Christiane Lind

 

 

 

Im Schatten der goldenen Akazie

 

 

IMPRESSUM

Herausgeberin:

Christiane Lindecke

Dalwigkstraße 17

34130 Kassel

www.christianelind.de

 

Buchcoverdesign: Sarah Buhr - www.covermanufaktur.de

unter Verwendung von Bildmaterial von www.shutterstock.com:

Känguru: © Tribalium

Farm: © Konstanttin

Hintergrund: © kwest

Baum: © Andrzej Kubik

 

Lektorat: Ursula Hahnenberg - www.lektorathahnenberg.wordpress.com

Korrektorat: Barbara Lösel - www.wortvergnügen.de

Satz & eBook Erstellung - www.mybookMakeUp.com

 

1. digitale Auflage August 2016

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Handlung und die handelnden Personen sowie deren Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Über die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Glossar

Historische Persönlichkeiten, die im Text erwähnt sind

Danksagung

Das Buch

 

Erinnerungen bleiben, aber der Schmerz verweht mit dem Wind …

 

Australien, Ende des 19. Jahrhunderts. Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter haben die besonnene Victoria und die leidenschaftliche Catherine nur einander. Nichts scheint die Schwestern trennen zu können, bis der Opalschürfer Luke in ihr Leben tritt.

 

Gut hundert Jahre später: Nach einer tiefen Enttäuschung folgt Franziska kurz entschlossen einem Brief ihrer Großtante Ella und reist nach Australien. Gemeinsam forschen die beiden nach ihren Wurzeln und begegnen starken Frauen, weisen Aborigines und dem entbehrungsreichen Leben deutscher Einwanderer.

 

Vor der traumhaften Kulisse Queenslands entfaltet sich eine dramatische Familiengeschichte über mehrere Generationen.

Über die Autorin

 

Christiane Lind hat sich schon immer Geschichten ausgedacht, aber erst zur Jahrtausendwende zu Papier gebracht. Inzwischen hat sie fünfzehn Romane bei Verlagen und als Self Publisher veröffentlicht. Beim Schreiben begibt sie sich am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Nach Stationen in Göttingen, Gelsenkirchen und Bremen teilt sie heute eine Wohnung in Kassel mit unzähligen Büchern, einem Ehemann und vier Katern. Die Samtpfoten erhalten Rollen in Christianes Geschichten.

Prolog

 

Hannover, 2012

 

Oh, schon kurz vor zehn. Wie die Zeit verflogen war. Franziska hatte noch nicht einmal die Hälfte von dem geschafft, was sie sich für heute vorgenommen hatte. Wenn sie weiterhin so schneckenlangsam lernte, würde sie ihr Abi niemals bestehen und konnte alle ihre Pläne vergessen. Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie sich die schmerzenden Augen. Wie oft hatte sie den Absatz über Glykolyse jetzt gelesen, ohne ihn zu verstehen?

Vielleicht sollte sie für heute Schluss machen, sich mit Caro treffen, tanzen gehen, sich ablenken von dem ganzen Stress. Franziskas Blick fiel auf den Kalender, in dem sie die Abi-Termine fett rot markiert hatte. Nein, sie konnte es sich einfach nicht leisten, ihr Pensum heute nicht zu schaffen.

„Franziska, Liebes. Du arbeitest zu viel.“

Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihrer Konzentration. Franziska schaute auf und sah, wie ihre Mutter den Kopf durch die geöffnete Tür steckte. In den Händen trug sie ein Tablett. Der Duft von Kakao und selbstgebackenen Schokoladenkeksen begleitete sie.

„Ach, Mum.“ Franziska stieß einen leisen Seufzer aus. Ihr Magen knurrte. „Danke für den Kakao. Es sind ja nur noch ein paar Tage …“

„Ich weiß. Aber du solltest wirklich ab und zu eine Pause machen.“ Die braunen Augen ihrer Mutter musterten Franziska mit vielsagendem Blick. Sie schob Bücher und Karteikarten zur Seite und stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. „Das Abi ist wichtig, aber vergiss deshalb nicht zu leben.“

Franziska rieb sich die Augen und klappte ihr Notebook zu. Wenn ihre Mutter diesen Blick hatte und Kakao und Kekse brachte, würde sie nicht sofort wieder gehen. Franziska nahm einen Schluck von der heißen Schokolade und schloss genießerisch die Augen. Niemand kochte so einen leckeren Kakao wie ihre Mutter.

„Ach, Mum. Irgendwie kommt mir alles wie ein Buch mit sieben Siegeln vor. Du weißt selbst, wie wichtig der Abi-Durchschnitt ist. Ich möchte auf jeden Fall Geschichte an einer Uni studieren, die zu den besten gehört.“

„Ich weiß, Liebes.“ Hannah Lindhoff strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und suchte sichtlich nach Worten. „Aber manchmal wünschte ich mir, dass du etwas mehr von Alinas Entspanntheit hättest.“

Franziska senkte den Blick und biss die Zähne zusammen. Jetzt hielt ihre Mutter ihr auch noch ihre drei Jahre jüngere Schwester als leuchtendes Beispiel vor. Alina, der immer alles wie von selbst zufiel, die sich in der Schule kaum anstrengte und sich mit mittelprächtigen Noten zufriedengab. Alina, die in allem etwas Spannendes entdeckte, nur um schnell das Interesse zu verlieren. Alina, die mit einem Achselzucken durch die Welt ging. Neben ihrer Schwester fühlte Franziska sich strebsam und langweilig. Aber dass ihre Mutter das auch so sah, tat weh.

Sich anhören zu müssen, dass sie entspannter sein sollte – das war einfach nicht fair. Ihre Mutter musste Franziska die Verärgerung an der Nasenspitze abgelesen haben, weil sie sich mit den Fingern ins Gesicht und durch die Haare fuhr, wie immer, wenn ihr etwas unangenehm war.

„Franziska, ich … ich habe es nicht so gemeint. Ich mach mir doch nur Sorgen um dich. Manchmal fürchte ich, dass du alles zu ernst nimmst. Schau mal, was ich heute bekommen habe. Eigentlich wollte ich es dir erst morgen erzählen, aber …“ Ihre Mutter griff in die Tasche ihrer Jeans und legte einen Brief auf Franziskas Schreibtisch. „Du errätst nie, was das ist.“

„Wo ist der her?“ Neugierig griff Franziska nach dem Umschlag. „Wen kennt ihr denn in Australien?“

Franziskas Eltern redeten schon ewig davon, mal nach Down Under zu reisen, aber immer war die Reise zu teuer gewesen.

