Wolf Lotter
UNTERSCHIEDE
Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird
Inhalt
I.Unterscheidung
Die wichtigste Kraft der Wissensgesellschaft
II.Inventur
Über den Anfang des Aufbruchs
III.Gerechtigkeit
Warum Gleichheit nicht gerecht ist
IV.Wettbewerb
Finden, was ich wirklich, wirklich will
V.Versöhnung
Wie wir lernen, den Unterschied zu lieben
Anmerkungen
»Always remember that you are absolutely unique.
Just like everyone else.«
Für Katharina
»Bene docet, qui bene distinguit.«
»Gut lehrt, wer die Unterschiede klar darlegt.«
Ermutigung
Wir leben in Zeiten der großen Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Manches verändert sich dabei spürbar. Der weitaus größere Teil dieser Veränderung aber schleicht sich nahezu unbemerkt in unser Leben, in unsere Arbeit, in unsere Kultur und beeinflusst so die Art, wie wir die Welt verstehen. Je bewusster wir uns all dieser Entwicklungen werden, desto erfolgreicher wird die Veränderung verlaufen. Die Verbesserung der Welt ist kein Zufall und kein Schicksal.
Das Neue ist, was den Unterschied macht. Die Innovation, die Überraschung, die Unterbrechung. Es ist jene »schöpferische Zerstörung«, die der Ökonom Joseph A. Schumpeter als die treibende Kraft des Kapitalismus begriff. Aber sie ist natürlich weit mehr als nur auf dessen Varianten oder auch nur auf die Ökonomie begrenzt. »Der Mensch spürt nur den Unterschied«: Dieser Sigmund Freud zugeschriebene Satz macht klar, was wir uns vergegenwärtigen sollten: Wir sehen nicht nur den Unterschied. Wir machen ihn auch. Wir sind der Unterschied.
Wir können gar nicht anders. Das ist das Wesen unseres Bewusstseins. Alles Lernen, Lieben, Verstehen erwächst aus diesem Kern. Jedes Talent und jede Qualität erklärt sich aus dem Unterschied. Wie kommt es dann, dass der Unterschied einen so schlechten Ruf hat?
Vielleicht, weil aus denen, die einst angetreten waren, den Unterschied zu machen, schöpferisch zu zerstören und zu erneuern, Etablierte geworden sind. Und das Establishment sich naturgemäß in Routine übt. Weil es bewahren will, sagt es: Never change a running system, und unterschlägt dabei konsequent die eigentliche Frage: Für wen läuft das System? Für wen nicht? Auch hier verstellen verborgene Interessen und Moral den Blick. Fragen wir in der Transformation doch vernünftiger: Was soll bleiben? Was soll kommen? Jede Form von Politik lebt davon, einen Unterschied zu machen, nicht etwa in Gleichförmigkeit zu erstarren.
Unterscheiden heißt Erkennen, und Erkennen ist der Anfang des Aufbruchs. Das ist der Unterschied, um den es in diesem Buch geht. Eine Ermutigung, sich nicht vor der Kompliziertheit des Neuen zu fürchten, sondern sich vielmehr klarzumachen, dass Innovationen und Erneuerungen uns helfen, ein besseres Leben zu führen. Und dass dieses bessere Leben unendlich viele Facetten birgt und eben nicht vereinheitlicht werden kann. So ist es auch gegen den furchtsamen, teils auch manipulativen Zeitgeist geschrieben, der Einheit beschwört und Einfalt erhält. Es ist ein Appell für echte Diversität, für die Einzelgerechtigkeit statt vereinfachender Zuschreibungen und Kategorisierungen, wie etwa männlich/weiblich/divers.
Es ist ein Buch für eine Gerechtigkeit, die sich nicht durch Formalitäten, Regeln oder Verallgemeinerungen definiert. Eine menschengerechte Gerechtigkeit ist nicht buchstabentreu. Unterschiede finden sich jenseits der einfachen Antworten.
Dieses Buch fordert auf, alte Regeln zu brechen und an ihre Stelle jene neuen zu setzen, die dem Individuum gerecht werden und nicht einer Ideologie. Es ist ein optimistisches Buch selbst dort, wo es die Grausamkeiten und Irrtümer totalitärer Kollektive beschreibt, denn der Autor ist fest davon überzeugt, dass nur ein realistisches Menschenbild eine bessere Entwicklung ermöglichen kann. An die Stelle des Zweckoptimismus soll hier also Ingeborg Bachmanns Wort von der Wahrheit, die dem Menschen zumutbar ist, treten.
Es ist ein zuversichtliches Buch für alle, die sich nicht damit zufriedengeben, nur als Teil des Ganzen definiert zu werden. Es wird hoffentlich deutlich werden, dass jede Vereinfachung die Schönheit der Vielfalt nur verdeckt, dass das Zeitalter der grauen Einheitlichkeit überwunden werden muss – vor allem ihre Denkart und ihre Kultur. Wir werden sehen, dass es sich lohnt, anders zu sein und das Anderssein zu verteidigen, dass Grenzen nicht schlecht sind, wenn wir sie als Merkmal der Unterscheidung zu nutzen verstehen – nicht als unüberwindliche Barrieren, sondern als Leuchttürme unserer Existenz und der Schönheit der Welt. Denn das ist, was uns die Unterschiede lehren, ja der Grund, warum es sie gibt: wie schön es doch ist, wie wunderbar, sie zu bemerken.
