machte eine Handbewegung zum hinteren Teil des Restaurants hin.
»Sicher, geh nur«, meinte sie beruhigend.
»Dort hinten links, Sir.« Ein Kellner deutete diskret in die Richtung, in der sich die Toiletten befanden.
Ellen sah ihm nach.
Patrick Scott. Eigentlich gefiel ihr schon sein Name nicht – Patrick. Das klang irgendwie so affig. Das war ein Name für einen Friseur. Seine Freunde nannten ihn anscheinend Scottie, was … na ja, was in Australien unter guten Kumpels absolut akzeptabel war.
Wenn er jetzt Schluss machte, würde es wehtun, keine Frage. Ein kleiner Stich, aber ein schmerzhafter. Patrick Scott war kein außergewöhnlich toller Mann. Er hatte ein gewöhnliches, nettes Gesicht (lang, schmal, Stirnglatze im Anfangsstadium), eine gewöhnliche Figur (mittelgroß, ziemlich breite Schultern, von Natur aus breite Schultern, keine »He-seht-her-ich-trainiere-im-Fitnessstudio«-Schultern), einen gewöhnlichen Beruf, ein gewöhnliches Leben. Das Außergewöhnliche an ihm war nur, dass sie sich praktisch vom ersten Moment an so wohl gefühlt hatte in seiner Gesellschaft, gleich bei ihrem allerersten Treffen in diesem Café, das so unangenehm leer gewesen war.
Sie selbst hatte es vorgeschlagen, und sie war ganz entsetzt gewesen, als sie sah, dass sie praktisch die einzigen Gäste waren. Ihre Stimmen, nervös, wie das bei einem ersten Date meistens der Fall ist, hatten sich unnatürlich laut angehört, und die drei halbwüchsigen, gelangweilten Kellnerinnen hatten herumgestanden und nichts Besseres zu tun gehabt, als ihrer gestelzten Unterhaltung zu lauschen. Während sie auf ihre Cappuccinos warteten, hatte er mit einem kleinen Beutel Zucker gespielt, und als sich ihre Blicke irgendwann trafen, mussten sie beide angesichts dieser peinlichen Situation schmunzeln, und Ellen spürte, wie die Anspannung schlagartig von ihr abfiel, so als hätte sie eine starke Schmerztablette genommen. Es kam ihr so vor, als ob sie diesen Mann bereits kannte, seit etlichen Jahren gut kannte. Würde sie an ein früheres Leben glauben – und es war keineswegs so, dass sie diese Möglichkeit völlig ausschloss, in ihrer Praxis hatte sie schon alles Erdenkliche erlebt, daher stand sie selbst den absurdesten Möglichkeiten aufgeschlossen gegenüber –, hätte sie gesagt, sie mussten einander zuvor einmal begegnet sein.
Dieses Gefühl spontaner Sympathie hatte sie schon viele Male mit anderen Frauen erlebt (oh, in puncto Freundschaft mit Frauen war sie ganz groß), aber noch nie mit einem Mann.
Und daher würde es wehtun, wenn dieser nette Vermessungsingenieur namens Patrick Scott, den sie kaum kannte, jetzt mit ihr Schluss machte. Wahrscheinlich würde es ihr mehr als nur einen kleinen Stich versetzen.
Sie dachte an die vielen Hundert oder sogar Tausend Geschichten über Zurückweisung, die sie im Lauf der Jahre von ihren Patienten gehört hatte. »Ich hatte ein Drei-Gänge-Menü für seine Verwandtschaft gekocht, und beim Geschirrspülen teilt er mir mit, dass er mich nicht mehr liebt.« Oder: »Wir hatten einen tollen Urlaub auf den Fidschis verbracht, und auf dem Rückflug bestellen wir Champagner, und sie erklärt mir, dass sie ausziehen wird. Champagner! Als ob das ein Grund zum Feiern wäre!«
Oh, dieser nackte Schmerz auf ihren gequälten Gesichtern, selbst wenn die geschilderten Ereignisse Jahre zurücklagen. Die Zurückweisung durch einen Geliebten/eine Geliebte oder auch nur durch einen potenziellen Geliebten/eine potenzielle Geliebte war ein schwerer Schlag für das Kind in einem Menschen. Verlustängste, Erinnerungen an alte Verletzungen, Minderwertigkeitsgefühle und Selbsthass: Alles wurde in einem mächtigen, unaufhaltsamen Strom wieder an die Oberfläche gespült.
Ellen versuchte, ihre Situation objektiv zu betrachten, als wäre es die Fallstudie eines Patienten, weil sie hoffte, dadurch Distanz wahren zu können. Es funktionierte nicht.
Natürlich war es möglich, dass sie ganz umsonst in Panik geraten war. Vielleicht hatte Patrick gar nicht die Absicht, sie abzuservieren. Es hatte keinerlei Hinweise darauf gegeben, und sie war sehr gut im Analysieren menschlichen Verhaltens. Schließlich war das ihr Beruf.