„Bisher kannten wir dort niemanden.“ Ihre Mutter streckte die Hand aus und nahm Franziska den Brief aus der Hand. Sie zog das Papier aus dem Umschlag, faltete es auf und gab es Franziska. „Anscheinend haben wir dort Verwandte.“

„Was? Das kann doch nicht sein, oder? Davon hätten wir doch längst gehört.“

Franziska konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre reiselustigen Eltern sich die Gelegenheit hätten entgehen lassen, Verwandte in Down Under zu besuchen. Je weiter weg ein Ziel war, desto größer war die Begeisterung ihrer Eltern. Urlaub bedeutete für Hannah und Christopher Lindhoff Zelten oder Bergsteigen oder Floßfahrten, möglichst in weit entfernten Ländern mit gefährlichen Tieren. Franziska hielt es mehr mit Lesen am Strand und war froh, dass ihre Eltern inzwischen nicht mehr von ihr erwarteten, sie zu begleiten. Alina hingegen teilte die Familienleidenschaft für seltsame Orte und unbequemes Reisen.

„Es wird sogar noch besser.“ Die Augen ihrer Mutter leuchteten vor Begeisterung. „Ella Murdoch hat uns eingeladen, sie in Brisbane zu besuchen. Queensland, ist das nicht toll?“

„Das ist im Osten, oder?“ Franziska hatte vor zwei Jahren ein Referat über Australien geschrieben. „Hast du schon konkrete Reisepläne?“

„Also …“ Wieder eine bedeutungsschwere Pause. Aber Franziska wusste nur zu gut, dass ihre Mutter Geheimnisse nicht lange für sich behalten konnte. Das war früher mit Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken schon so gewesen und hatte sich seitdem nicht geändert. „Ich hab mir überlegt, dass ich dir eine Reise zu unseren Verwandten spendiere. Für das bestandene Abi. Was hältst du davon?“

Franziska schluckte. Australien. Nicht gerade das Land ihrer Träume. Haie fielen ihr ein. Giftschlangen. Giftspinnen. Giftkröten. Tödliche Quallen. Ganz zu schweigen von menschenfressenden Krokodilen. Wüste. Sonnenbrand. Innerlich seufzte sie auf. Warum konnte sie keine Verwandten an einem schöneren Ort der Welt haben? USA oder Neuseeland zum Beispiel. Aber das konnte sie ihrer Mutter nicht sagen. Ihrer Mutter, die sie so erwartungsvoll ansah. Ihrer Mutter, deren Urlaubsländer nicht unerschlossen und exotisch genug sein konnten. Immerhin konnte Australien mit Koalabären, Wombats und Kängurus punkten.

„Das wär prima. Alina und Papa finden das bestimmt auch klasse.“ Franziska bemühte sich um ein erfreutes Lächeln.

„Nein, Schatz. Nicht wir alle. Nur du und ich.“ Ihre Mutter nahm Franziska in die Arme und küsste sie auf die Stirn. „Ich finde, es ist Zeit, dass nur wir beide etwas gemeinsam unternehmen.“

„Das wäre toll.“ Franziska erwiderte die Umarmung. Allein mit ihrer Mutter. Dafür würde sie es auch mit Kröten, Spinnen und Schlangen aufnehmen. Wie schön, dass es nach dem Abitur etwas gab, auf das sie sich freuen konnte. „Du und ich und Kängurus.“

„Ich freu mich. Mach nicht mehr so lange, Schatz. Es gibt wirklich Wichtigeres im Leben als das Abitur.“ Ihre Mutter lächelte. „Auch wenn es im Moment nicht so aussieht.“

Kapitel 1

 

Amber’s Joy, Australien, 1890

 

Victoria blieb stehen, als Catherine sich ins Gras fallen ließ. Ihre Schwester schluchzte haltlos auf.

„Burilda kann uns bestimmt helfen, nicht wahr?“ In ihrer Angst wirkte Catherine zart und zerbrechlich und viel jünger als neun Jahre. „Sie ist doch eine Heilerin.“

„Ja. Burilda wird uns helfen“, antwortete Victoria und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig Hoffnung sie hatte. „Alles wird gut. Komm, steh auf. Wir müssen weiter.“

Catherine wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Nase und stand auf. Voller Hoffnung schaute sie ihre ältere Schwester an. Trotz ihrer dreizehn Jahre fühlte Victoria sich heute jung und verletzlich.

Es war ihr gelungen, Catherine rechtzeitig vom Bett ihrer Mutter wegzuziehen, aber Victoria hatte einen letzten Blick auf Amber Wagner geworfen und war vor Schreck erstarrt. Ihre Mutter musste entsetzliche Schmerzen erleiden, so verzerrt sahen ihre Gesichtszüge aus.

„Schaff die Kleine hier weg“, zischte ihr Vater Victoria an und bedachte sie mit einem Blick, der ihr durch Mark und Bein fuhr. „So soll sie ihre Mutter nicht sehen.“

Aber Victoria konnte ihm keinen Vorwurf für den Hass machen, mit dem er ihr begegnete. Nichts konnte ihr mehr wehtun als die Vorwürfe, die sie selbst sich machte. Ihre Schuld. Es war alles ihre Schuld.

„Vic, wo müssen wir hin?“ Catherine zupfte sie am Ärmel. Die arme Kleine war so durcheinander, dass sie nicht einmal mehr in der Lage war, sich in der Umgebung der heimischen Farm zurechtzufinden. „Sag, wo finden wir Burilda?“

Victoria holte tief Luft. Sie musste sich beruhigen. Für ihre kleine Schwester und für die vage Hoffnung, dass die Aborigine-Heilerin ihrer Mutter möglicherweise helfen konnte. Suchend schaute sie sich um. Vor ihr erstreckten sich die Zuckerrohrfelder in intensiven Grün- und Gelbtönen, je nachdem wie reif das Zuckerrohr inzwischen war. Nicht mehr lange, dann würde die Ernte beginnen. Höher als ihr Vater groß war, waren die Pflanzen gewachsen und bildeten einen undurchdringlich wirkenden Wald. Einen Forst, in dem sich Ratten und Schlangen verbargen, so dass es klüger war, nicht die Abkürzung durch die Felder zu wählen. Also blieb nur der längere Weg an den Feldrändern entlang – reichte die Zeit dafür aus oder gefährdeten sie mit jeder Minute, die verging, das Leben ihrer Mutter?

Verzweiflung wallte in Victoria auf. Warum musste sie so schwerwiegende Entscheidungen treffen? Sie fühlte sich selbst noch wie ein Kind, auch wenn sie vier Jahre älter als Catherine war. Die Verantwortung für das Leben ihrer Mutter zu tragen, diese Last erschien Victoria zu gewaltig. Ihre Kehle fühlte sich trocken an und sie schluckte mühsam. Sie beschattete die Augen mit der rechten Hand und blinzelte in die brennende Mittagssonne. Wo mochte Burilda wohl sein?

Warum nur konnten die Aborigines nicht in festen Hütten wohnen wie ihre Familie? Warum zogen sie über die Ländereien und tauchten manchmal tage- oder wochenlang nicht auf? Bis auf die wenigen, die am Rande von Amber’s Joy ihr Lager aufgeschlagen hatten und nun dort lebten. Zwischen den Welten. Keine wirklichen Aborigines mehr, aber auch keine Weißen.