Hochauflösend
Die Geschichte der menschlichen Kultur ist die ihrer Erfindungen. Dabei geht es nicht allein um Werkzeuge und Technik, Methoden oder Formeln, sondern vor allen Dingen darum, all diese Ideen und Erneuerungen, Verbesserungen und Verfeinerungen der menschlichen Natur jeweils richtig zu nutzen, aber eben auch darum, ihren Sinn zu verstehen. Es geht also nicht nur um den Zweck eines Mittels, etwa die Vereinfachung von Arbeit durch ein Werkzeug, sondern auch um den beiläufigen Sinn, also das, was uns die Kulturtechnik der Idee zu sagen hat. Es ist leichter, etwas zu benutzen, als dessen Sinn zu verstehen. Wenn die Dinge sprechen könnten, was würden sie uns heute sagen? Zum Beispiel einem Menschen, der vor einem hochauflösenden Bildschirm sitzt, der in 4- oder gar 8K-Auflösung jedes noch so feine Detail zu einem Ganzen zusammenführt?
Die Antwort lautet: Es kommt darauf an, was wir gelernt haben. Für die einen ist der Blick auf einen hochauflösenden Monitor am Smartphone oder Computer gerade der Beweis dafür, dass alles irgendwie eins ist – eine Einheit also, die umso fester erscheint, je brillanter ihr Bild erstrahlt.
Für andere wiederum bedeutet High Definition eben nicht Amalgam und Einheit, weil sie um die Grundlage des schönen Scheins wissen: Es ist das Detail, ein jeder Bildpunkt in Abermillionen Farben, in unzähligen Varianten. Die eine Sicht auf den Bildschirm ist die von gestern, aus dem Zeitalter der Einheit, Norm und kollektiven Nivellierung. Der andere Blick macht den Unterschied. Er weiß um die Diversität und Komplexität der Welt. Sein Fokus liegt auf der Wissensgesellschaft, auf einem besseren Morgen, in dem nicht mehr Gleiches gerecht ist, sondern das, was dem Einzelnen gerecht wird. Im Sinne dieser Transformation ist der Unterschied die Kraft hinter Innovation, Vielfalt, Wohlstand und Menschlichkeit.
Selbstreflexion
Zum Elend moderner Gesellschaften gehört es, auf sozialer und kultureller Ebene nicht zu verstehen, was technisch längst vollzogen ist. Unser Bewusstsein hinkt unseren Möglichkeiten, die wir selbst geschaffen haben, hinterher. Es wird Zeit, dass wir den Blick auf uns selbst in höchster Auflösung richten. Fangen wir an, Unterschiede zu sehen. Machen wir unserer Fehlsichtigkeit ein Ende.
Alle reden von Vielfalt, von Diversity. Aber was ist das eigentlich? Jede einfache Antwort darauf ist falsch. Vielfalt und Diversität werden zum Paradox, wenn man versucht, sie auf Regeln, Normen und Standards festzulegen. Das gilt für Sprache und Organisationen gleichermaßen. Vielfalt lässt sich nicht einhegen, kontrollieren oder verordnen. Dieses Buch will dazu anregen, den Umgang mit der wichtigsten Kraft der Wissensgesellschaft zu kultivieren: der Unterscheidung. Unterscheidung macht uns zu Menschen, und nur wer den Unterschied spürt, kann diese Welt zum Besseren verändern. Wir haben gelernt, uns einzufügen, die Einheit zu bejubeln. Die Wissensgesellschaft braucht aber genau das Gegenteil davon: Menschen, die den Unterschied machen. Die zeigen, dass sie anders und stolz auf dieses Anderssein sind. Der Unterschied ist unser Freund.
Auf den ersten Blick mag das reichlich banal klingen. Müssen wir nicht jeden Tag, jede Minute eine Sache von der anderen unterscheiden? Ist nicht alles, was wir wahrnehmen, letztlich darauf gebaut? Ist es nicht geradezu ein Merkmal bewussten Denkens, einen Gedanken vom anderen zu unterscheiden?
Zweifellos.
Und dennoch gehen wir in unserer Welt, die vom industrialistischen Denken – der Kultur der vergangenen 250 Jahre – geprägt ist, mit den Unterschieden schlecht um. Wir unterscheiden nicht, um mehr zu erkennen, sondern um auszugrenzen.
Vielfach halten wir den Unterschied deshalb für ungerecht und unfair. Doch anstatt sich über den Sinn der jeweiligen Unterscheidung schlauzumachen, suchen wir allzu oft lieber das, was wir schon kennen – unterschiedslos immer das Gleiche, und dabei geht der Reiz des Originellen verloren. Ähnlichkeit ist gefragt, am besten in Übereinstimmung im Denken und Handeln, und längst auch im Reden. Das scheint Sicherheit zu verleihen in einer Welt, die man kompliziert nennt, weil man ihre Komplexität nicht gelernt hat zu erschließen. Das ist gefährlich und ein guter, vielleicht der beste Grund für Tyrannen und Dogmatiker, frohen Mutes in die Zukunft zu sehen. Wo sich nichts mehr unterscheidet, alles gleich ist, herrscht Gleichgültigkeit.
Was heißt das in einer globalen Wirtschaft, in Gemeinschaften der Vielfalt, die heute in jeder kleineren Stadt entstanden sind? Was bedeutet das für die Suche nach Innovationen und Lösungen in unserer krisengebeutelten Welt? Das bedingungslose Festhalten an Einheit und Bekanntem kommt hier nicht nur einer Vollbremsung gleich, es bedeutet geradezu das Einlegen des Rückwärtsgangs. Aus einem Schritt vorwärts, zwei zurück – der selbstkritischen Phrase des russischen Revolutionsführers Lenin – ist ein ängstlicher Dauerlauf ins Einheitliche geworden. Zurück in ein Zeitalter, das nie wiederkommt – und das auf Unterschied verzichtete, weil sich damit schlecht kontrollieren, manipulieren und regieren ließ: zurück in den Industrialismus.
