Buch

Flüsse haben, mehr als jede Straße oder Technologie, den Lauf unserer Zivilisation geprägt. Sie haben Entdeckern neue Wege eröffnet, sie bilden und überwinden Grenzen, ermöglichen Handel, stellen Energie bereit und ernähren Millionen. Die meisten Großstädte wurden an Ufern von Flüssen gegründet. Auch wenn ihr Lauf heute meist eingehegt ist, bleiben die Ströme in Zeiten von Klimawandel und Wasserknappheit eine machtvolle globale Kraft: Ihre weitverzweigten Arterien spenden Leben, können aber ebenso alles zerstören, was ihnen im Weg ist. In seiner glänzend geschriebenen Weltgeschichte der großen Flüsse seit der Antike lenkt der Umwelt- und Geowissenschaftler Laurence Smith erstmals unseren Blick auf eine gemeinhin unterschätzte kulturbildende Naturkraft.

Autor

Laurence C. Smith ist Professor für Geowissenschaften und Umweltstudien an der Brown University. Der bereits mit mehreren Preisen, u. a. dem renommierten Guggenheim Award, ausgezeichnete Wissenschaftler beriet die US-Regierung in Fragen des Klimawandels und lieferte bedeutende Teile des vierten UN-Weltklimaberichts 2007. Artikel von ihm erschienen in der New York Times, der Washington Post, dem Wall Street Journal oder The Economist. Sein erstes Buch »Die Welt im Jahr 2050« (2011) wurde u. a. mit dem Walter P. Kistler Book Award ausgezeichnet.

Laurence C. Smith

Weltgeschichte
der Flüsse

Wie mächtige Ströme Reiche schufen, Kulturen zerstörten und unsere Zivilisation prägen

Aus dem Amerikanischen
von Jürgen Schröder

Siedler

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Rivers of Power. How a Natural Force Raised Kingdoms, Destroyed Civilizations, and Shapes our World« bei Little, Brown Spark, New York.


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Copyright: © Laurence C. Smith

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe:
© 2022 by Siedler Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Karten: Matt Zebrowski

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22867-5
V001

www.siedler-verlag.de

Für die verblüffende Selma Astrid
und ihre mächtigen Ströme

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1
Der Palermostein

Kapitel 2
An der Grenze

Kapitel 3
Das Jahrhundert der Demütigung und andere Kriegsgeschichten

Kapitel 4
Zerstörung und Erneuerung

Kapitel 5
Den Strom nutzen

Kapitel 6
Schweinefleischsuppe

Kapitel 7
Mit dem Strom schwimmen

Kapitel 8
Durst nach Daten

Kapitel 9
Die Wiederentdeckung der Flüsse

Dank

Bildteil

Literatur

Register

Einleitung

Mit den ersten Regenfällen hat sich die Welt für immer verändert.

Wahrscheinlich hätten sie schon rund 100 Millionen Jahre früher eingesetzt, wenn es keinen Zusammenstoß mit einem anderen Planeten gegeben hätte, der ungefähr so groß wie Mars war. Der Zusammenprall ereignete sich mit solcher Wucht, dass unsere junge Erde in Feuer eingehüllt wurde und zum größten Teil schmolz. Ein riesiges Stück wurde abgeschert und entwickelte sich höchstwahrscheinlich zu unserem Mond. Auf der Oberfläche des zertrümmerten Planeten schäumte und wütete ein Ozean aus Magma.

Dann begann sich die urzeitliche Oberfläche abzukühlen. Eine Kruste aus eisenreichem Gestein härtete auf dem Magmameer der Erde aus. Es bildete sich auch eine leichtere Kruste, die wie Schlacke in einem Schmelzofen schwamm. Geringe Mengen an Zirkonen, die man heute am besten aufgrund ihrer Verwendung als kostengünstige Edelsteine kennt, begannen auszukristallisieren. Spurenhafte Überbleibsel davon lassen sich immer noch im Urgestein von Australien, Kanada und Grönland finden.