Sie sehe einfach hinreißend aus, hatte er gesagt, als er sie abgeholt hatte, und dabei ein so erfreutes Gesicht gemacht, als hätte man ihm soeben ein kostbares Geschenk überreicht. Und er war keineswegs der aalglatte Charmeur, der zwangsläufig wusste, was eine Frau hören wollte. Beim Essen hatte es zwischen ihnen viel Blickkontakt gegeben, einige davon sicher länger, als unbedingt nötig gewesen wäre. Außerdem war ihr aufgefallen, wie oft er sich über den Tisch zu ihr gebeugt hatte. Was natürlich auch daher rühren mochte, dass er ein wenig schwerhörig war; sie wusste aus beruflicher wie aus privater Erfahrung, dass erstaunlich viele Männer nicht gut hörten.
Ihrer beider Körpersprache und ihr Atemrhythmus befanden sich im Einklang, und das nicht etwa, weil sie sich ihm angepasst hätte, zumindest nicht bewusst, wie sie es bei einem Patienten getan hätte. Es hatte weder Augenblicke peinlichen Schweigens noch unbehaglicher Verlegenheit gegeben. Er hatte auf respektvolle Art Interesse an ihrem Beruf gezeigt. Er hatte sie nicht aufgefordert: »Na los, hypnotisier mich! Lass mich gackern wie ein Huhn!« Er grinste nicht verächtlich oder, schlimmer noch, wies sie in leicht herablassendem Ton darauf hin, dass er eigentlich nichts von »alternativen Heilmethoden« hielt. Er sagte nicht »Braucht man dafür eigentlich eine Ausbildung?« oder »Kann man damit tatsächlich Geld verdienen?« Er schien keine Angst zu haben. Sie war schon mit Männern ausgegangen, die ernsthaft fürchteten, sie könnte sie ohne ihr Wissen hypnotisieren. Er dagegen schien einfach nur neugierig.
Und außerdem hatte er ihr noch vor wenigen Minuten Fotos von seinem Sohn gezeigt. Von seinem süßen, blonden, achtjährigen Sohn, wie er auf einem Skateboard fuhr, Posaune in einer Schulband spielte, mit seinem Dad angelte. Er hätte ihr doch bestimmt nicht diese Fotos gezeigt, wenn er der Meinung wäre, dass aus ihnen beiden sowieso nichts werden würde.
Es sei denn, diese Erkenntnis wäre ihm schlagartig gekommen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, wie abrupt er sein Besteck aus der Hand gelegt und dabei über ihre Schulter geschaut hatte, als hätte er irgendwo in der Ferne einen Blick auf eine andere Zukunft erhascht. Er hatte sie sogar mitten im Satz unterbrochen! Sie hatte ihm gerade von einem Patienten erzählt, der von Jennifer Lopez besessen war. Eigentlich war es Michael Jackson, aber Einzelheiten wie diese änderte sie aus Gründen der Schweigepflicht immer ab. Außerdem war die Geschichte lustiger mit Jennifer Lopez.
Er hatte plötzlich so ein trauriges Gesicht gemacht. Selbst wenn er nicht Schluss machen wollte, würde er ihr mit Sicherheit etwas Unerfreuliches oder Unannehmbares mitteilen.
Vielleicht hatte er sie belogen und war gar nicht verwitwet, sondern immer noch verheiratet, aber seine Frau und er schliefen in getrennten Zimmern.
Oder er war gar kein Vermessungsingenieur, sondern ein Gangster. Jetzt würde das FBI sie in die Mangel nehmen und so lange Druck auf sie ausüben, bis sie einwilligte, sich verkabeln zu lassen. Ihre Leiche würde nie gefunden werden. (Sie hatte sich letzten Sommer alle Staffeln von Die Sopranos auf DVD angesehen.)
Oder er war todkrank. Das wäre furchtbar, würde sie aber wenigstens nicht persönlich verletzen.
Was auch immer es sein mochte: Sie war sich ziemlich sicher, dass das wonnigliche Gefühl, das sie den ganzen Tag über begleitet hatte, sich in Kürze verflüchtigen würde.
Ellen nahm einen kräftigen Schluck Wein und schaute auf. Patrick war nirgends zu sehen. Du meine Güte, der ließ sich aber Zeit. Hatte er sich Wasser ins Gesicht gespritzt, klammerte er sich jetzt an den Rand des Waschbeckens und starrte schwer atmend sein Spiegelbild an?
Er war auf der Flucht vor der Polizei.
Ellen spürte, wie ihre Atmung sich beschleunigte.
Sie hat mehr Fantasie, als gut für sie ist. Diese Bemerkung hatte Mrs. Pascoe ihr in der siebten Klasse ins Zeugnis geschrieben.
Sie guckte sich um. Die anderen Gäste waren in ihre Gespräche vertieft, Besteck schlug leise klirrend an Teller, gelegentlich erscholl gedämpftes Gelächter. Niemand achtete auf die Frau, die einem leeren Stuhl gegenübersaß.
Hatte sie noch Zeit? War es wirklich nötig?
Ja.