Erst durch den Unterschied werden wir zu Persönlichkeiten, die Selbstbestimmung erlangen können, um selbstverantwortlich zu entscheiden und zu handeln. Das Unterscheiden ist die Conditio humana schlechthin. Gerade deshalb muss man über sie grundsätzlich reden.
Die Vielfaltsmaschine
Wir fragen eine Menge nach, wollen Grundlagen verstehen, damit wir lernen, mit Unterschieden richtig umzugehen – kein einfaches Unterfangen, das sei gleich gesagt. Denn auch wenn wir ohne Unterschiede nicht leben können, hat unsere Kultur Muster entwickelt, die das geschickt verbergen – und uns in der Scheinsicherheit wiegen, dass es so etwas wie ein einheitliches Denken und Empfinden gäbe.
Und es ist ja nicht nur der Mensch, der den Unterschied spürt, auch die Natur setzt ihn als Mittel aller Entwicklung ein. Die Evolution ist eine Unterscheidungs- und Vielfaltsmaschine, ein unermüdliches System der Differenzierung, die immer neue Vielfalt schafft – und damit das Leben in seiner ganzen Fülle erst möglich macht. Dahinter steckt weder ein Bauplan noch eine Methode. Es ist ein vielfältiges Experiment ohne Ende, bei dem es stets darum geht, Unterscheidbarkeit an die Stelle vermeintlicher Perfektion und Endgültigkeit zu setzen. Die Natur unterscheidet, das ist ihr Wesen.
Selbst die größten Anhänger des Einheitsdenkens können sich nicht nicht von anderen unterscheiden. Die Unterschiede in den Kulturen und Schichten sind ein alter Quell von Auseinandersetzung und Streit, auch immer wieder neuer Distinktion, dem Bemühen, sich von den anderen abzuheben – und sich damit persönlich kenntlich zu machen. Das gilt in der Wirtschaft, in der Kultur ebenso wie in der, oder besser: den Gesellschaften.
Die klaren und offensichtlichen Unterschiede wie all jene, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu sozialkritisch als »feine Unterschiede« beschrieben hat – bestimmen unser Leben.1 Wir vergleichen und werden verglichen. Wir nehmen Maß und werden gemessen. Wir unterscheiden und grenzen ab.
Nichts davon wäre an sich unmoralisch oder schlecht, würde es in unserer Gesellschaft nicht die Mechanismen der Macht beschreiben, die sich der Differenz als Mittel zur Ausgrenzung bedienen.
Grenzen, das gleich vorweg, sind wichtig. Gerade die Kenntnis klarer Grenzen und der Verschiedenartigkeit sorgt dafür, dass man offen mit Differenz umgehen kann. Anders zu sein ist kein Makel, außer, man lebt in einer Gesellschaft, in der das Anderssein bereits als Verrat an den jeweils definierten Werten gilt oder, ebenso häufig, das Andere, Fremde eine negative Konstruktion darstellt. Auf solcher Grundlage stehen Rassismus und Ausgrenzung.
Ausgrenzung und Einheitswahn befeuerten die Totalitarismen des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie alle haben ihre Ursache in einem kulturellen Irrtum, der nicht nur im Westen verbreitet ist, hier aber vielfach als Normalität vorausgesetzt wird: dass Übersichtlichkeit und Gleichheit etwas Erstrebenswertes wären. Tatsächlich ist das, wie wir noch sehen werden, nicht nur falsch, sondern bewirkt auch das Gegenteil.
Die Massengesellschaft
Unterschiede stören unsere Denkbequemlichkeit und nähren die falsche Vorstellung, die Welt sei aus einem Guss. Darin, dass Einheit etwas Gutes sei, Differenz aber zumindest den Keim des Chaos, wenn nicht der Zerstörung, in sich trage, ist sich die gelebte Alltagskultur in den »Industrienationen« im Großen und Ganzen einig. In Deutschland hat man dazu eine, dem Einheitskult des Landes gemäße, moderne Volksweisheit geschaffen: Was nicht passt, wird passend gemacht.
Doch wir leben längst in einer Wissensgesellschaft, in der gelebte Differenz, Netzwerke, Originalität und Persönlichkeit unseren Wohlstand und unsere Kultur prägen. In ihr wird die stete Abwehr von Entwicklung und Unterscheidungsfähigkeit, wie sie im »Passendmachen« zutage tritt, zum Problem, denn nun kollidiert die Welt der Differenz und der Diversität mit jener Einheitsvorstellung, in der es sich so viele gemütlich gemacht haben. Deutschlands Einheitskult ist etwas Besonderes: Bis heute wird die »Kleinstaaterei«, also die politische Vielfalt, die vor der Gründung des Deutschen Reiches 1871 herrschte, als Zeit des Chaos beschworen. Die meisten folgen dabei der guten alten und bis heute wirksamen Propaganda Otto von Bismarcks. Dass Einheit gleich Gerechtigkeit ist, wird man kaum irgendwo so sehr im moralischen Kanon eines Landes wiederfinden wie in Deutschland – in allen politischen Lagern zudem. Differenz darf es vielleicht in der Folklore geben – Seefahrerromantik in Hamburg, Lederhose in München –, aber ansonsten wird stramm darauf geachtet, dass anderes, abweichendes Verhalten eingenordet wird. Deutschland hat eine geradezu eiserne Industriekultur – und die wurzelt eben in jenem Massenbewusstsein und jener Einheitsdenke, die regelmäßig für gewaltigen Schaden und Irrtümer sorgt.