Die Zirkone Australiens wurden bis auf 4,4 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurückdatiert. Das bedeutet, dass die Kontinentalkruste sich auf der Erde viel früher zu bilden begann, als man zuvor gedacht hatte, möglicherweise schon 200 Millionen Jahre nachdem unser Planet vor etwa 4,6 Milliarden Jahren erstmals aus einer wirbelnden Scheibe aus kosmischem Staub und Gas erstarrte. Die chemische Zusammensetzung dieser Kristalle sagt uns, dass zumindest schon Spurenmengen von flüssigem Wasser vorhanden waren, und zwar trotz des äußerst starken Vulkanismus auf der Erde und der Flammenhölle, die durch ihren Zusammenstoß mit dem anderen jungen Planeten verursacht wurde. Wie Minizeitmaschinen bieten Zirkone einen Einblick in die frühesten Zeitalter der Erde, in das Hadaikum (benannt nach Hades, dem griechischen Gott der Unterwelt) und das Archaikum (abgeleitet von dem griechischen Wort arch, was »Ursprung« bedeutet). Anhand ihrer Chemie haben wir erfahren, dass das anfängliche Magmameer unserer Welt sich rasch abkühlte und dass schon bald darauf Kontinente und Wasser folgten.

Vor etwa vier Milliarden Jahren, wenn nicht schon früher, begann Regen vom jungen Himmel zu fallen. Wasser sammelte sich in Seen an und sickerte in den Boden. Wasser floss über Land in Rinnsale, Bäche, Flüsse und weiter zu den Meeren, die sich gerade erst anfüllten. Wasser verdampfte in die giftige Luft, schlug sich in Wolken nieder und regnete wieder ab, um den Kreislauf zu schließen. Das Wasser begann, die noch junge, dicker werdende Kontinentalkruste auszuwaschen, und eröffnete damit einen ewigen Krieg gegen die Kontinente.

Nach und nach bauten die Regenfälle das Hochland ab und füllten das Tiefland auf. Sie lösten Gestein auf und lockerten Mineralien. Sie ließen Berge verwittern und stießen den Schutt talwärts. Rinnsale fanden einander, schlossen sich zusammen und wurden stärker. Sie verbanden sich immer wieder miteinander, bis Millionen von ihnen sich zu einer mächtigen Kraft vereinten – den Flüssen.

Die Flüsse hatten eine einzige Aufgabe: alles talwärts zu bewegen. Hinunter zum Meer.

Während tektonische Zusammenstöße Berge errichteten, verbündeten sich Wasser und Schwerkraft, um sie abzuschleifen. Während die Kontinentalplatten neue Meere aufrissen, bemühten sich die Flüsse, sie aufzufüllen. Schlammgetrübt vereinigten sich ihre Gewässer wie Wurzeln zu einem Stamm. Geröll stieß und rollte die Flusszweige zu ihrem Bestimmungsort hinunter.

Am Ende ihres Laufs erstarben die Flüsse in Meeren und Seen. Erschöpft entluden sie ihre Ablagerungen und verdampften wie Geister, stiegen in die Höhe zum Hochland zurück, um erneut anzugreifen, abzuflachen, wegzutragen und abzuladen. Berge sind zwar zäh, aber selbst der mächtigste Gipfel ist dazu verdammt, diesem unermüdlichen Feind zu erliegen. Der Wasserkreislauf überdauert sie alle.

Vor spätestens 3,7 Milliarden Jahren lagerten Flüsse kontinuierlich Sedimente in den Weltmeeren ab. Ein paar Hundert Millionen Jahre später begannen blaugrüne Cyanobakterien – die frühesten Fotosynthese betreibenden Organismen der Welt –, winzige Mengen von sauerstoffhaltiger Luft zu erzeugen. Vor etwa 2,1 Milliarden Jahren schwoll diese Sauerstoffproduktion an. Pyrit (Katzengold) und andere leicht oxidierbare Mineralien verschwanden aus den Flussbetten. Die eisenreichen Erdböden der Welt wurden rostrot.