Nein, Victoria durfte sich jetzt nicht ablenken, sie musste nachdenken. Sofort, nachdem ihr Vater sie weggeschickt hatte, war ihr Burilda eingefallen. Ihre Heilkünste hatten schon manchem Cutter geholfen, der während des Zuckerrohrschnitts von einer Schlange oder einer angriffslustigen Ratte gebissen worden war.

Wo hielt sich Burildas Clan am liebsten auf? Jetzt, zu dieser Jahreszeit, wo die Sonne hoch am Himmel stand und die Bäume Früchte trugen? Victoria ließ die Hand sinken und atmete laut ein und aus. Das musste es sein.

„Das Wäldchen. Lass uns zum Akazienwäldchen laufen.“ Sie griff nach Catherines Hand und zog ihre kleine Schwester hinter sich her, vorbei an den hohen Zuckerrohrstangen. Ein plötzliches Geräusch ließ Victoria innehalten. Raschelte es dort hinten? So, als ob ein Reptil sich zwischen den einzelnen Zuckerrohrstangen hindurchzwängte und versuchte, nicht gesehen zu werden? Eine Schlange? Victoria erstarrte. Sie konnte weder Finger noch Füße bewegen, obwohl ihr Körper ihr zuschrie, wegzulaufen, so schnell sie konnte. Nicht wieder eine Schlange.

„Vic! Vic! Was hast du denn?“ Catherine zerrte so lange an der Hand ihrer Schwester, bis Victoria sich aus der Erstarrung lösen konnte und weitereilte.

Catherine keuchte vor Anstrengung und bemühte sich tapfer, mit ihrer großen Schwester Schritt zu halten, aber je länger sie unterwegs waren, desto matter wurde die Kleine. Hatte sie das Richtige getan, als sie gemeinsam mit Catherine von Amber’s Joy davongelaufen war, fragte sich Victoria erneut. Was, wenn es ihrer Mutter schlechter ging? Was, wenn sie sich nicht von ihr verabschieden könnten?

Victoria spürte Tränen aufsteigen. Alles war ihr Fehler. Nicht auszudenken, wenn Catherine etwas passierte und sie noch mehr Schuld auf sich lud. Ihr Vater würde ihr niemals verzeihen, sollte Catherine etwas geschehen. Ihr Vater, der Catherine seine kleine Prinzessin nannte und sie nach Strich und Faden verwöhnte.

Vielleicht sollte sie einfach mit den Aborigines davonlaufen und nie wieder nach Amber’s Joy und zu ihrer Schuld zurückkehren. Aber was würde aus Catherine werden? Victoria konnte ihre Schwester nicht im Stich lassen, selbst wenn das für sie bedeutete, jeden Tag mit den Vorwürfen ihres Vaters leben zu müssen.

„Vic. Ich … ich kann nicht mehr.“ Catherines Stimme klang so elend, dass Victoria ihre Schritte verlangsamte. Sie wandte sich ihrer Schwester zu, die sie aus rotgeweinten Augen traurig und erschöpft ansah. „Wir werden Burilda nie finden.“

Mit einem Aufschrei warf sich Catherine auf den Boden und brach in hoffnungsloses Schluchzen aus, das Victoria ins Herz schnitt und ihr ebenfalls die Tränen in die Augen trieb. Sie setzte sich neben ihre Schwester, legte die Arme um sie und wiegte sie, so wie es getan hatte, als Catherine ein Baby gewesen war. Sie hatte ihr Bestes versucht und war gescheitert.

So, wie ihr Vater es ihr so oft prophezeit hatte. Von Geburt an war Victoria eine Enttäuschung für Joseph Wagner gewesen. Einen Sohn hatte er sich gewünscht, der Amber’s Joy einmal erben und zu weiterer Blüte bringen sollte. Stattdessen war es ein Mädchen geworden. Seltsamerweise warf ihr Vater Catherine nie vor, dass auch sie kein Sohn geworden war. Vielleicht weil sie so niedlich aussah mit ihrer roten Lockenpracht und den auffallend tiefblauen Augen. Catherine war ein süßes Baby gewesen und hatte sich zu einem äußerst hübschen Kind entwickelt, das nach ihrer schönen Mutter kam, während Victoria ihrem grobknochigen Vater ähnelte, dessen Haare zwischen blond und braun changierten.

„Liebes, du hast sehr schöne Augen und klare Gesichtszüge“, pflegte ihre Mutter Victoria zu trösten, wenn sie sich wieder einmal für hässlich und unscheinbar hielt. „Deine Haare kannst du mit einer Lockenschere brennen, aber so tiefgrüne Augen, die kann nur die Natur schenken.“

Der Gedanke an die Liebe ihrer Mutter gab Victoria die Kraft, die nötig war, weiter nach Burilda zu suchen. Aber es wäre dumm, weiter blindlings durch den Busch zu laufen.

Victoria schloss die Augen und lauschte. Einzig das Lachen des Kookaburra, das sich in ihren Ohren höhnisch anhörte, unterbrach die Stille. Über ihr saß der blaugeflügelte Eisvogel im Baum, weit genug entfernt, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Die Federn seiner Flügel schimmerten hellblau wie der Himmel zur Mittagszeit; seine Schwanzfedern waren dunkelblau wie ein tiefer Teich. Doch der übergroße Schnabel beeinträchtigte die Schönheit des Kookaburra. Sein Gekeckere klang wie spöttisches Lachen.

„Verschwinde!“, rief Victoria und der Eisvogel breitete seine Flügel aus und flog davon. Nun gab es nichts mehr, was die Ruhe störte. Tiere und Menschen waren vor der Mittagshitze geflohen und hatten sich in die Schatten zurückgezogen. Wie konnte es nur so ruhig sein? Totenstill, dachte Victoria. Angst krampfte ihr Herz zusammen.

„Kommt mit.“

Victoria und Catherine schrien erschrocken auf, als ein Aborigine-Junge wie aus dem Nichts neben ihnen auftauchte. Er war hochgewachsen für einen Ureinwohner und wohl so alt wie Victoria. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Seine Kleidung wirkte zusammengestückelt, aber sauber und gepflegt. Victoria war sicher, dass sie ihn noch nie bei einer der Familien gesehen hatte, die auf dem Land von Amber’s Joy wohnten.

„Burilda erwartet euch.“

Victoria schniefte noch einmal und stand auf. Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf wie eine Horde Wallabies an einem schönen Frühlingstag. Man kann den Abos nicht trauen, hatte ihr Vater Catherine und Victoria wieder und wieder gepredigt. Selbst Burilda betrachtete er mit Vorbehalt. Seine Töchter hatte er immer wieder davor gewarnt, sich den Familien zu nähern, die auf Amber’s Joy oder in der Nähe der Plantage lagerten. Victoria hatte sich als brave Tochter immer an die Worte ihres Vaters gehalten und schreckte nun zurück, als der fremde Junge ihr seine Hand entgegenstreckte. Sie musterte ihn. Er war heller als die meisten, die sie bisher gesehen hatte, und wirkte wie … Victoria runzelte die Stirn, während sie nach einem passenden Wort suchte …

„Du bist ein Mischling“, platzte Catherine heraus, bevor Victoria reagieren konnte. Erschrocken hob die Kleine dann die Hand vor den Mund, als bereute sie ihre Worte. So etwas durften sie schließlich nicht sagen. Ihre Mutter betonte immer wieder, dass auch die Eingeborenen Gottes Geschöpfe wären und dass man sie daher mit Respekt behandeln müsste. Eine Sichtweise, die Victorias Vater nicht teilte.