Sie setzte sich gerade hin, legte ebenfalls Messer und Gabel auf den Tellerrand und ihre Hände auf die Oberschenkel. Dann schloss sie die Augen und atmete durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Bei jedem Atemzug stellte sie sich vor, wie ein starkes goldenes Licht, das ihr Energie und Kraft verlieh, in ihren Körper strömte, von den Füßen aufwärts in ihre Beine, ihren Bauch, ihre Arme und zu guter Letzt in ihren Kopf, dann hüllte es sie vollständig ein. Ein goldener Schimmer war alles, was sie hinter geschlossenen Lidern sehen konnte, als ob sie in die untergehende Sonne schaute, und einen Augenblick lang kam es ihr so vor, als schwebte sie ein paar Zentimeter über dem Boden.
Es ist alles in Ordnung. Egal, was er zu mir sagen wird, es wird mich nicht in meinem Innersten treffen. Ich werde damit umgehen können. Ich zähle jetzt bis drei: eins … zwei …
Als sie die Augen wieder aufschlug, fühlte sie sich frisch und energiegeladen. Verstohlen schaute sie sich um. Niemand starrte zu ihr her. Sie wusste natürlich, dass sie nicht wirklich über ihrem Stuhl geschwebt und dabei wie eine Glühbirne geleuchtet hatte, aber manchmal waren diese Empfindungen so realistisch, dass sie nicht glauben konnte, nichts davon habe sich irgendwie sinnlich wahrnehmbar manifestiert.
Selbsthypnose war etwas Wundervolles. Ellen konnte es ihren Schülern oder Patienten immer ansehen, wenn sie die Technik begriffen und zum ersten Mal erfolgreich angewandt hatten. Die Macht ihres Verstandes machte sie buchstäblich sprachlos. Als sie sich selbst das allererste Mal in diesen scheinbaren Schwebezustand versetzt hatte, war es, als hätte sie herausgefunden, dass sie fliegen konnte. Sie dachte oft, das Drogenproblem wäre mit einem Schlag gelöst, wenn sie den jungen Leuten nur Selbsthypnose beibringen könnte.
Patrick war noch immer nicht zurück. Ellen blickte auf ihren vollen Teller. Eigentlich schade drum. Aber wieso sollte sie das Essen nicht genießen? Sie nahm ihre Gabel wieder auf. Ein vorübereilender Kellner blieb stehen und schenkte ihr nach. Guter Wein, guter Fisch. Zu dumm, dass sie kein Buch mitgenommen hatte.
Sie dachte über ihren Tag nach.
Bis zu dem Augenblick, als Patrick Messer und Gabel beiseitegelegt hatte, war es perfekt gewesen, einfach wunderschön. Ellen hatte tief und traumlos zum Trommeln des Regens auf ihrem Dach geschlafen und war spät am Morgen vom Sonnenschein auf ihrem Gesicht geweckt worden. Das Erste, was sie sah, als sie die Augen aufschlug, war der Zweig, den sie an der Decke aufgehängt hatte. Er sollte sie immer an das buddhistische Sutra der Achtsamkeit erinnern. Dann hatte sie dreimal langsam ein- und wieder ausgeatmet und dabei die ganze Zeit die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln verzogen.
Sie wünschte, sie hätte ihrer Freundin Julia nie davon erzählt. Julia hatte sie um eine Kostprobe dieses angedeuteten Lächelns gebeten. Als Ellen sich nach langem Bitten endlich dazu bereit erklärte, hatte sich Julia geschlagene zehn Minuten lang die Seiten gehalten vor Lachen.
Die Fensterscheiben hatten sich eiskalt angefühlt, als Ellen aufgestanden war, aber die neue Gasheizung, die ihre Großeltern noch kurz vor ihrem Tod hatten einbauen lassen – dank Großtante Marys Lottogewinn –, sorgte rasch für wohlige Wärme im ganzen Haus. Sie aß Haferbrei mit Rohrzucker zum Frühstück und hörte dabei die Nachrichten auf ABC, die schon einmal schlechter gewesen waren: Die Grippepandemie der letzten Wochen war vermutlich gar keine Pandemie (ihre Mutter, Ärztin von Beruf, hatte das schon die ganze Zeit behauptet), ein vermisstes Kleinkind war wohlbehalten wieder aufgetaucht, bei dem vermeintlichen Bandenkrieg mit Todesopfern handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Familientragödie, der jüngste Politskandal war verebbt, auf den Straßen gab es keine nennenswerten Behinderungen, der Wind würde schwach aus südwestlichen Richtungen wehen. Es hatte den Anschein, als wäre die Welt ausnahmsweise einmal äußerst überschaubar.
Nach dem Frühstück hatte sich Ellen zu einem Strandspaziergang aufgerafft, von dem sie gut gelaunt und windzerzaust und mit einem salzigen Geschmack auf den Lippen zurückkam.
Sie hatte vier Patienten an diesem Tag. Ein Mann, der seine Flugangst überwinden wollte, damit er und seine Frau ihre Rubinhochzeit in Frankreich feiern konnten, war das letzte Mal zu ihr gekommen. Er hatte sich mit einem kräftigen Händedruck und dem Versprechen, Ellen eine Ansichtskarte aus Paris zu schicken, von ihr verabschiedet. Sie hatte außerdem zwei neue Patienten gehabt, und sie liebte es, neue Patienten kennenzulernen. Die eine Patientin war eine Frau, die seit vier Jahren an rätselhaften Schmerzen im Bein litt und bereits zahllose Ärzte, Physiotherapeuten und Chiropraktiker aufgesucht hatte, aber keiner hatte ihr helfen können, niemand wusste sich einen Reim darauf zu machen. Die andere hatte ihrem Verlobten versprochen, bis zur Hochzeit das Rauchen aufzugeben. Beide Sitzungen waren gut gelaufen.