Mehr als eine weitere Milliarde Jahre verging. Vor 800 bis 550 Millionen Jahren stieg die Sauerstoffverdunstung im Ozean erneut an. Schwämme, Plattwürmer und andere eigenartige neue Lebensformen des Meeres erschienen. In den folgenden Zeitaltern sollten diese frühen Organismen überdauern, vordringen und unsere Welt schließlich auf sonderbare und fabelhafte Weisen bevölkern.

In der Zwischenzeit verdickten sich die Kontinente und stießen miteinander zusammen. Neue Gebirgsketten schwollen an und wurden niedergedrückt. Aber ihre steinerne Substanz wurde umgewandelt und ging nicht verloren. Die schonungslosen Flüsse breiteten ihren Schutt über dem Tiefland aus und erzeugten breite, flache Talebenen. Schicht für Schicht wurden tiefe stratigrafische Sequenzen abgelegt, wodurch sich die Talmulden und Meere langsam auffüllten. Flussdeltas schoben Finger von neuem Land weit von der Küste weg in die Ozeane hinein.

Flüsse sind buchstäblich universell. Aus Raumsonden, die Himmelskörper umkreisen, sehen wir sie auf anderen Welten. Der Mars hatte einst reichlich flüssiges Wasser. Heute ist seine Oberfläche durch die ausgetrockneten Kanäle, Deltas und schichtweisen Ablagerungen ehemaliger Flüsse vernarbt. Genau in diesem Augenblick fließen Flüsse rege auf Titan, einem kalten entfernten Mond von Saturn. Ihre Flüssigkeit besteht zwar aus flüssigem Methan, und das Flussbett, das sie ausmeißeln, besteht offenbar aus Eis, aber die Täler, Deltas und Meere, die sie eifrig hervorbringen, sind in Muster und Form unheimlich erdähnlich.

Ozeane öffneten und schlossen sich wieder. Kontinente stießen miteinander zusammen und wölbten sich. Ein Teil der Ablagerungen der Flüsse wurde auf dem Rücken absackender tektonischer Platten tief nach unten in den Erdmantel geschleppt, wo sie heftig zusammengequetscht und erhitzt wurden. Die gekochten Überbleibsel verdickten die Kontinente noch weiter und stiegen wie erhitztes Wachs in einer Lavalampe empor, um sich in den ausgehärteten Wurzeln neuer Gebirgsketten abzukühlen. Schließlich wurde ein Teil desselben Materials exhumiert, pulverisiert und von den Flüssen abermals weggetragen zu einer weiteren Reise zum Meer zurück.

Das zerstörerische Bauprojekt unserer Welt gelangt nie an ein Ende. Gebirgsketten erheben sich und werden dann zu Sand zerstoßen. Ihre Trümmer fächern sich über Flusstäler, -deltas und küstennahe Kontinentalsockel auf. Jedes Erdbeben, jeder Erdrutsch, jede reißende Flut kennzeichnet einfach nur ein weiteres kleines Grollen in diesem unaufhörlichen Krieg zwischen zwei uralten Kräften – der Plattentektonik und dem Wasser –, die miteinander im Kampf um die Form der Oberfläche unserer Welt stehen. Ihr Krieg wird mindestens noch um die 2,8 Milliarden Jahre weitergehen, bis unsere sterbende, sich ausdehnende Sonne auch den letzten Tropfen zu Dampf verkocht.

Heutzutage haben es die Flüsse schwer, ihre Ladung zum Meer zu tragen. Sie gleiten an erstarrten Städten vorbei, werden von Dämmen eingezwängt, von Ingenieuren gedrosselt und von den meisten übersehen. Und dennoch gewinnen die Flüsse die Oberhand. Sie werden uns alle überdauern.

Aber ohne sie werden wir nicht überleben.

*

Die vielen Verwendungsweisen von Flüssen durch den Menschen sind zwar je nach Region verschieden und haben sich mit der Zeit verändert. Doch ihre Bedeutung für uns dauert fort, weil sie uns fünf grundlegende Vorteile bringen: Zugang, natürliches Kapital, Land, Wohlbefinden und ein Mittel zur Machtausübung. Die Erscheinungsformen dieser Vorteile haben sich zwar geändert, aber unsere zugrunde liegenden Bedürfnisse nach ihnen sind dieselben geblieben.