„Entschuldige. Cat meint es nicht böse“, flüsterte Victoria. Sie musterte den Jungen und kaute verlegen an ihrer Unterlippe. „Sie ist nur so müde.“

„Warum sollte ich böse sein?“ Er schaute sie aus dunklen Augen an und zuckte die Schultern. Auf einmal wirkte er deutlich älter als zwölf oder dreizehn Jahre, was Victoria verunsicherte. „Sie hat Recht. Mein Vater war einer von euch. Meine Mutter ist eine Yagara.“

„Warum lebst du nicht bei deinem Vater?“ Neugierde übermannte Victoria; eine so große Wissbegier, dass sie für einen Augenblick sogar die Sorge um ihre Mutter verdrängte. Auch Catherine musterte den Jungen mit unverhohlenem Interesse. „Wie heißt du?“

„Ihr nennt mich Billy. Bei meinen Leuten heiße ich Makka, was in deiner Sprache ‚kleines Feuer‘ bedeutet.“ Er lächelte sie an und streckte ihr immer noch die Hand entgegen. Victoria schob alle Bedenken zur Seite und ergriff sie. „Mein Vater wollte mich nicht. Die Leute von Burilda haben mich aufgenommen und dort lebe ich.“

„Ich heiße Victoria. Das ist meine Schwester Catherine. Wir wohnen auf Amber’s Joy.“ Victoria ließ Billys Hand los und zog Catherine hoch.

Gemeinsam folgten sie dem Jungen in die Tiefe des Waldes. Er bewegte sich so geschickt wie ein Dingo. Victoria wagte es nur, ihre Frage zu flüstern. „Woher weiß Burilda, dass wir sie suchen?“

„Burilda ist Burilda.“ Billy blieb stehen. Er drehte sich zu Victoria um und lächelte leicht. Wollte er sie beruhigen? Angst griff nach ihr und sie fröstelte, obwohl die Sonne selbst durch das Dickicht der Bäume zu spüren war. „Sie weiß es einfach.“

„Ist es noch weit?“, mischte sich Catherine ein, die eindringlich von Victoria zu Billy und wieder zurück schaute. „Ich bin müde. Und durstig. Und Mama ist krank.“

„Wir sind gleich da.“ Der Aborigine-Junge drehte sich um und führte Victoria und Catherine tiefer in den Wald hinein. „Dort findest du Wasser.“

Obwohl seine Stimme freundlich klang und seine Augen ehrlich wirkten, flammte einen Augenblick lang die Furcht in Victoria auf. Niemand wusste, wohin Catherine und sie gegangen waren. Wenn der Eingeborenenjunge sie in eine Falle führte, wären sie auf sich allein gestellt. Auf Amber’s Joy hatte jetzt niemand Zeit, sich um verschwundene Kinder zu sorgen. Victoria wandte den Kopf suchend um. Mit der linken Hand knickte sie einen kleinen Ast ab, als Markierung, falls sie allein den Weg zurückfinden musste. Bei dem Geräusch flogen bunte Loris auf, wie vielfarbige Blumen, die sich aus den Wipfeln der Bäume erhoben. Victoria zuckte zusammen. Wenn die Papageienvögel sie gehört hatten, dann sicher auch der Eingeborenenjunge. Sie musste vorsichtiger sein.

Angespannt schaute sie sich um, versuchte, sich alle Details ihrer Umgebung zu merken. Das dunkle Grün der Akazien und der Bunya-Bunya-Bäume. Die Farnwedel, die den Boden bedeckten und Schlangen oder Ratten verbergen konnten. Einzelne rote Blüten der Grevilleen und die rosafarbenen Kugeln der Banksien brachten etwas Farbe in die Eintönigkeit des Grüns. Aber Victoria hatte keinen Sinn für die Schönheit des Waldes. In ihr kämpften widerstrebende Gefühle um die Oberhand. Die Mahnungen ihres Vaters gegen die Worte ihrer Mutter, die in allen Menschen nur das Gute sah. Der Weg schien sich endlos vor ihr hinzuziehen. Immer wieder blieb Victoria kurz stehen und pflückte eine Blüte, die sie auf den Weg fallen ließ, oder knickte einen Zweig.

„Was machst du?“, flüsterte Catherine, der Victorias Bemühungen nicht verborgen geblieben waren. „Was soll das?“

„Pst. Ein neues Spiel.“ Victoria hob den Finger an die Lippen. „Ich erkläre es dir später.“

„Dort.“ Billy blieb stehen und trat zur Seite, so dass Victoria die alte Aborigine-Frau erkennen konnte, die an einem kleinen Weiher saß. Mit ernster Miene beobachtete sie, wie die drei Kinder sich ihr näherten.

„Danke.“ Victoria nickte dem Jungen zu, nahm Catherines Hand und gemeinsam traten sie auf die Lichtung. Jetzt, wo sie die Heilerin endlich gefunden hatten, drohte Traurigkeit Victoria zu übermannen. Etwas in Burildas Gesicht sagte ihr, dass alle Hoffnung vergebens war.

„Unsere … unsere Mutter“, wandte Victoria sich an die Aborigine-Frau, die die Mädchen aus unergründlichen dunklen Augen musterte. Nur die nahezu weißen Haare und die Falten, die sich wie ein Netz in den Augenwinkeln zogen, verrieten ihr Alter. „Kannst du ihr helfen?“

„Es tut mir leid.“ Burilda schaute Victoria so voller Mitgefühl an, dass ihr Herz schneller schlug. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, weil sie nicht hören wollte, was die Aborigine sagen würde. „Ich kann deiner Mutter nicht helfen. Niemand kann das.“

„Warum nicht?“ Catherines entsetzter Schrei schnitt Victoria ins Herz. Ihre kleine Schwester stand wie erstarrt und hielt den Blick auf Burilda geheftet, als ob die Aborigine sonst im Dunkel des Waldes verschwinden würde. „Bitte, du hast doch so viele Frauen und Männer geheilt.“

„Ach, Kleines.“ Burilda trat auf Catherine zu und nahm sie in ihre Arme. „Ich würde gern helfen, aber das Gift einer Braunschlange, … es ist zu stark.“

Catherine brach in haltloses Schluchzen aus und umarmte Burilda. Victoria fühlte sich allein, weil sie es nicht wagte, zu ihrer Schwester und der Aborigine zu treten und deren Trauer zu stören.

Da schob sich eine Hand in ihre und drückte sie. Victoria wandte ihren Blick zur Seite. Billy war neben sie getreten und hielt ihre Finger umfasst.