Ihre letzte Patientin an diesem Tag würde Ellen vermutlich nicht auf die Liste ihrer erfolgreich therapierten Patienten setzen können. Sie verstand nicht so recht, was Mary-Beth eigentlich von der Hypnotherapie erwartete, aber die Frau weigerte sich, an jemand anderen überwiesen zu werden, und bestand darauf, die Therapie fortzusetzen. Ellen hatte sich für diesen Tag nichts Kompliziertes vorgenommen, sondern machte lediglich einige Entspannungsübungen mit ihr. »Seelenmassage« nannte sie das. Ihre Seele fühle sich genauso an wie vorher. Vielen Dank, meinte Mary-Beth danach, aber das war typisch für sie.
Als Mary-Beth gegangen war, hatte Ellen im ganzen Haus geputzt, aber da und dort etwas herumliegen lassen, damit es nicht zu sauber und aufgeräumt aussah, sondern eher so, als wäre sie von Natur aus ein ordentlicher Mensch. Sie hatte überlegt, ob sie ein paar von den buddhistischen Sprüchen, die auf blasslila Haftnotizzetteln überall hingen, abnehmen sollte. Jon, ihr Ex-Freund, hatte sich immer darüber lustig gemacht. Er stand zum Beispiel am Kühlschrank und las die Zitate laut und mit Blödelstimme vor. Aber ihr wahres Ich zu verbergen war nicht unbedingt der beste Weg, eine potenzielle neue Beziehung zu beginnen, oder?
Sie hatte auch ihr Bett frisch bezogen, mit der schönsten Bettwäsche, die sie im Schrank hatte. Es dürfte mittlerweile an der Zeit sein, mit ihm zu schlafen, hatte sie gedacht. Sicher, das war nüchtern und unpoetisch, aber so war das nun einmal, wenn man jenseits der dreißig war. Die Zeit des Blumen- und Herzenschenkens war vorbei. Sie waren keine sechzehn mehr. Und religiös waren sie auch nicht. Sie hatten sich im Internet kennengelernt, über ein Partnerportal. Sie hatten alles offengelegt, es war von vornherein alles klar. So wünschten sie sich beide eine langfristige Beziehung. Sowohl Ellen als auch Patrick hatten die entsprechenden Kästchen angekreuzt.
Geküsst hatten sie sich schon ein paarmal (und es war schön gewesen), aber jetzt war es an der Zeit für Sex. Ellen war seit einem knappen Jahr solo; dabei liebte sie Sex. Manche Männer reagierten erstaunt darauf. Sie stellten sich Ellen anfangs als vergeistigtes Wesen voll süßer Unschuld vor, was ihr nichts ausmachte, im Gegenteil, sie bestärkte sie sogar ein bisschen in dem Glauben. Doch dieses Bild von ihr war nicht ganz korrekt. Sie liebte auch Horrorfilme und Kaffee und halbblutige Steaks. Viele Leute waren davon überzeugt, dass sie Vegetarierin war, ja, sie dachten, dass sie eine Kräutertee trinkende Vegetarierin sein sollte, und gingen sogar so weit, bei Einladungen spezielle Speisen für sie zuzubereiten und dann zu behaupten, sie könnten sich ganz genau daran erinnern, dass sie gesagt habe, sie esse kein Fleisch.
Sie hatte sich Zeit genommen für ihre Vorbereitungen für diesen Abend. Als Erstes ein langes, dampfendes Bad mit einem Glas Wein und einer CD von Violent Femmes. Die durchdringenden Stimmen und aggressiven Instrumentalklänge unterschieden sich so dramatisch vom sanften Säuseln der Entspannungs-CDs, die den ganzen Tag in ihrer Praxis liefen, dass sie wie eine eiskalte Dusche auf Ellen wirkten. Violent Femmes ließ Erinnerungen an die Achtzigerjahre und an ihre vor Hormonen und Hoffnungen strotzende Teenagerzeit Anfang der Neunziger wach werden.
Als Patrick an ihre Tür klopfte, befand sie sich in einer solchen Hochstimmung, dass ihr unwillkürlich ein bisschen Angst wurde, und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Das wird ein böses Erwachen geben.
Aber sie hatte diesen Gedanken verscheucht. Und jetzt dieses … »Ich muss dir etwas sagen.«
Ellen legte ihre Gabel erneut aus der Hand. Wo blieb der Mann bloß so lange? Sie bemerkte, dass einer der Kellner ihr einen verstohlenen Blick zuwarf, so als überlegte er, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte.
Sie schaute auf Patricks halb aufgegessene Mahlzeit. Er hatte den Schweinebauch bestellt. Wie kann man nur, hatte sie gedacht, aber sie kannte ihn noch nicht lange genug, um ihn damit aufzuziehen. Schweinebauch! Das hörte sich schon so widerlich an, und jetzt lag das Ding wie ein Klumpen kaltes, erstarrendes Fett auf seinem Teller.
