Die Nudolskis führen das ganz normale Leben einer gebildeten Moskauer Familie, bis 1936 der Vater verhaftet wird und die Mutter und fünf Jahre alte Stella als Volksfeinde nach Kirgisien verbannt werden. Mit unverzagtem kindlichem Selbstvertrauen und Glauben an das Gute erzählt die kleine Stella von den menschenverachtenden Lebensbedingungen im Arbeitslager. Die Mutter ist selbst hier bestrebt, dem Kind humanistische und kulturelle Ideale zu vermitteln, es zu einem gebildeten Menschen zu erziehen. Tatsächlich gelingt es ihr, die lebensfrohe Naivität des Kindes zu beschützen und zu bewahren. In all ihrer Not erfahren Stella und ihre Mutter zudem immer wieder Güte, Hilfe und Solidarität, auch wenn gerade zu Kriegszeiten bedingungslose Anpassung gefordert wird.
"Die Dokumentation eines Wunders – die Erziehung einer menschlichen Persönlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen.“ Sergej Lebedew
Olga Gromowa, Bibliothekarin und Journalistin, begann 1988 die Geschichte ihrer Nachbarin Stella Nudolskaja aufzuschreiben, die 1937 als Kind mit ihrer Mutter als Angehörige eines Volksfeinds nach Kirgisien verbannt wurde. Das Buch erschien 2014 zuerst als Jugendbuch, später auch für Erwachsene.
Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, studierte russische Sprache und Literatur in Woronesh (Russland), Lektorin, seit 1991 freiberufliche Übersetzerin. Sie übertrug u. a. Swetlana Alexijewitsch, Ljudmila Ulitzkaja, Polina Daschkowa, Boris Akunin, Jewgeni Wodolaskin und Juri Buida ins Deutsche.
Olga Gromowa
Zuckerkind
Von Stalin nach Kirgisien verbannt
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Mit einem Vorwort von Ljudmila Ulitzkaja
Zu allen Zeiten wurde und wird der Kampf zwischen Erinnern und Vergessen geführt. Die Geschichte der Menschheit begann im Grunde in dem Moment, da die Menschen gelernt hatten, ihre Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, zunächst mündlich, dann auch schriftlich. Erinnerung ist das Festhalten von Vergangenem. Doch sie hat nur dann einen Sinn, wenn es jemanden gibt, der das Festgehaltene zu verstehen vermag. Der Wunsch nach umfassender Erforschung der Geschichte der Menschheit seit ihren Ursprüngen motiviert Historiker, Texte in unbekannten Sprachen zu entschlüsseln, hinterlassen von untergegangenen Völkern.
Doch unendlich viele kleine, private Geschichten von Menschen, die keine Heerführer oder Schriftsteller waren, keine Wissenschaftler oder Philosophen, Geschichten von Millionen einfachen Menschen, gehen verloren, weil sie keine Zuhörer hatten oder weil auch diese Zuhörer gestorben sind. Hinzu kommt, dass wir in der schnelllebigen heutigen Zeit kaum innehalten oder zurückblicken, um die Erfahrungen unserer Vorfahren zu verarbeiten. Doch es ist ein großer Verlust für die Menschheit als Ganzes, wenn sie darauf verzichtet, sich an ihre oft schwere Vergangenheit zu erinnern. Die Ignoranz gegenüber dem Vergangenen birgt die Gefahr, dass die gleichen ungeheuerlichen Fehler wieder und wieder begangen werden.
Dies ist ein Buch, für das es lohnt, ein paar Stunden in der Hektik des Alltags innezuhalten, um es zur Hand zu nehmen und zu lesen. Olga Gromowas »Zuckerkind« erzählt mit literarischen Mitteln von der Kindheit eines ganz außergewöhnlichen und begabten Mädchens – Stella Nudolskaja. Sie erlitt ein Schicksal, das sie mit Tausenden sowjetischer Kinder teilte. Ihre Kindheit fiel in die Vorkriegs- und Kriegsjahre, als die Stalinschen Repressionen das gesamte Land erfassten und Millionen Menschen verfolgt wurden: Manche wurden erschossen, andere für viele Jahre in Lager gesperrt; ihre Angehörigen wurden verbannt, ihre Kinder oft in Kinderheime gesteckt.