„Du bist nicht allein“, flüsterte er. „Ich empfinde mit dir.“

„Danke.“ Vorsichtig erwiderte Victoria den Druck seiner Hand und fühlte sich durch Billys Geste getröstet und geborgen. Schweigend standen sie nebeneinander und warteten, bis Catherines Schluchzer leiser wurden und schließlich verstummten.

Victoria lächelte Billy unter Tränen zu und löste ihre Finger aus seinen. Sie ging zu ihrer Schwester und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.

„Cat. Komm. Wir … wir müssen nach Hause.“ Victoria seufzte und kämpfte gegen Müdigkeit und Trauer an. Sie musste stark sein und durfte ihren Gefühlen nicht nachgeben. Für ihre Schwester. Für ihren Vater. „Cat? Bitte.“

Catherine nickte und stand auf. Sie wirkte älter und ernsthafter als bei ihrem Aufbruch, was Victorias Traurigkeit verstärkte. Ihre Schwester war noch viel zu jung, um eine derartig schmerzhafte Erfahrung machen zu müssen.

„Unglück und Trauer gehören zum Leben“, sagte Burilda mit sanfter Stimme. Es kam Victoria vor, als ob die alte Frau direkt in ihr Herz sah. „Wie ein Land Wolkenbrüche braucht, um zu wachsen, braucht ein Leben schwere Zeiten.“

Victoria hielt den Blick gesenkt und nickte. Was konnte sie auch antworten? Vielleicht hatte Burilda recht, wenn man das Leben auf lange Sicht betrachtete, aber im Augenblick spürte Victoria nur Traurigkeit, Zorn und Angst. Und Schuld – am schlimmsten war das Gefühl, dass nur sie allein die Schuld an dem trug, was ihrer Mutter geschehen war. Niemals würde sie sich verzeihen können.

Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, wollte Victoria die Aborigine-Frau fragen, ob der Schmerz irgendwann weniger werden würde. Aber Burilda war nicht mehr da. Die alte Frau und der Junge waren im Wald verschwunden wie Geister. Ein Schauder rann über Victorias Rücken und sie bemühte sich, dass Catherine nichts davon bemerkte.

„Komm, wir müssen nach Hause.“ Victoria zog ihre kleine Schwester hoch und schlang den Arm um deren Hüfte. „Vater wird uns schon suchen.“

Wie gut, dachte Victoria, dass sie Markierungen hinterlassen hatte und so den Weg zurückfand. Oder vielleicht hätte Billy ihr den Weg zurück gewiesen, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Victoria hatte noch so viele Fragen, die sie dem Mischlingsjungen gern gestellt hätte. Aber nicht heute. Ihr Herz sagte ihr, dass sie den Jungen wiedersehen würde.

„Ist Mutter …?“, fragte Catherine mit kleiner Stimme.

Victoria schaute ihre Schwester an, die stur geradeaus sah, die Augen tränenleer, und so verloren wirkte, dass Victoria Zuflucht in einer barmherzigen Lüge suchen wollte. Aber es war gar nicht mehr nötig.

Schon von Weitem konnten die Mädchen ihren Vater erkennen, der auf sie wartete. Seine gebeugte Gestalt, die sich schwer auf den Stock stützte, war unverkennbar. Joseph Wagner stand auf der Veranda. Er hob die Hand, um seine Augen zu beschatten, und humpelte seinen Töchtern ein paar Schritte entgegen. Nun trennten sie nur noch wenige Meter. Victoria konnte den Kummer auf dem Gesicht ihres Vaters erkennen und schrie auf. Catherine umklammerte Victorias Hand so fest, dass es weh tat, aber sie ertrug den Schmerz, ohne ein Wort zu sagen.

Joseph sah seinen Töchtern entgegen und Dunkelheit legte sich auf sein Gesicht. Victoria erschreckte sich vor der Düsternis und ihre Tränen versiegten.

„Mutter?“, fragte sie schließlich, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Wollte bis zum letzten Moment an ein Wunder glauben.

„Sie ist tot. Es ist deine Schuld“, stieß ihr Vater hervor und schaute Victoria so voller Zorn an, dass sie zusammenzuckte, als ob er sie geschlagen hätte. „Du hast deine Mutter umgebracht.“

Kapitel 2

 

Amber’s Joy, Australien, 1897

 

Erschöpft schaute Victoria aus dem Fenster. Langsam verschwand die Sonne hinter den Zuckerrohrfeldern und färbte den Himmel rot. Nicht mehr lange, bis die Nacht einbräche und ihre Arbeit erschwerte. Seit Sonnenaufgang waren Catherine und sie mit den Vorbereitungen für die kommenden Tage und Wochen beschäftigt.

„Bald kommen die Cutter.“ Ihr Vater musterte Victoria missmutig und voller Argwohn. So, als ob sie noch niemals die Männer verpflegt hätte, die zur Zuckerrohrernte erwartet wurden. „Hast du alles, was nötig ist?“

Victoria nickte nur. Sie war zu müde, um sich mit ihrem Vater zu streiten, auch wenn ihr das Misstrauen und die Geringschätzung, die sie in seinen Worten spürte, wehtaten. Sie wechselte einen Blick mit Catherine. Ihre jüngere Schwester hielt die Hände zu Fäusten geballt. Leicht schüttelte Victoria den Kopf, aber zu spät.

„Wenn du Daisy mit deiner Bösartigkeit nicht vertrieben hättest, müssten Vic und ich uns nicht darum kümmern.“ Catherines Stimme klang bitter. Victoria beneidete ihre jüngere Schwester um deren Mut und die Kraft, sich ihrem Vater entgegenzustellen. Andererseits würde ihr Vater Catherine es eher verzeihen, dass sie ihm die Wahrheit so offen ins Gesicht schleuderte. Ihre jüngere Schwester war immer noch sein Liebling, auch wenn sie sich nichts gefallen ließ. „Also, lass uns unsere Arbeit machen und störe uns nicht weiter.“

„Daisy war faul. So wie alle Abos.“ Murrend wandte Joseph Wagner sich um, aber sagte kein weiteres Wort. Er ging hinkend aus der Küche und Victoria schaute ihm versonnen nach.

Nur wenig hatten sie und Catherine von ihrem Vater geerbt. Wie er waren sie beide nur mittelgroß. Wo Joseph Wagner jedoch kräftig und untersetzt war, waren seine Töchter schlank und schmal. Ihr Vater trug das inzwischen eisengraue Haar sehr kurz. Eine Weile hatte er seinen buschigen Schnurrbart gepflegt, doch inzwischen waren seine Wangen wieder glattrasiert. Seine Nase war etwas schief, als wäre sie bei einer Schlägerei gebrochen und nicht richtig zusammengewachsen. Die graublauen Augen waren von tiefen Fältchen umgeben. Sonnengebräunt war seine Haut wie die aller Farmer, obwohl er nur selten auf den Feldern arbeitete. Der ehemals starke Mann war in den sieben Jahren seit dem Tod seiner Ehefrau in sich zusammengesackt. Er wirkte vom Schicksal gebeugt und Victoria spürte die bekannte Mischung aus Mitgefühl und Zorn in sich aufsteigen. Warum hatte ihr Vater sich in Gram und Wut geflüchtet, anstatt mit seinen Töchtern gemeinsam zu trauern und gemeinsam einen Weg aus der Trauer zurück ins Leben zu finden? Selbst der schwere Unfall vor zehn Jahren, seit dem er sich nur unter Schmerzen bewegen konnte, hatte ihm nicht die Lebensfreude nehmen können. Doch mit dem Tod ihrer Mutter schien alles, was an ihrem Vater hell und fröhlich gewesen war, gestorben zu sein.