Falls er sich ausschließlich von so ungesunden Sachen ernährte, die die Arterien verstopften, hatte er vielleicht in der Toilette einen tödlichen Herzanfall erlitten. Ellen überlegte, ob sie den besorgt dreinblickenden Kellner bitten sollte, einmal nachzusehen. Aber wenn Patrick nun der Schweinebauch nicht bekommen war und er sich übergeben musste? Dann wäre es ihm garantiert peinlich, vom Kellner dabei überrascht zu werden. Na ja, ihr wäre es garantiert peinlich. Ein Mann sah das vielleicht anders.
Sie war entschieden zu alt für diese Ängste, die mit ersten Verabredungen verbunden waren. Sie sollte zu Hause sitzen und Kuchen backen oder was auch immer Mütter abends taten.
Ellen schaute auf, und da war er endlich. Er ging auf sie zu. Er wirkte aufgewühlt, so als hätte er gerade einen kleinen Autounfall gehabt, und gleichzeitig peinlich berührt. Das Spiel ist aus, schien sein Gesichtsausdruck zu besagen, als wäre er bei einem Banküberfall erwischt worden und würde mit erhobenen Händen abgeführt werden.
Er setzte sich, breitete die Serviette über seinem Schoß aus und griff zu Messer und Gabel. Einen Augenblick starrte er den Schweinebauch an, seufzte dann und legte sein Besteck wieder beiseite.
»Du denkst wahrscheinlich, ich bin nicht ganz dicht«, sagte er.
»Na ja, ich würde schon gern wissen, was los ist«, erwiderte Ellen im leutseligen Ton einer Frau mittleren Alters.
»Ich hatte gehofft, ich würde es dir erst später sagen müssen, wenn wir … Aber dann ist mir klar geworden, dass ich nicht länger warten kann.«
»Lass dir ruhig Zeit.« Im gleichen geduldigen, leicht singenden Tonfall sprach Ellen mit ihren Patienten. »Ich werde schon damit klarkommen, was es auch sein mag.«
»Es ist nichts Schlimmes«, entgegnete Patrick hastig. »Im Grunde ist es nur peinlich. Es ist … Ich will nicht lange drum herumreden, deshalb sage ich einfach, wie es ist.« Er verstummte und grinste dümmlich. »Ich habe eine Stalkerin.«
Einen Moment lang war Ellen nicht ganz klar, was er damit meinte. Sie drehte die Worte im Geist hin und her, als müsste sie sie aus einer fremden Sprache übersetzen.
Ich habe eine Stalkerin.
Schließlich sagte sie: »Du wirst von einer Stalkerin bedrängt?«
»Sie stellt mir schon seit gut drei Jahren nach. Meine Ex-Freundin. Manchmal verschwindet sie eine Zeit lang von der Bildfläche, nur um sich dann umso hartnäckiger wieder in mein Leben zu drängen.«
Ellen verspürte grenzenlose Erleichterung. Jetzt, wo sie wusste, dass er nicht die Absicht hatte, sie abzuservieren, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn mochte, wie sehr sie hoffte, dass es mit ihnen beiden funktionieren würde, und dass sie beim Wimperntuschen tatsächlich gedacht hatte: Ich könnte mich in ihn verlieben. Patrick war der Grund für ihre euphorische Stimmung den ganzen Tag über. Er und nicht das Wetter oder ihr süßer Haferbrei oder die neue Gasheizung oder die Morgennachrichten.
Von einer Ex-Freundin gestalkt zu werden? Wunderbar!
Das war spannend.
Andererseits, wenn sie darüber nachdachte, was Stalking bedeutete …
Briefe aus Buchstaben, die aus Zeitungen und Illustrierten ausgeschnitten worden waren. Mit Blut an Wände geschriebene Botschaften. Verrückte Fans, die die Häuser von Prominenten belagerten. Gewalttätige Männer, die ihre Ex-Frauen niederschossen.
Aber wer stellte schon einem Vermessungsingenieur nach? Selbst wenn dieser ein besonders bezauberndes Kinn hatte?