Massenpsychose
Die im Zuge der Industrialisierung entstandene Massengesellschaft verfügt über eine eigene Massenpsychologie, wie sie der französische Arzt, Kulturwissenschaftler und Psychologe Gustave Le Bon2 bereits in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts – vielfach bis heute – zutreffend charakterisiert hat. In der Industriegesellschaft, so seine sozialpsychologische Analyse der Massen, habe »die Organisation ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert«. Diese Kraft aber, die in der Regel gewalttätig auf jede Abweichung reagiert, gab es in Gesellschaften immer schon.
In seinem ersten Kapitel des bahnbrechenden Buches »Psychologie der Massen« schreibt Le Bon deshalb von der »Massenseele« und dem »psychologischen Gesetz von ihrer seelischen Einheit«. Dabei geht es Le Bon um ein Phänomen, das man immer wieder beobachten kann: Menschen, die in Massen aufgehen – oder aber auch nur in Gemeinschaften –, verhalten sich dort anders, als sie es als Individuen tun würden. »Unter bestimmten Umständen«, schreibt Le Bon, »besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen haben sich nach derselben Richtung orientiert.«3
Es würde sich eine »Gemeinschaftsseele« bilden, eine »psychologische Masse«. Und so finde man unter den »wildesten, grausamsten Konventmitgliedern gutmütige Bürger, die unter normalen Verhältnissen friedliche Notare oder ehrsame Bürger geworden wären«.4 Das kennt man aus allen Massenbewegungen und Revolutionen, aus Sekten und Religionen, so tickten die biederen Familienväter im »Dritten Reich« an der Front und als KZ-Aufseher, als SS-Mitglieder oder, auf der anderen Seite der möglichen Totalitarismen, in den sowjetischen Gulags Josef Stalins. Es gehörte zu jenen unerhörten Entdeckungen nach den Grausamkeiten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts – und es gehört nach wie vor zur Geschichte kollektiver Gewalttaten –, dass sich die einzelnen Täter so oft als besonders »normal« herausstellen, als durchaus feinsinnige Individuen, die in der Gruppe doch zu jeder Unmenschlichkeit bereit sind, ganz so, als ob sie durch den Eintritt in die Masse all ihre Verantwortlichkeit verlieren würden. Am treffendsten hat Hannah Arendt diesen Typus des Gemeinschaftsmörders als »Schreibtischtäter« am Beispiel Adolf Eichmanns5 beschrieben. Es geht darin um die Frage der persönlichen Verantwortung. Selbstverantwortung, die zur Selbstbestimmung und Emanzipation gehört und von ihr nie getrennt werden kann, ist die Grundlage jener positiven Differenz, von der in diesem Buch die Rede ist.6
Wer sich in die falsche Einheit begibt, kommt darin um, noch öfter aber trifft es dabei die Anderen. Und selbst wenn es nicht um die nackte Existenz geht, sind die Schäden, die das Einheitsdenken und der Kollektivismus bis heute anrichten, flächendeckend und gewaltig. Sie betreffen diese wie die nächsten Generationen.
Gefährliche Einheit
Das Einheitsdenken verbaut Zukunft, suggeriert ein Weiter-so!, wo längst Alternativen zum Bekannten fällig wären. Regeln und Normen, Standards und Richtlinien sind gut, wenn man weiß, was sie sind: Hilfsmittel und Werkzeuge, die nicht einem Selbstzweck dienen, sondern im Geist der Moderne, Demokratie und Aufklärung die Freiheitsräume der Einzelnen schützen sollen. Sie dienen nicht der Gleichmacherei, sondern der positiven Diskriminierung, jener Einsicht also, dass Differenz und Unterschied nützen und nicht schaden.
Wo man alles und alle »über einen Kamm schert«, kann nichts Neues entstehen. Selbst dort, wo man damit die besten Absichten hegt. Auch die letztlich tollwütigen Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses der Französischen Revolution, die biederen Konventsmitglieder, von denen Le Bon berichtet, haben es ja »nur gut gemeint«. Keine Einheitsdiktatur hat jemals etwas anderes behauptet. Ausgegrenzt, gemordet, systematisch vernichtet wurde ja offiziell nicht etwa aus Machtgier und sadistischer Gewalttätigkeit, sondern, »um das Gute gegen das Böse zu bewahren«. Mit diesem Motto zog man in den Dschihad, in die Kreuzzüge, nach Auschwitz, in die Gulags und in die Kulturrevolution. Um die Welt besser zu machen, mussten erst die Unterschiede beseitigt werden, die Menschen also, ausgelöscht und nivelliert. Die Liquidation des Unterschieds endet immer im Massenmord.
Kernwert Vielfalt
Deshalb muss man den richtigen, den positiven Unterschied, der gleichbedeutend mit der Freiheit und dem Recht auf Andersartigkeit ist, als Kernwert der Demokratie und der Zivilgesellschaft verteidigen, mit jener Bedingungslosigkeit, mit der sich die Feinde des Unterschieds an ihm zu schaffen machen. Das gilt ganz besonders im Zeitalter der Digitalisierung und der Netzwerke, in denen einerseits die Chancen groß sind wie nie, der Differenz eine glänzende Rolle in der Geschichte zu verleihen und menschengerechte Arbeit und Entwicklung voranzutreiben, andererseits aber auch die Gefahren einer neuen Vereinnahmung unübersehbar sind.