Um sich abzulenken, schaute Victoria aus dem Fenster. Im Licht der untergehenden Sonne glühten die Zuckerrohrfelder rot. So rot, wie sie in den kommenden Tagen leuchten würden, wenn die Arbeiter das Unterholz in Brand steckten, um Schlangen und Ungeziefer zu vertreiben. Obwohl sie es seit frühester Kindheit kannte, fürchtete Victoria in jedem Jahr, dass das Feuer außer Kontrolle geraten könnte und die Ernte mit gierigen Flammen verzehren würde. Oder dass die rote Lohe auf ihr Haus übergriffe und alles vernichtete, was sich ihre Familie aufgebaut hatte.

Sie stieß einen leisen Seufzer aus. Als ob es da so viel zu vernichten gäbe. Ihr Vater hatte es in den letzten Jahren geschafft, aus einer mittelgroßen Plantage, die ihnen ein gutes Auskommen gesichert hatte, eine Farm zu machen, die kurz vor dem Ruin stand. Wenn Catherine und sie nicht höllisch aufpassten, würde Vater auch in diesem Jahr wieder … Nein, Victoria musste darauf vertrauen, dass ihr Vater genug Vernunft besaß und nicht alles zerstörte, was ihnen gehörte.

Ihr Leben war schon ohne die Tatsache, dass Joseph alles riskierte, hart genug. Von Jahr zu Jahr wurde es schwerer, Arbeiter zu gewinnen. Im Unterschied zu vielen Zuckerrohrpflanzern weiter nördlich in Queensland beschäftigte ihr Vater nur weiße Saisonarbeiter, die Cutter genannt wurden. Er weigerte sich, schwarze Menschen, die durch Blackbirding von den Inseln geholt worden waren, auf Amber’s Joy zur Arbeit zu pressen.

„Meine Frau hat nichts davon gehalten, Sklaven zu haben“, hatte Joseph Wagner scharf geantwortet, als sein Verwalter Richard Chandler ihm vorgeschlagen hatte, die „Kanaken“ genannten Männer zu beschäftigen. „Unsere Farm verdient Geld mit ehrlicher Arbeit oder gar nicht.“

„Ich wollte es nur gesagt haben“, hatte Richard Chandler geantwortet, ruhig und gelassen, wie es seine Art war. Groß und schlank war der Verwalter, der allein in einem Haus auf dem Farmgelände lebte. Ein Mann, dem man ansah, dass er viel Zeit in der Sonne zubrachte. Deren Licht hatte sein hellbraunes Haar ausgeblichen und ließ seine blauen Augen verwaschen wirken. Victoria kannte ihn schon ihr ganzes Leben, aber sie hatte ihn nie durchschauen können. Obwohl er freundlich und zugänglich war, kam es ihr immer vor, als ob er nur wenig von sich und seinen Gedanken preisgab. „Ich find’s auch richtig, unsere Männer zu behalten. Aber es kostet halt …“

So kam es, dass jedes Jahr die gleichen Männer zu den Erntezeiten nach Amber’s Joy zurückkehrten, in den Nebenhäusern wohnten und Leben auf die Farm brachten. Jedes Jahr im Dezember, wenn die abgeernteten Felder niedergebrannt wurden, saßen die Arbeiter mit Joseph und Richard Chandler zusammen und feierten mit Rum und Bier, dass wieder eine Saison überstanden war. Immer wieder gab es Männer, die schworen, dass diese Ernte ihre letzte sein würde, dass sie im nächsten Jahr eine eigene Plantage aufbauen würden oder sich eine leichtere Arbeit in der Stadt suchen würden. Und jedes Jahr standen diese Männer wieder pünktlich zur Ernte auf Amber’s Joy, ein wenig gebeugter, die Falten in ihren sonnengebräunten Gesichtern etwas tiefer, aber immer noch das Glitzern in den Augen, das sie als Teil der Gemeinschaft auszeichnete.

An den Abenden der Ernte saßen die Männer erschöpft um ein Lagerfeuer, tranken süßen Tee und Brandy oder Rum, rauchten und erzählten einander Geschichten. Geschichten von ihren Reisen, Erzählungen aus alter Zeit und sicher manches Lügenmärchen. Die Geschichten gehörten genauso wie die Banjo-Musik zur Erntezeit dazu. Als sie jünger waren, hatten Victoria und Catherine nichts Schöneres gekannt, als diesen Erzählungen zu lauschen. Catherine war stets vorangegangen und hatte die zögernde Victoria hinter sich her gezogen wie einen widerspenstigen Brumby.

Irgendwann hatte Joseph seinen Töchtern gesagt, dass sie nun zu alt wären, um noch mit den Arbeitern ums Feuer herum zu sitzen. Also blieben Victoria und Catherine auf der Veranda, die Ohren gespitzt und lauschten in die Dunkelheit auf Gesprächsfetzen, die der Wind zu ihnen trug.

Gegen Ende des Abends gab es immer einen Arbeiter, der den Song Waltzing Matilda anstimmte. Ein Mann namens Banjo Paterson hätte es geschrieben, hatte einer der Arbeiter der neugierigen Catherine erzählt. Vor drei Jahren – seitdem war der Siegeszug des traurigen Liedes nicht aufzuhalten. In Windeseile hatte es sich von Lagerfeuer zu Lagerfeuer verbreitet. Das Lied, gesungen aus rauen Kehlen, trieb Catherine und Victoria immer die Tränen in die Augen, weil es so voller Sehnsucht und Schwermut war. Eine Traurigkeit, die Victoria nur zu gut verstand, weil sie auch ihr Leben begleitete.

 

Was nützten die bitteren Gedanken? Sie hatte noch einiges zu tun, bis die Vorbereitungen für die Erntezeit abgeschlossen waren. Victoria trat wieder an die Spüle und beendete den Abwasch. Das Besteck klapperte im Spülstein. Das vertraute Geräusch vertrieb die dunkle Stimmung und Victoria wandte sich ihrer Schwester zu. „Nun geh schon.“

„Danke.“ Catherine hauchte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange, zog die Schürze aus und warf sie zusammengeknüllt auf die Küchenbank. „Ich mach’s wieder gut.“

Victoria schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. Wie jedes Jahr würde Catherine auf der Veranda auf die Staubwolken und den Lärm warten, sichere Zeichen, dass die Arbeiter bald eintreffen würden. Victoria hielt sich im Hintergrund, aber auch sie freute sich auf die kommenden Wochen, auf das Leben, das die Männer mit sich bringen würden. Auf die kleinen Flirts und bewundernden Blicke, mit denen die Zuckerrohrschneider Catherine und sie bedachten. Wie stets würden die Blicke der Cutter etwas länger auf Catherine ruhen. Das war Victoria nicht anders gewohnt. Ihre jüngere Schwester erhielt mehr Aufmerksamkeit von Männern, schon seit sie ein kleines Kind gewesen war. Sie verstand es, Männer wie Frauen mit ihrem Lächeln zu betören.