»Wie muss ich mir dieses Stalking vorstellen?«, fragte Ellen. »Ist die Frau gewalttätig?«
»Nein.« Patrick machte ein Gesicht, als würde er gezwungen, eine Reihe äußerst intimer medizinischer Fragen zu beantworten. »Sie hat mich nie körperlich attackiert. Gelegentlich brüllt sie mich an. Wird ausfallend. Sie ruft mich mitten in der Nacht an, schickt Briefe, E-Mails, SMS-Nachrichten. Meistens ist sie einfach nur da, wo ich bin.«
»Du meinst, sie verfolgt dich?«
»Ja. Überallhin.«
»Du meine Güte, das muss ja furchtbar sein!« Da war sie wieder, diese Frau mittleren Alters. »Warst du schon bei der Polizei?«
Er rutschte sichtlich unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Ja. Ein Mal. Ich habe mit einer Beamtin gesprochen, aber ich weiß nicht, ob sie … Ich meine, sie hat all die richtigen Dinge gesagt, aber ich kam mir vor wie ein Trottel, wie ein Weichei. Sie hat mir vorgeschlagen, ein Tagebuch über die Vorfälle zu führen, alles genau festzuhalten, und das habe ich gemacht. Sie meinte auch, ich könne eine einstweilige Verfügung erwirken. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, aber als ich meiner Ex erzählte, dass ich bei der Polizei war, sagte sie, wenn ich weitere Schritte gegen sie unternähme, würde sie der Polizei erzählen, dass ich sie belästige und dass ich sie auch schon geschlagen hätte. Na ja, ich bin der Mann, wem werden sie da wohl glauben? Ihr natürlich. Also habe ich einen Rückzieher gemacht. Ich hoffe immer noch, dass sie irgendwann damit aufhört. Und unterdessen vergeht ein Jahr nach dem anderen. Ich kann gar nicht glauben, dass sich diese Geschichte jetzt schon so lange hinzieht.«
»Das ist bestimmt ganz schön …« Beängstigend hatte Ellen sagen wollen, fürchtete aber, sein zartes Ego damit zu verletzen. Das Ego eines Mannes war ihrer Meinung nach so zerbrechlich wie eine Eierschale. So sagte sie stattdessen: »… stressig.« Es gelang ihr nicht ganz, den freudigen Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Anfangs hat es mir gewaltig zu schaffen gemacht«, gab Patrick zu. »Inzwischen habe ich es irgendwie akzeptiert. Gestalkt zu werden gehört sozusagen zu meinem Leben. Aber es stellt eine massive Belastung für neue Beziehungen dar. Manche Frauen geraten regelrecht in Panik. Einige sagen am Anfang zwar, es mache ihnen nichts aus, sie kämen schon damit klar, aber dann können sie doch nicht damit umgehen.«
»Ich schon, ich schaffe das«, erklärte Ellen schnell, als handele es sich um ein Vorstellungsgespräch, bei dem sie beweisen wollte, dass sie den Anforderungen gewachsen war. Sooft ihr ein Mann von den Fehlern seiner früheren Freundinnen erzählte, wurde in ihr der peinliche Drang geweckt, darauf hinzuweisen, dass sie diese Fehler bestimmt nicht machte.
Verlegen griff sie nach ihrem Glas und nahm einen kräftigen Schluck Wein. Sie hatte sich gerade eben in die Karten schauen lassen. Im Grunde hatte sie nichts anderes gesagt als: Ich wünsche mir eine Beziehung mit dir.
Sie starrte angestrengt mit gerunzelter Stirn in ihr Glas. Als sie nach einer ganzen Weile wieder aufblickte, sah sie, dass Patrick lächelte, ein strahlendes Lächeln ungetrübter Freude, das seine Augenwinkel in kleine Fältchen zerknitterte. Er langte über den Tisch und ergriff ihre Hand.
»Das hoffe ich«, sagte er. »Ich habe nämlich ein wirklich gutes Gefühl dabei. Das mit uns, meine ich. Die Vorstellung von uns beiden.«
»Die Vorstellung von uns beiden«, wiederholte Ellen.
Sie ließ sich die Worte genüsslich auf der Zunge zergehen und schwelgte im beseligenden Gefühl seiner Berührung. So ein Unsinn, dass man jenseits der dreißig in puncto Beziehungen pragmatisch und abgestumpft wurde! Die Berührung seiner Hand überschwemmte ihre Blutbahnen mit Endorphinen. Sie kannte die wissenschaftlichen Erklärungen für das Phänomen Liebe, sie wusste, dass in diesem Moment Glückshormone oder »Liebeschemikalien« (Noradrenalin, Serotonin und Dopamin) in ihrem Gehirn freigesetzt wurden, doch deswegen war sie nicht weniger empfänglich dafür als jeder andere.
Schön, jetzt hatten sie beide ihre Karten auf den Tisch gelegt.
»Warum hast du mir gerade heute Abend davon erzählt?«, fragte Ellen. Er malte mit dem Daumen kleine Kreise auf ihre Handfläche. Ellen musste an einen alten Kindervers denken: Dreh dich, kleiner Kreisel, dreh dich immerzu … »Von deiner Stalkerin, meine ich.«
Sein Daumen hielt abrupt inne. »Ich habe sie gesehen.«
»Was?« Ellens Blicke huschten suchend durch das Restaurant. »Du meinst, hier?«
Patrick nickte. »Sie hat an einem Tisch am Fenster gesessen.« Er deutete mit dem Kinn über Ellens Schulter. Als Ellen sich umdrehen wollte, sagte er: »Keine Sorge, sie ist fort.«
»Was hat sie gemacht? Uns nur beobachtet?«
Ellen spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie wusste nicht so recht, was sie fühlte. Angst und vielleicht eine Spur prickelnde Erregung.
»Sie hat eine SMS geschrieben«, antwortete Patrick matt.
»An dich?«
»Vermutlich. Ich hab mein Handy ausgeschaltet.«
»Willst du die Nachricht nicht lesen?«, fragte Ellen, weil sie die Nachricht lesen wollte.