Schon ein paar Jahre Wohlstandsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg genügten, um eine nach Vielfalt rufende, Selbstbestimmung fordernde und durchaus aufmüpfige Generation, die 68er, hervorzubringen, mit allen Widersprüchen, aber auch den bleibenden Einflüssen, die wir dieser Abweichung verdanken. Die aktuellen Generationen wissen gut, dass die Muster der Anpassung und der Gleichmacherei für die Digitalisierung und die Wissensgesellschaft nicht mehr funktionieren. Paradoxien gibt es auch hier, ohne Ende. Einerseits wünscht man sich die sichere materielle Einheitsversorgung der Alten, andererseits zeigen die Jugendbewegungen von heute deutlich, dass man weit weniger auf die Kontinuität von Lebensvollzügen setzt als noch in den Generationen zuvor. Die Einsicht, dass nichts von Dauer ist und damit Unterschiede gut erkennbar bleiben müssen, weil sie Chancen und Möglichkeiten bergen, hat sich herumgesprochen. Man kann das an der Erosion der einst so stabilen, normierten Werte der Volksparteien erkennen: Die Parteien waren Kinder der Massengesellschaft und des Einheitsdenkens. Hier die Parteilinie, dort die »Abweichler«, wie man alle sich vom Mainstream Unterscheidenden verächtlich nannte. Damit ist im Wortsinn kein Staat mehr zu machen. Wo es keine Einheit mehr gibt, reicht eine politische Identität nicht mehr aus. Und auch die Identitäten, die an ihre Stelle treten, geraten zunehmend unter den Druck des Individuums. Das muss man verstanden haben, um zu erkennen, dass es nie wieder so wird, wie es war: so scheinbar übersichtlich, weil man Alternativen einfach ausgrenzte. Ein Politikmodell dieser Transformation liefern zweifelsohne die Grünen, die eben jene neue Volkspartei repräsentieren, die weitaus breiter und mit weitaus mehr Differenz und Divergenz ausgestattet ist als die alten Volksparteien. Das sorgt für Reibungen, denn die Muster der Auseinandersetzungen sind ja noch auf das alte Entweder-oder gebaut, das keine Abweichungen duldet. Zivilgesellschaft, die nächste Entwicklungsstufe der Demokratie, baut aber auf dem friedlichen und kooperativen Nebeneinander der Unterschiedlichen. Das ist kein Chaos, sondern ein getreues Abbild der Vielfalt, die uns ausmacht. Gemeinschaft wird zu Gemeinschaften.
Pars pro toto
Die Sozialwissenschaften haben das schon vor einiger Zeit erkannt – sie sprechen nicht mehr von der Gesellschaft, sondern von Teilsystemen. Damit erklärt man sich das Ganze, auch wenn es nur mehr ein Teil ist, als ein Prinzip, das an die Stelle der alten Einheit, des alles Erklärenden, Umfassenden, Ganzen – in toto – das Pars pro toto stellt: Der Teil steht für das Ganze.7 Wer mit dem Kopf noch in der alten Welt des in toto, der industriellen Ganzheit, steckt, dem erscheinen Gemeinschaften eben als Pflichtveranstaltungen. Man muss mitmachen, oder man ist draußen. Die neue Welt hingegen ist eher als Netzwerk organisiert. Hier sind autonome oder wenigstens voneinander weitgehend unabhängige Teile, die freiwillig kooperieren und zusammenarbeiten, zeitgemäßer. Die Komplexität der Welt wird nicht geleugnet, ignoriert oder feindselig ausgegrenzt, sondern als Realität anerkannt, der man sich jeweils erschließend nähert. Logischerweise erkennt man dabei das Andere leichter an. Differenz erscheint nun nicht mehr als Störung, sondern als Normalität, und um mit dem oder den Anderen in Beziehung zu treten, muss man sich mit ihnen verständigen, kommunizieren, einen Kontext finden. Das ist das Merkmal einer wachsenden Vielfaltskultur, bei allen Schwierigkeiten, Rückschlägen, ja zuweilen auch Rückschritten, die sie zu verkraften hat. Aber letztlich setzt sich das Prinzip des guten Unterschieds durch. Er ist es, der uns hier interessiert, weil die wahre Welt, nicht die zurechtgebogene, auf ihr beruht.
Disruptionsalarm
In der Einheitsgesellschaft, der Welt in toto, ist der Unterschied eine Bedrohung. In der Wissensgesellschaft, der Welt der Differenz, ist er gelebter Alltag.
Unterscheiden wir also, um etwas auszuschließen, etwa das Bekannte vom Unbekannten auszusperren, das Bewährte von der Innovation zu trennen, die eigene kulturelle und soziale Identität gegen die »der Anderen« abzugrenzen? Oder aber unterscheiden wir, um zu erkennen, zu lernen und damit Möglichkeiten und Varianten zu respektieren?
Machen wir einen inklusiven oder exklusiven Unterschied? Differenzieren wir, um dazuzulernen – oder um das bereits Gelernte zu verteidigen?
In der Wissensgesellschaft, in der Individualisierung, Selbstbestimmung, Originalität und das stete Suchen nach jeweils passenden Lösungen die Ökonomien, die Gesellschaften und Kulturen prägen, hängt von einer Kursänderung in der Einstellung zum Unterschied viel, wenn nicht alles ab. Vielfältige, multikulturelle Gesellschaften sind komplexer als andere. Will man sich nicht mit dem verbreiteten Phänomen identitätspolitischer und identitärer Bubbles zufriedengeben, genügt es nicht, Parallelgesellschaften als gegeben hinzunehmen; man wird sich die Frage stellen müssen, wie wir uns der Vielfalt und Diversität gegenüber verhalten.