Die dramatische Geschichte von Stella Nudolskaja beginnt mit einer erschütternden Szene: Das kleine Mädchen wacht auf und sieht, wie seine Mama und seine Oma den aufgeschlitzten Bauch seines Plüschteddys wieder zunähen. Sie können dem Kind nicht erklären, dass es in der Nacht eine Haussuchung gegeben hat, dass der Vater verhaftet wurde und die KGB-Leute den Teddybauch aufgeschlitzt haben, weil sie darin Belastungsmaterial gegen den Vater suchten.
Stella und ihre Mutter wurden verhaftet und nach Kirgisien geschickt, in ein Lager für Angehörige von Heimatverrätern. Damit begann ein Leidensweg, den Mutter und Tochter mit großem Mut meisterten. Wir erfahren, wie der brutalen, bedrohlichen Staatsmaschinerie immer wieder Wunder menschlicher Güte entgegengesetzt werden, die überleben helfen. Tatsächlich treffen Mutter und Tochter in jeder für sie lebensbedrohlichen Situation auf einen guten Menschen, der sie rettet. Selbst unter den Tscheka-Leuten findet sich ein Mann, der ihnen hilft.
Es ist also eine fast märchenhafte Geschichte. Wenn man so will, eine ganze Kette von Wundern. Und das letzte Wunder in dieser Kette ist womöglich, dass Stella Nudolskaja im hohen Alter auf die Schriftstellerin Olga Gromowa traf, die Stellas erstaunliche Geschichte für uns aufgeschrieben hat.
Doch mir scheint, diese Wunder folgen einer gewissen Gesetzmäßigkeit. Das kleine Mädchen und ihre Mutter sind Menschen von außerordentlicher Aufrichtigkeit, Güte und moralischer Stärke. Sie bewältigen den Weg schrecklicher Prüfungen mit großem Mut und großer Dankbarkeit für die Menschen, die ihnen helfen.
In grausamen Zeiten sterben bekanntlich vor allem die Schwachen. Doch diese beiden Menschen besitzen eine solche moralische Kraft und ein solches Vertrauen in die Welt, dass auch die Menschen um sie herum sich ihnen gegenüber stets großmütig zeigen. Darum liegt vor uns nun eine seltene Geschichte mit glücklichem Ausgang.
Die russische Organisation MEMORIAL veranstaltet seit zwanzig Jahren einen Aufsatzwettbewerb für ältere Schüler: »Der Mensch in der Geschichte«. Dabei werden rund zweitausend Aufsätze aus allen Gegenden Russlands eingereicht, von Archangelsk bis Magadan, und der Großteil dieser Einsendungen beschäftigt sich mit dem Schicksal der Großeltern und Urgroßeltern der Schüler, Altersgenossen von Stella Nudolskaja. Jedes Jahr veröffentlicht MEMORIAL einen dicken Band mit diesen Aufsätzen – ein Konzentrat menschlicher Erinnerung. Diese Aufsätze sind eher historische Forschungen als literarische Prosa, und die Geschichten, von denen sie erzählen, enden bei Weitem nicht immer mit dem Triumph des Guten.
Jeder Mensch hat irgendwann im Leben die Wahl: Willst du dem Guten dienen oder dem Bösen? Diese Frage ist auch heute noch aktuell, vielleicht nur etwas komplizierter, denn das Böse tarnt sich geschickt als das Gute, und es erfordert einige geistige Anstrengung, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Olga Gromowas Buch ist ungeachtet seiner dokumentarischen Grundlage ein wunderbares literarisches Werk. Es bietet uns keine Überlebensrezepte an, es erzählt einfach vom Schicksal zweier zarter Wesen, die durch ihren persönlichen Mut und das Mitgefühl anderer Menschen überlebt haben. Es ist ein Lehrstück über den Sieg von Individuen über das große Böse, und damit eine wichtige Lehre für uns alle. Damit wir wissen: Der Schwache kann den Starken besiegen.