»Nicht unbedingt«, erwiderte er. »Eigentlich überhaupt nicht.«
»Wann ist sie gegangen?« Hätte Ellen es früher gewusst, hätte sie die Frau vielleicht sehen können.
»Sie ist mir gefolgt, als ich zur Toilette ging. Wir haben im Gang ein paar Worte gewechselt. Deshalb hat es so lange gedauert. Sie hat gesagt, dass sie geht, und das hat sie Gott sei Dank auch gemacht.«
Dann musste sie direkt an ihrem Tisch vorbeigekommen sein! Ellen durchforschte ihr Gedächtnis auf der Suche nach einer Frau, die an ihr vorbeigegangen war, konnte sich jedoch nicht erinnern. Wahrscheinlich hatte sie gerade die Augen zugehabt für ihre Selbsthypnose. Verdammt!
»Was hat sie gesagt? War es ihr nicht peinlich?«
»Sie tut jedes Mal so, als ob wir uns rein zufällig begegnet wären. Erbärmlich! Irgendwie erwartet man, dass sie wie eine Verrückte aussieht, mit wirren Haaren und abgerissener Kleidung und so, aber sie sieht ganz normal aus, gefasst und diszipliniert. Manchmal zweifele ich an mir selbst, als würde ich mir das alles nur einbilden. Sie ist eine erfolgreiche Karrierefrau. Eine wirklich angesehene Karrierefrau. Kaum zu glauben, oder? Was ihre Kollegen wohl sagen würden, wenn sie wüssten, was sie in ihrer Freizeit tut. Egal. Wollen wir nicht über etwas Erfreulicheres reden? Wie war der Fisch?«
Machst du Witze?, dachte Ellen. Es gab nichts, über das sie lieber reden wollte. Sie interessierte sich für jede Einzelheit. Sie wollte verstehen, was im Kopf dieser Frau vor sich ging. Normalerweise konnte sie sich mühelos in eine Frau hineinversetzen. Sie kam gut mit Frauen klar. Sie mochte Frauen. Es waren die Männer, die ihr oft ein Rätsel waren. Aber den Ex-Freund drei Jahre lang verfolgen und belästigen? War sie eine Psychopathin? Liebte sie ihn immer noch? Wie rechtfertigte sie ihr Verhalten vor sich selbst?
»Der Fisch war ganz vorzüglich«, antwortete Ellen.
Sie gierte förmlich nach weiteren Informationen, aber sie beherrschte sich. Ihre Neugier schien ihr unangebracht. Immerhin litt der Mann unter der Situation. Sie interessierte sich brennend für das Leben anderer Menschen, und sie wusste, dass diese schier unstillbare Neugier eine ihrer Schwächen war.
»Wer kümmert sich heute Abend eigentlich um deinen Sohn?«, fragte sie dann, um Patrick zuliebe das Thema zu wechseln.
»Meine Mutter.« Patricks Züge entspannten sich. »Jack liebt seine Granny über alles.«
Er blinzelte, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sagte: »Da fällt mir ein, ich hab ihm versprochen, ihn anzurufen und ihm Gute Nacht zu sagen. Es ging ihm vorhin nicht so gut. Darf ich?« Er zog sein Handy aus seiner Jackentasche.
»Aber natürlich.«
»Normalerweise ruf ich ihn nicht an, wenn ich ausgehe«, fügte er hinzu und schaltete sein Telefon ein. »Ich meine, er ist schon ziemlich selbstständig. Er kann gut auf sich allein aufpassen.«
»Ich versteh schon. Kein Problem.«
»Aber er hat eine wirklich schlimme Erkältung gehabt, die ihm auf die Brust geschlagen ist. Er muss Antibiotika nehmen.«
»Schon in Ordnung. Das ist wirklich kein Problem.« Ellen wollte hören, wie er mit seinem kleinen Jungen sprach.
Patricks Telefon fing an zu piepsen und hörte nicht mehr auf. Er verzog das Gesicht. »Lauter Textnachrichten.«
»Von deiner … Stalkerin?« Ellen bemühte sich, nicht allzu aufdringlich auf das piepsende Handy zu starren.
Er warf einen prüfenden Blick auf das Display. »Ja. Normalerweise lese ich sie gar nicht erst, sondern lösche sie gleich.«
»Klar.« Ellen konnte sich nicht bremsen. »Weil sie so widerwärtig sind?«
»Manchmal, ja. Meistens sind sie einfach nur erbärmlich.«
Sie beobachtete sein Gesicht, während er mit dem Daumen verschiedene Tasten drückte und die Textnachrichten las. Er lächelte spöttisch, als ob er sich ein hässliches Wortgefecht mit einem Gegner lieferte. Er verdrehte die Augen, nagte am äußeren Rand seiner Unterlippe.
»Willst du sie lesen?« Patrick hielt ihr sein Handy hin.
»Warum nicht?«, entgegnete Ellen leichthin. Sie beugte sich vor und las, während er die Textnachrichten über das Display scrollte.
Das ist ja lustig, dass ich dich hier sehe! Ich sitze an einem Tisch am Fenster.
Du siehst toll aus in dem Hemd.
Du hast den Schweinebauch bestellt? Was hast du dir bloß dabei gedacht?