Der mittlerweile in vielen Feldern und Themen gebräuchlich gewordene Begriff der Disruption war ursprünglich im Zusammenhang mit dem Schlagwort der »Disruptiven Technologien« von Clayton M. Christensen verwendet worden. Christensen, ein Wirtschaftswissenschaftler an der renommierten Harvard Business School, hatte damit in seinem Buch »The Innovator’s Dilemma«8 eine Theorie jener »bahnbrechenden Innovationen« beschrieben, an denen etablierte Technologien zerbrechen. Bemerkenswert an Christensens Arbeit ist nicht der Umstand, dass das Neue das Alte ablöst, sondern wie das geschieht. Der Prozess der Disruption verläuft in der Technologie wie in der Kultur vornehmlich durch Ausgrenzung und Nichtbeachtung des Neuen. Man ignoriert »das Andere«, weil man sich mit dem »Eigenen« ungestört weiter beschäftigen möchte. Disruptive Erscheinungen, die zu den deutlichsten Merkmalen der Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft gehören, sind damit keineswegs auf schiere ökonomische oder technologische Ebenen beschränkt. Ihre Existenz verdanken sie einem kulturellen Grundmuster, bei dem der Unterschied – und die potenziell vorhandene Fähigkeit zur Unterscheidung – nicht dazu verwendet wird, dass man etwas Neues erkennt und es an und für sich verstehen (oder etwa auch: nutzen) lernt, sondern es ausschließt. Exklusives Differenzieren ist ein Grundmuster unserer Kultur.
Überraschung
Exklusives Differenzieren lässt sich auch mit dem Phänomen der Überraschung erklären. Wie jedes Kind weiß, gibt es dieses Phänomen in zwei grundlegenden Ausprägungen: die schlechte Überraschung, weil etwas Unerwartetes, Neues, noch Unbekanntes und damit Unerschlossenes auftritt, das uns nicht »in den Kram« passt. Oder eine Überraschung, die wir, nach anfänglichem Staunen, in Neugier und Erschließung umwandeln. Aus einem Defizit, der Störung, wird so eine Chance, die uns, richtig genutzt, weiterbringt. Das ist es, was wir umgangssprachlich als »Aufgeschlossenheit« bezeichnen, als Offenheit.
Der Harvard-Psychologieprofessor Jérôme Bruner, der unter anderem als Berater der US-Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson tätig war, erkannte den Zusammenhang zwischen positiver Überraschungsfähigkeit und konstruktiver Unterscheidung. Bruner schreibt: »It is the unexpected that strikes one with wonder or astonishment. It need not be rare or infrequent or bizarre and is often none of these things. Effective surprises are rather obvious when they occur, producing a shock of recognition following which there is no longer astonishment.«9
Da sind wir wie vom Blitz gerührt, stehen erstaunt vor dem Neuen, vielleicht sogar schockiert, doch dann geht es darum, zu differenzieren, im besten Sinne also zu unterscheiden, worauf wir uns nun einlassen: Machen wir auf oder zu? Stellen wir neugierige Fragen, oder schließen wir die Tür? »Das wahre Geschenk der wirklichen Überraschung«, schreibt Bruner, »ist, dass sie uns über die herkömmlichen Wege zum Verständnis der Welt hinausführt.«10
Das konstruktive Unterscheiden öffnet uns also die Welt. Und das ist mehr als ein bildungsbürgerliches Ideal. In einer Wissensökonomie hängen davon Wohlstand und sozialer Friede, ja das Glück der großen Zahl ab.
Innovation und ihre Zusammenhänge
Die beiden Bücher, die mit diesem Buch in vielerlei Hinsicht verwandt sind, tragen den Titel »Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken« und »Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen«.11 In beiden Büchern war der Autor bemüht, eine Skizze der im Entstehen begriffenen Wissensgesellschaft zu zeichnen und vor allen Dingen zu unterscheiden zwischen dem, woran wir uns gewöhnt haben, und dem, was wir verstehen müssen, um die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft im Wortsinn zu begreifen.
In »Innovation« stand die Frage im Mittelpunkt, was denn eigentlich das Neue ist – und dass es, wie hoffentlich gezeigt wurde, wesentlich wichtiger ist, die Erneuerung als kulturellen und sozialen Prozess zu verstehen denn als technologischen. Wer der »Falle« unserer bisherigen Kultur entrinnen will, die darin besteht, das Bewährte und Bekannte routiniert abzuhandeln, statt sich Neuem und Unbekanntem zuzuwenden, weil es freilich auch neue Möglichkeiten und Lösungen auf große und kleine Probleme unserer Zeit bietet, wer der Denknorm und der Logik des Weiter-so! neugieriges Fragen entgegensetzt, dem erschließt sich bereits die wichtigste Eigenschaft der Wissenskultur: die Entdeckung, dass hinter dem, was man kennt, immer noch etwas steckt, was sich zu wissen und zu verstehen lohnt.
»Innovationen sind die berechtigte Hoffnung auf eine bessere Welt«, so steht es in und über diesem Buch. Insofern handelt der erste Band der dreiteiligen Reihe, die hier entstanden ist, von der Freude am Wissenwollen, der Neugierde, aber auch der Fähigkeit, anderen dieses Wissen zuteilwerden zu lassen – und ihnen eigenes Wissen zu ermöglichen.
Daran knüpft der Essay »Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen« unmittelbar an. Zu den Fragen, wie man das Neue in einer komplexen Welt beurteilen soll und wie man das »Neue in die Welt bringt«, gesellt sich – jedenfalls nach der Logik des Autors – die Frage, in welcher Form dies am besten für alle Beteiligten geschieht. Die Welt der Arbeitsteiligkeit und der Wissenschaft hat uns enorme Erfolge beschert, aber auch einen Haken: Sie ist so unverständlich wie die alte Welt der Religionen und des Schicksals, die die Welt vor dem Aufbruch der Naturwissenschaften beherrscht haben (und noch lange und zuweilen bis heute beherrschen). In der alten Welt war man dem Schicksal, dem Glauben und der Ohnmacht ausgeliefert. Man wurde in eine Lage hineingeboren, aus der es kaum eine Möglichkeit des Entrinnens gab.