In Ägypten zum Beispiel lieferte der Nil einst natürliches Kapital in Form von schlammreichem Flutwasser. Heute liefert er natürliches Kapital in Form von Hydroelektrizität, städtischer Wasserversorgung und hochwertigen, am Flussufer gelegenen Immobilien im Stadtzentrum Kairos. Der Hudson River versorgte einst die Lenni Lenape (Delawaren) mit Fisch und anschließend europäische Einwanderer mit einem Transportzugang zum Kontinent. Heute stellt derselbe Fluss einen Zugang zu wertvollen Wasserfront-Parks in New York City dar, einer wimmelnden Metropole mit wenigen Grünanlagen. Die Details haben sich zwar verändert, aber die fünf umfassenden Vorteile blieben beständig. Aufgrund dieser Leistungen haben Flüsse menschlichen Kulturen gedient, seit unsere ersten Großgesellschaften an den Ufern von Euphrat und Tigris, des Indus, des Nils und der Gelben Flüsse im heutigen Irak, in Indien-Pakistan, Ägypten und China entstanden.

Während der gesamten Menschheitsgeschichte wurde unsere Faszination von Flüssen in der Kunst, Religion, Kultur und Literatur dokumentiert. Sie winden sich durch die Gemälde van Goghs und Renoirs, die Schriften Muirs und Thoreaus, die Musik von Johann Strauss (Sohn) und Bruce Springsteen. Bleibende Romane und Spielfilme, von Twains Huckleberry Finn bis zu Coppolas Apocalypse Now, entstanden aus den dunklen Gewässern ihrer Einbildungskraft. Auf der ganzen Welt werden Menschen besänftigt vom Geräusch rauschenden Wassers aus Bächen, Quellen und Maschinen für Schlaftherapie. Ein Bad im Ganges ist ein bewegender religiöser Moment für Millionen Hindus, desgleichen der Taufritus für Millionen evangelikaler Christen. Fast alle unsere Großstädte – die Mittelpunkte der Welt für Wissen, Kultur und Macht – haben einen Fluss, der durch ihren Kern verläuft.

Dieses Buch behauptet, dass Flüsse eine gewaltig unterschätzte Bedeutung für die uns bekannte menschliche Kultur haben. Natürlich sind Flüsse in vielen praktischen Hinsichten wichtig: Sie versorgen uns beispielsweise mit Trinkwasser, Kühlmitteln für Kraftwerke und mit einem Instrument zur Entsorgung von Abwasser. Aber sie formen uns auch stark auf weniger sichtbare Weisen. Unsere wiederholten Entdeckungsreisen und Kolonisierungen der Kontinente der Welt wurden von Flüssen geleitet. Kriege, Politik und Soziodemografie wurden durch ihre verheerenden Überschwemmungen erschüttert. Flüsse bestimmen internationale Grenzen und fließen über sie hinweg, wodurch sie die Zusammenarbeit zwischen Staaten erzwingen. Wir brauchen sie zur Produktion von Energie und Nahrung. Die Gebietsansprüche von Staaten, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen miteinander und die Migrationsbewegungen und Geschichten von Menschen lassen sich auf Flüsse, Flusstäler und die topografischen Trennlinien zurückführen, die sie der Welt einkerben.

Flüsse sind zwar schön, aber der Einfluss, den sie auf uns ausüben, ist weit mehr als bloß ästhetisch. Ihre Anziehungskraft stammt von der innigen Beziehung, die wir mit diesen Merkmalen der natürlichen Landschaft seit vorgeschichtlichen Zeiten unterhalten haben. Unser Vertrauen in sie – im Hinblick auf natürliches Kapital, Zugang, Land, Wohlbefinden und Macht – hat uns jahrtausendelang am Leben erhalten und leitet uns immer noch.