Sie ist hübsch. Ihr seid ein schönes Paar. S.
Ellen zuckte zurück.
»Entschuldige«, sagte Patrick. »Die hätte ich dir nicht zeigen sollen. Aber ich versichere dir, du bist nicht … wie soll ich sagen … irgendwie in Gefahr.«
»Nein, nein, schon gut.« Sie nickte zu seinem Handy hin. »Mach weiter.«
Hat mich gefreut, dass ich dich heute Abend gesehen habe. Demnächst auf einen Kaffee?
Ich liebe dich. Ich hasse dich. Ich liebe dich. Ich hasse dich. Nein, ich hasse dich ganz entschieden.
Ellen setzte sich wieder gerade hin.
»Was ist deine professionelle Meinung dazu?«, fragte Patrick. »Eindeutig verrückt, oder? Ich meine, diese Beziehung endete vor drei Jahren.«
»Wie lange wart ihr zusammen?«
»Zwei Jahre. Na ja, eigentlich drei. Nach dem Tod meiner Frau war sie meine erste feste Beziehung.«
Ellen hätte gern nach dem Grund für die Trennung gefragt, doch stattdessen sagte sie: »Warum änderst du nicht einfach deine Telefonnummer?«
»Ich habe sie schon x-mal geändert, aber das ist zwecklos. Außerdem bin ich selbstständig, ich muss erreichbar sein. Hey, ich ruf nur schnell meinen Sohn an, okay?«
Ellen schaute zu, wie er eine Nummer wählte und sich das Handy dann ans Ohr hielt.
»Hallo, Kumpel, ich bin’s. Wie geht’s dir? … Was ich gegessen habe? Oh, Schweinebauch.« Er blickte bedrückt auf seinen Teller. »Nein, war nicht besonders. … Und bei dir? Alles in Ordnung? Geht’s dir besser? Hast du deine Antibiotika genommen? Was macht Granny? … Wirklich? Das ist gut … Ja … In Ordnung … Aber beeil dich, ja?« Er lauschte. Als sein und Ellens Blick sich trafen, zwinkerte er ihr zu.
»Im Ernst? Okay, das ist … Genau … Ein Vulkan? Mit dem Fallschirm? Du meine Güte!«
Während er seinem Sohn zuhörte, trommelte er mit den Fingern auf der Tischdecke. Ellen betrachtete seine Hand. Es war eine schöne Hand. Große, sehr gerade geschnittene Nägel.
»Okay, Kumpel, ich glaube, du musst mir den Rest morgen erzählen, sonst wäre das sehr unhöflich meiner … Bekannten gegenüber. … Okay. Wir sehen uns dann morgen. … Waffeln, natürlich. … Auf jeden Fall. Schlaf gut, Kleiner. Hab dich lieb.«
Er beendete das Gespräch, schaltete das Handy aus und steckte es in seine Tasche zurück. Er sah Ellen an.
»Entschuldige. Er wollte mir den Film, den er sich angesehen hat, bis ins kleinste Detail erzählen. Das hat er von mir, fürchte ich.«
»Tatsächlich?«
Ein intensives Glücksgefühl durchfuhr Ellen. Sie fand es wunderbar, wie er mit seinem Sohn redete, so locker und lustig und männlich und liebevoll. Sie fand es wunderbar, dass sie morgen früh Waffeln zum Frühstück essen wollten. Sie liebte Waffeln! Sie fand es wunderbar, wie unbefangen er »Hab dich lieb« gesagt hatte.
Ein Kellner kam und räumte den Tisch ab. Die Teller auf dem Unterarm balancierend, fragte er: »Hat Ihnen der Schweinebauch nicht geschmeckt, Sir?«
»Doch.« Patrick lächelte zu ihm auf. »Ich war nur nicht so hungrig, wie ich gedacht hatte.«
»Darf ich Ihnen die Dessertkarte bringen? Oder einen Kaffee?«
Patrick sah Ellen an und hob fragend die Augenbrauen.
»Nein, vielen Dank«, sagte sie.
»Dann die Rechnung, bitte«, sagte Patrick zum Ober.
Ellen blickte auf ihre Armbanduhr. Erst zehn Uhr. »Ich habe eine Schachtel feines Konfekt zu Hause. Wenn du auf eine Tasse Kaffee mit zu mir kommen möchtest? Falls du noch Zeit hast.«
»O ja, die habe ich«, erwiderte Patrick, und ihre Blicke trafen sich.
Natürlich vergeudeten sie keine Zeit mit Kaffee und Konfekt. Als sie sich zum ersten Mal in dem frisch bezogenen Bett liebten, prasselte plötzlich ein kräftiger Regenschauer auf das Dach, und Ellen dachte einen Moment lang an Patricks Stalkerin. Sie fragte sich, wo sie jetzt wohl sein mochte, und stellte sich vor, wie sie unter einer Straßenlaterne im strömenden Regen stand und die Regentropfen ungerührt über ihr blasses, gequältes (wunderschönes?) Gesicht rannen. Doch dann verdrängten die tausend spannenden Empfindungen, die ein neuer Liebhaber heraufbeschwört, jeden anderen Gedanken, und Patricks Stalkerin war vergessen.