Die Aufklärung hat dafür gesorgt, dass das Schicksal nicht mehr die entscheidende Kraft dieser Welt ist. Aber an ihre Stelle trat eine Ohnmacht, die viele in der »modernen Welt« verspüren. Die Zusammenhänge sind nicht mehr erkennbar. Und damit ist auch die Möglichkeit, eigenständig und selbstbestimmt zu entscheiden, was man tut und lässt, wenigstens stark eingeschränkt, wenn nicht völlig unmöglich geworden. Am Ende einer langen Entwicklung, so scheint es, sind wir so klug wie zuvor – also gar nicht –, und das nährt bei vielen Menschen heute jenen in jeder Hinsicht fatalen Konservatismus, der die letzten Tage der Industriegesellschaft kennzeichnet. Weil man nicht weiß, ob überhaupt Besseres nachkommt, versucht man zu retten, was man kann, aus dem, was da ist. Das freilich ist nicht nur für künftige Generationen zu wenig.
Wer glaubt, die Zeit zurückdrehen zu können, darf sich nicht wundern, unsanft geweckt zu werden. Das liegt in der Natur der Sache. Deshalb erinnert das Buch »Zusammenhänge« an zwei wesentliche Formeln der Wissensgesellschaft: »Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch die Bäume zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen«12, so hat es Peter Drucker in seinem Text »Die postkapitalistische Gesellschaft« vor Jahrzehnten gesagt. Wer selbstbestimmt handeln will, der braucht diese Einsicht ebenso wie jene des Philosophen Konrad Paul Liessmann, der Wissen nur dort am Werke sieht, wo etwas »verstanden und erklärt«13 werden kann.
Es geht, so der Tenor von »Zusammenhänge«, nun darum, seine Einstellung zum Wissen zu hinterfragen und zu verändern. Nicht mehr die Reduktion der Komplexität hilft uns weiter, sondern nur mehr deren Erschließung. Das sagt sich so leicht, aber man muss zunächst verstehen, auf welcher Tradition der Reduktionismus und das universalistische Denken stehen: Fast nichts, was wir im Westen und in den vom Westen beeinflussten Kulturen denken und tun, kann sich diesem unsichtbaren, allgegenwärtigen Muster entziehen. Wissen, das zur Routine geworden ist, zum Teil der Kultur und das man für »normal« hält, ohne es zu hinterfragen, wird zum Schicksal. Wir stehen nicht zufällig dort, wo wir sind, es gibt Ursachen dafür, tiefe und weithin unbewusste Verhaltensmuster, die unsere Entscheidungen und unser Handeln bestimmen und eine Normalität vorgaukeln, die uns immer wieder in die gleichen Muster zurückführt. Es ist auch dann nicht leicht, ihnen zu entgehen, wenn wir sie uns bewusst machen. Aber es ist dann immerhin möglich. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das, was wir tun, auch verstanden haben. Kontextkompetenz spiegelt sich im Wissen, warum man etwas tut oder lässt. Auch hier geht es wieder um die Fähigkeit des konstruktiven Unterscheidens. Wer, um bei Peter Druckers Bild zu bleiben, sowohl den Wald als auch die Bäume sieht, der trennt beides ja nicht, und er führt es auch nicht zu einem neuen Ganzen zusammen, sondern vernetzt es, verbindet es, erkennt, was das eine ist und was das andere, ohne dabei auf ein Element zu verzichten. Wissensökonomie, so will uns Drucker also sagen, ist eine ganzheitliche Angelegenheit, und Ganzheitlichkeit ist kein esoterisches Amalgam, sondern die Fähigkeit zum komplexen Denken, zum Sowohl-als-auch.
Optionen und Alternativen
Die Welt, aus der wir kommen, liebt aber das vermeintlich verbindlichere Entweder-oder. Und hier sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt. Wie selbstverständlich erwartet man in der Welt des alten Denkens, das uns noch immer so beherrscht, dass eine Unterscheidung nicht einfach eine Wahrnehmung ist, eine Option im Denken, sondern dass sie zwangsläufig zu einer Entscheidung führen müsse. Optionen, Alternativen, ein offenes Erkennen und Annehmen anderer Standpunkte, weiterer Erkenntnisse gelten hier als Schwäche.
In der alten Welt ist eine Entscheidung das unbedingte Ergebnis einer Unterscheidung. Man nimmt eine Veränderung wahr und drückt dann auf einen Knopf: Ja oder Nein. Richtig oder Falsch. Schwarz oder Weiß. Wer sich einmal entschieden hat, bleibt besser bei seiner Wahl, denn alles andere gilt uns bis heute als unzuverlässig. Verbindlichkeit im Handeln und Denken gestehen wir nur jenen zu, die als »Entscheider« – nicht zufällig ein stark maskulin geprägtes Wort – die »Stellschrauben« und »Hebel« in die »richtige Richtung bringen«. Im klassischen Management, einer im Industrialismus perfektionierten Disziplin, geht es vorwiegend ums Entscheiden, und zwar ganz gleich, ob es nun »richtig« oder »falsch« ist. Es geht um »Machen«. Jenes »Abhaken« beschreibt recht eindrücklich die dahintersteckende Absicht der Komplexitätsreduktion – und damit auch der Verhinderung besserer, klügerer und menschengerechterer Optionen. Nicht, wer es besser macht, hat recht, sondern wer es schneller macht, wer also seiner Wahrnehmung eine verbindliche Reaktion folgen lässt. Alles andere gilt als indifferent, graue Theorie, blasierte Attitüde. Hemdsärmeligkeit entscheidet.
Tatmenschen
Dieses Prinzip scheitert vor den Augen aller immer wieder kläglich, in der Politik, in der Wirtschaft oder in den zahlreichen ideologischen Moden. Wir bemerken bereits, dass es nicht mehr funktioniert, dennoch ruft jede Krise gleich wieder nach den »Tatmenschen« statt nach überlegtem und abwägendem Verhalten. In der Not, so heißt es, muss man »zusammenrücken«, also vereinfachen und etwas durchziehen. Dass genau diese Einstellung dazu führt, dass man erst in die Krise kommt, interessiert kaum jemanden.