Manchmal konnte Victoria kaum glauben, dass sie Geschwister waren. Die lebenssprühende, immer fröhliche Catherine mit den wilden roten Haaren, die sich jedem Versuch widersetzte, sie zu zähmen. Während Victoria ein eher dunkler Typ war, die unter der gleißenden Sonne schnell bräunte, war Catherines Haut von dem milchigen Weiß der Rothaarigen. Wenn sie ihr Gesicht nicht schützte, blühten Sommersprossen rund um ihre Nase, was sie nicht leiden mochte. Catherines Augen waren von einem ungewöhnlichen Blau. „Wie der Himmel in der Dämmerung“, hatte ein Cutter mal gesagt, was ihm lautes Gelächter von seinen Kollegen eingebracht hatte. Aber es stimmte, dachte Victoria. Catherines Augen wirken so dunkel und tief wie der Himmel, bevor er in die Nacht übergeht.

Natürlich flirteten die Cutter nur verhalten, achteten darauf, Joseph nicht zu verärgern. Keiner von ihnen würde es wagen, ihrer Schwester oder ihr zu nahe zu treten. Bisher hatte der Vater noch jeden Mann vertrieben, der seinen Töchtern allzu schöne Augen machen wollte. So würde Victoria nie einen Ehemann finden, sondern den Rest ihres Lebens damit verbringen, ihrem Vater den Haushalt zu führen, ohne jemals Dank dafür zu erhalten. Ihre einzige Chance auf Liebe hatte der Vater davongejagt, ohne dass Victoria es gewagt hätte, sich gegen ihn zu stellen. Niemals würde es für sie jemanden geben, der sie liebte und aus ihrem tristen Alltag rettete. Für Victoria würde das Leben nur Pflichten bereithalten, ohne große Höhen und Tiefen, bis sie irgendwann alt war und starb. Für ihre Schwester hoffte Victoria, dass sie ein besseres Leben führen würde, dass sie einen Mann fände, der ihr ein Heim voller Glück bescherte.

Victoria holte tief Luft. Es hatte keinen Sinn, sich darüber zu grämen. Sie trocknete sich die Hände an einem Tuch ab und ging in die Vorratskammer. Ein letztes Mal überprüfte sie die Arzneimittelvorräte. Wie jedes Jahr war ihr Vater nach Marburg geritten und hatte sich vom dortigen Arzt einige Medikamente geben lassen, die sie während der Zuckerrohrernte dringend benötigen würden, wie die Erfahrung sie gelehrt hatte.

Victoria stellte die braune Flasche mit der Jodtinktur nach vorne. Wahrscheinlich würde es bis zum Ende der Ernte so viele Bisse, Kratzer und Schnittwunden geben, dass die Tinktur aufgebraucht wäre. Neben dem Jod stand eine Flasche mit Chloroform. Victoria schluckte. Hoffentlich kämen sie in diesem Jahr davon und müssten das Betäubungsmittel nicht einsetzen. Voller Grauen erinnerte sie sich an die letzte Ernte, als Richard Chandler einem der Arbeiter zwei Finger hatte abschneiden müssen, die sich nach einem Rattenbiss entzündet hatten. Sie schüttelte sich und schob die dunklen Gedanken zur Seite und prüfte ihre Hausapotheke.

Alles da. Mullbinden, Scheren, Pinzetten, ein Sud aus Weidenrinde gegen leichte Schmerzen, Zinksalbe. Wenn es zu schlimmeren Verletzungen käme, müssten sie den Arzt aus Marburg holen, auch wenn Victorias Vater nicht viel von ihm hielt. Hoffentlich würden die Stoffstreifen reichen, die sie im Winter aus ausrangierten Laken, Unterkleidern und Blusen geschnitten hatte.

Vor einem Jahr hatte Victoria einige Kräuterpasten und eine Salbe aus Eukalyptusrinde verwenden wollen, die Billy ihr gegeben hatte. Pflanzenmedizin der Aborigines. Joseph hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen und gedroht, alle Abos von Amber’s Joy zu jagen, wenn Victoria noch einmal damit ankäme. Vor zwei Wochen hatte der Vater seine Drohung wahrgemacht und Billy nach einem heftigen Streit verboten, sich je wieder auf Amber’s Joy blicken zu lassen.

Victoria biss sich auf die Unterlippe, als sie sich an den schrecklichen Abend erinnerte. Bereits am Nachmittag waren ihr Vater und Billy aneinander geraten, als es um die Zähmung eines Brumby ging. Joseph hatte wütend auf den dunkelbraunen Hengst eingeschlagen, der wieder und wieder den Kopf hochwarf, die Augen rollte und panisch wieherte. Keiner der Männer hatte es gewagt, dem Boss Einhalt zu gebieten, bis endlich Billy eingeschritten war und Victorias Vater die Peitsche entrissen hatte.

„Nicht noch einmal, Abo!“, hatte Joseph gebrüllt, war sich aber trotz seiner Wut bewusst gewesen, dass er Billy nicht verärgern durfte. Schließlich kam keiner der Männer so gut mit den Pferden zurecht wie der Aborigine-Mischling. „Erkenne endlich deinen Platz im Leben.“

Nachdem Billy am Abend jedoch Partei für Victoria ergriffen hatte und sich erneut gegen Joseph gestellt hatte, hatte die Wut ihren Vater übermannt, so dass er alle Bedenken vergessen hatte.

„Ich will dich hier nie wieder sehen!“ Mit hochrotem Kopf hatte ihr Vater Billy angeschrien. Die Hände zu Fäusten geballt, bereit, jederzeit handgreiflich zu werden. „Wenn du nicht sofort deine Sachen packst und verschwindest, werfe ich deinen ganzen verdammten Clan von meinem Land.“

Billy hatte einen eindringlichen Blick mit Victoria gewechselt, der sie bis ins Herz getroffen hatte. Sie hätte aufstehen müssen, sich gegen ihren Vater wehren und sich auf Billys Seite stellen müssen. Doch Victoria war zu feige gewesen, so dass Billy ohne ein Wort gegangen war. Kurze Zeit später hatte sie den Hufschlag seines Pferdes gehört. Voller Panik hatte sie ihren Mut zusammengenommen und war auf die Veranda gelaufen, doch da war Billy bereits vom Hof galoppiert. Unter Tränen hatte sie noch der Staubwolke nachgesehen, die sein schwarzbrauner Hengst aufwirbelte. Noch nie in ihrem Leben hatte Victoria sich so einsam gefühlt. Noch nie hatte sie sich so sehr für ihre Feigheit geschämt. Warum war sie nicht aufgestanden und hatte sich gegen ihren Vater aufgelehnt? Warum hielt sie verzweifelt an der Hoffnung fest, dass es ihr eines Tages gelingen würde, die Liebe oder wenigstens den Respekt ihres Vaters zu gewinnen?