Ljudmila Ulitzkaja
Die Orte, an denen das Buch spielt. Karte der Sowjetunion in den Grenzen von 1940.
Geschichte eines Mädchens aus dem vorigen Jahrhundert, erzählt von Stella Nudolskaja
Für Stella und Erik
Ich habe mein Versprechen gehalten.
O. G.
Ich mag nicht mehr an Unterricht denken, generell nicht und konkret nicht an den Deutschunterricht – so schön ist draußen der Frühherbst mit der hellen Herbstsonne, so sehr zieht es mich in den Wald in unserem Moskauer Vorort. Ich höre mit halbem Ohr zu, als die Lehrerin die Ergebnisse der Leistungskontrolle bekannt gibt. »Nudolskaja – eine Drei …« Habe ich mich etwa verhört? Die Klasse brummt verständnislos, verstummt jedoch rasch unter dem strengen Blick der neuen Deutschlehrerin. Meine Mitschüler in den ersten Bankreihen drehen sich erstaunt zu mir um: Meine zweite Drei in Deutsch in einer Woche. Alle wissen, dass ich Deutsch fast so gut spreche wie Russisch und in einem Schuldiktat auf keinen Fall eine Drei geschrieben haben kann.
Und plötzlich verstehe ich. Die kürzliche Drei in Russisch für den Aufsatz (die Lehrerin hat gesagt, ich hätte stilistische Fehler gemacht und das Thema nicht erfasst) und die Drei heute erscheinen mir nicht mehr so verwunderlich. Kränkend – ja, ungerecht – natürlich … Doch in diesem Augenblick wird mir klar, dass sich die Dreien jetzt, in der Abschlussklasse, unweigerlich häufen werden, egal, wie sehr ich mich bemühe. Und am Ende des Schuljahres werde ich in Russisch und in Deutsch nur eine Zwei bekommen. Also keine Gold-, nicht einmal eine Silbermedaille, trotz aller Einserzeugnisse der vergangenen Jahre.
Nun höre ich gar nicht mehr zu. Ich denke nach. Klar, dass die Zwei in Russisch feststeht – also keine Medaille. Zwar kann man sogar mit zwei Zweien auf dem Abschlusszeugnis eine Medaille erhalten, nicht aber mit einer Zwei in Russisch. Das ist Gesetz. Und so wird es wohl kommen. Kränkend und unverständlich finde ich nur, warum ich auch in meinem geliebten Deutsch eine Zwei bekommen soll. Nicht in Mathematik, nicht in Physik … Vielleicht, weil unsere neue Klassenlehrerin Deutsch unterrichtet und es offenkundig nicht besonders gut beherrscht … und deshalb niemanden mag, der es besser kann als sie? Oder wurde sie einfach beauftragt, eine »Weisung« umzusetzen, weil sie erst seit Kurzem in unserer Siedlung wohnt und noch ein bisschen fremd ist?
Meine Mutter unterrichtet auch Deutsch. In derselben Schule. Aber sie darf nicht in den höheren Klassen unterrichten, nur von der fünften bis zur siebten. Wir wohnen bei der Schule – in einer kleinen Dienstwohnung. Mama wird natürlich traurig sein wegen meiner Deutschzensur, aber ich weiß genau, dass weder sie noch ich deswegen streiten werden. Oder irgendwem irgendwas erklären. Und meine Klassenkameraden … ach, die werden sich eine Weile wundern und sich dann daran gewöhnen. In der zehnten Klasse hat jeder mit sich zu tun.
Später, irgendwann einmal … wenn es nicht mehr gefährlich ist … dann werde ich meine Geschichte erzählen, wenigstens den engsten Freunden. Aber das wird nicht so bald sein. Wenn überhaupt jemals. Vorerst kann ich mich nur stumm daran erinnern.