Wer konstruktiv unterscheidet, kann vor allen Dingen auch aus Fehlern lernen – und mit Kritik ebenso konstruktiv umgehen wie mit Überraschungen. Einmal »Entschiedenes« muss nicht mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Es geht nicht um Gesichtsverlust und »Ehre«, also jene kulturelle Merkwürdigkeit, bei der Dazulernen als Schande gilt, als Zeichen des Versagens und der Schwäche. Das hat mit unserem Umgang mit Macht zu tun, mit der eigenen wie der, der wir uns unterwerfen. Macht, die kritisiert werden kann, verliert ihre Kraft. Deshalb halten viele Mächtige an ihren Irrtümern fest, und viele, die ihnen die Macht geliehen haben, unterstützen sie dabei.
Kritikfähigkeit ist aber unerlässlich. Sie gehört wie die Neugierde und die Fähigkeit zum offenen Denken zur Grundausstattung einer Welt, die ihre Möglichkeiten wahrnimmt, statt sie freiwillig zu beschränken.
Und was wäre Kritik, die sachlich begründet ist, denn anderes als eben jenes Aufzeigen von Varianten und Möglichkeiten, von Unterschieden, die es erlauben, möglichst viele Blickwinkel und Perspektiven einzunehmen. Und damit andere, möglicherweise bessere Lösungswege offenzulegen.
»Die Wissensgesellschaft ist eben nicht die ferne Zukunft, kein Morgen. Sie ist das, wonach wir uns sehnen, die Möglichkeit, sich zu unterscheiden, ohne die Welt und die anderen als Feind wahrzunehmen.«14
So steht es auf der letzten Seite von »Zusammenhänge« – aus gutem Grund. Konstruktives Unterscheiden setzt selbstständiges Denken voraus. Es ist ein klarer Gegensatz zur Befehlsausführung. Es widerspricht den Regeln der alten hierarchischen Organisation. Die Wissensgesellschaft ist selbstbestimmt – also Zivilgesellschaft –, oder sie ist nicht.
Damit das klappt, müssen wir auch die Grundlagen des alten Gleichheits- und Gerechtigkeitsbildes diskutieren, gerade dort, wo es um konstruktives Unterscheiden, das Anerkennen von Vielfalt und Multikulturalität, Individualität und Verschiedenartigkeit geht. Diversität, also die Vielfalt individueller Eigenschaften und Bedürfnisse, wird im Deutschen nicht selten als identitätspolitische Chiffre missverstanden. Aber Diversität ist, dem Wesen nach, nichts anderes als Einzelgerechtigkeit. Es geht in einer komplexen, hoch entwickelten Gesellschaft darum, der Gleichheit vor dem Gesetz (und der Gleichbehandlung in Beruf, beim Lohn etc.) selbstverständlich die nächste Stufe folgen zu lassen, die Anerkennung des Persönlichen, des Eigenen, des Selbst. Dabei werden ideologische Kämpfe mit zunehmender Heftigkeit ausgetragen. Das ist nicht verwunderlich, denn das Konzept der Gleichheit ist immer auch eines der Gleichmacherei gewesen, bei dem es dann eben, wie George Orwell in seiner Parabel von der »Farm der Tiere« so treffend ausdrückte, eben welche gibt, die »gleicher sind als gleich«, also über das konstruierte Kollektiv herrschen. Das ist nur eine Täuschung.
Auf dem Titel des Wirtschaftsmagazins brand eins15 stand im Jahr 2004 in großen Lettern:
GLEICHHEIT ist NICHT GERECHT.
So ist es. Gleichheit – verstanden meist als Nivellierung und Gleichmacherei – verweigert sich eben jener Unterscheidungsfähigkeit, die eine faire Zivilgesellschaft von unterschiedlichen Menschen braucht. Wir sind nicht gleich, gottlob. Wir sind unterschiedlich. Gleichmacherei ist nicht gerecht. Was die Zivilgesellschaft ausmacht, ist ein Wir der Vielfalt. Das ist gerecht – im Sinne von menschengerecht. Der amerikanischen Kulturanthropologin Margaret Mead wird der Satz »Diversity is a resource, not a handicap« zugeschrieben. Das könnte als Motto über der Wissensgesellschaft stehen. Vielfalt ist der Stoff, aus dem die Zivilgesellschaft und die Wissensökonomie gemacht sind. Die alten industriellen Gemeinschaften waren und sind vereinheitlicht, »geeint« im Sinne von normiert. Die neue Welt der Vielfalt und Diversität hingegen ist in Vielheit geeint, in pluribus unum. Eine Gemeinschaft, in der das Unterschiedliche, das Individuelle, nicht als unerwünschte Abweichung von der Norm gilt, sondern willkommen ist. Wo Einzigartigkeit akzeptiert wird, verliert die Egozentrik ihren Schrecken – jene Persönlichkeitsstörung, die mit Selbstvertrauen und Originalität verwechselt wird. Wer seine Unverwechselbarkeit kennt, macht daraus auch kein großes Theater. Da wird das Leben nicht zum Selfie – und auch nicht nur zur Selbstinszenierung.
Selbstbewusstsein braucht keine Ellbogen. Aber auch keine Angst vor dem Ich. Oder, um es mit Margaret Mead zu sagen:
»Always remember that you are absolutely unique.
Just like everyone else.«
Jeder macht den Unterschied.
»Mit einem Wort: Ein Unterschied ist eine Idee.«
Genesis
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