In den vergangenen zwei Wochen hatte Victoria jeden Tag gehofft, dass Billy zurückkehren würde, dass er mehr Mut bewiese als sie, aber er schien sie aufgegeben zu haben. So wie sie es verdiente.

Kapitel 3

 

Amber’s Joy, Australien, 1897

 

Als die Nacht aufgezogen war, war die Arbeit endlich geschafft. Mit Catherines Hilfe hatte Victoria die Meat Pies auf den Tisch gebracht. Der würzige Duft der dampfenden Fleischpastete zog durch die Küche. Die Männer, die um den großen Tisch saßen, gaben dankbare Laute von sich, während sie das Essen in sich hineinschaufelten. Den zweiten Gang hatte Victoria bereits in den heißen Ofen geschoben und wischte sich mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn. Catherine zwinkerte ihr zu. Auch ihr Gesicht war hochrot von der Arbeit am Herd; Schweißperlen rannen über ihre Stirn. Ihre roten Locken hatten sich aus dem Haarknoten gelöst und sträubten sich in alle Richtungen. Catherine trocknete ihre Hände mit einem Tuch ab.

„Ich mache uns eine Limonade, einverstanden?“

Victoria nickte dankbar. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. Immer wieder benetzte sie die Lippen mit der Zunge, aber das Gefühl von Trockenheit blieb. Eine Limonade erschien ihr wie ein Geschenk des Himmels. Schon den ganzen Abend hatte sie sich danach gesehnt, aber zuerst hatten Catherine und sie dafür sorgen müssen, dass das Essen für die Arbeiter rechtzeitig auf dem Tisch stand. Ein kräftiges Essen hatte ihr Vater gefordert, mindestens drei Gänge, damit die Männer die anstrengende Arbeit des Zuckerrohrschneidens gut gelaunt beginnen würden. Die Cutter, harte Männer, früh gealtert durch schwere Arbeit, Sonne und Hitze, verbunden durch eine Kameradschaft, die nicht viel Platz für Familie und Frauen ließ. Victoria hörte ab und zu einen von ihnen von seiner Lady sprechen, die in Toowoomba oder Brisbane oder in einer der kleineren Städte auf ihn wartete. Aber auch wenn die Stimmen der Männer sehnsuchtsvoll klangen, war in ihrem Leben kein Raum für etwas anderes als die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern.

Was war wohl aus den Frauen geworden, die damals geholfen hatten, Amber’s Joy zu bepflanzen, fragte sich Victoria stets. Sie erinnerte sich noch gut an die stillen Frauen, die hinter dem Pflug hergegangen waren und die kleinen Zuckerrohrpflanzen in die schnurgraden Reihen eingesetzt hatten. Ihre Mutter war gemeinsam mit ihnen über die Felder gegangen und hatte es sich nicht nehmen lassen, Setzlinge einzupflanzen.

Doch sobald das Zuckerrohr angegangen und in die Höhe geschossen war, kamen nur noch Männer. Immer dieselben, so dass sie für Victoria und Catherine wie eine Familie waren.

Nur am Abend vor Beginn der Ernte und am Abend, nachdem das Zuckerrohr geschnitten und die Felder abgeerntet waren, lud Joseph die Arbeiter ins Wohnhaus ein. Während der Erntezeit mussten sie in den Arbeiterhäusern essen. So sah es die Tradition vor, an die sich alle Farmer im Umkreis hielten, egal, ob sie Zuckerrohr oder Weizen anpflanzten oder Schafe züchteten.

Heute thronte ihr Vater am Ende des großen Tisches wie ein König, der seine Ritter zu einem Festmahl um sich versammelt hatte, aß wenig, redete viel und zuckte ab und zu nervös mit den Fingern.

„Er wird doch nicht …“, flüsterte Catherine Victoria zu, als sie ihr die Limonade reichte. In den Augen ihrer Schwester spiegelte sich die Besorgnis, die Victoria in sich spürte. „Das letzte Mal …“

Durstig trank Victoria das Glas Limonade leer, kostete den sauer-süßen Geschmack von Zitronen und Zucker auf der Zunge aus, bevor sie antwortete. „Er hat es mir versprochen. Dieses Mal nicht.“

„Versprochen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete Catherine auf Joseph. „Schau ihn dir doch an. Seine Augen glänzen, als ob er getrunken hätte. Seine Beteuerungen sind nichts wert.“

Wütend rührte Catherine mit einem Holzlöffel in dem Topf, in dem die grünen Bohnen kochten. Sie hatte die Unterlippe vorgeschoben und die Augen zusammengekniffen. Gut, dass Vater seine Lieblingstochter nicht so sieht, dachte Victoria. Sanft strich sie ihrer Schwester über den Rücken.

„Ich rede später mit den Männern“, versuchte Victoria ihre Schwester zu beruhigen, obwohl sie selbst nicht an den Erfolg ihrer Bemühungen glaubte. „Wir kennen die meisten schon so lange, dass sie auf mich hören werden.“

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, zischte Catherine. Glücklicherweise überboten die Arbeiter sich gerade mit Geschichten über riesige Ratten, denen sie bei der letztjährigen Ernte gegenüber gestanden und ihnen erfolgreich getrotzt hatten, so dass niemand außer Victoria die wütenden Worte vernehmen konnte. „Die Männer mögen uns schätzen, aber keiner von ihnen kann es sich leisten, auf leicht verdientes Geld zu verzichten. Schau sie dir doch an.“

Während sie Brot schnitt, musterte Victoria verstohlen die Männer, die sich in ihrer Küche versammelt hatten und musste ihrer Schwester recht geben. Keiner von ihnen sah aus, als ob er sich bald zur Ruhe setzen könnte. Ihre Hemden aus rauem Baumwollstoff waren vielfältig geflickt; oft fehlten Knöpfe oder die Krägen waren ausgefranst. Auch die Hosen sahen aus, als hätten sie schon viele Jahre hinter sich. Nur das Schuhwerk der Männer war stabil und fest. In den Zuckerrohrfeldern, wo es vor Ungeziefer wimmelte, bedeuteten kaputte Sohlen oder zerrissene Schuhe Krankheit oder gar Tod. Fehler im Leder, Löcher gar, boten Ratten und Schlangen Angriffsmöglichkeiten. Victoria stieß einen leisen Seufzer aus und stimmte in Gedanken ihrer Schwester zu. Jeder dieser Männer würde sich über ein zusätzliches Einkommen freuen. Nur die Besten von ihnen würden auf Victoria hören. Die anderen wären nur zu gerne bereit, dem Boss zu Willen zu sein, egal was dessen Töchter sagten.

Cutter