Ein intimes Lebenszeugnis in Wort und Bild: Aussagen Erwin Strittmatters zu seinen wichtigsten Themen und Fotos, mit denen er Einblicke in die Originalwelt vieler seiner literarischen Figuren erlaubt. Und so begegnet man der Anderthalbmeter-Großmutter, Schwester Magy, den Brüdern und vor allem dem Autor selbst: als Kleinkind, als »hocher« Schüler, als Kellner, Bäckergeselle und in vielen anderen, ganz privaten Situationen.
Über Erwin Strittmatter
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).
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Lebenszeit
Ein Brevier
Ausgewählt von Helga Pankoke
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Impressum
Bin dies nicht, bin das nicht;
Nicht Himmel, nicht Hölle.
Bin Kind und bin Jugend;
Bin Unschuld der Quelle.
(W I 1957)
Ich wurde an einem Mittwoch geboren, an einem Mittwochvormittag um zehn Uhr, falls jemand die Zeit vergleichen möchte. Obwohl der Monat August gewitterfreundlich ist, donnerte es nicht, und die Sonne stand nicht im Zeichen der Jungfrau, und es ging keinesfalls goethisch bei meiner Geburt zu.
Aber ich soll mich sofort so umgesehen haben, als ob ich die Welt schon kennte, behauptete meine Mutter, doch sie verriet es erst, nachdem mein erstes Buch gedruckt war. Und dass ich mich so kenntnisreich umblickte, gleich nachdem ich in die Welt gefahren war, das war nur ein Trick von mir, und ich habe diesen Trick im Leben noch oft benutzen müssen, denn wundern darf man sich nur unauffällig, wenn man nicht haben möchte, dass einen die Schlauberger unter den Zeitgenossen für einen Naiven halten und dass sie einen unter ihre Botmäßigkeit zwingen.
In bezug auf mein Dasein nahmen meine Mutter und ich übrigens verschiedene Standpunkte ein; denn als ich für die Mutter schon da war, wähnte ich mich noch im Niemandsland, und das bewies, dass ich kein Wunderkind war, denn nur Wunderkinder erinnern sich ihrer ersten Lebensminuten, und sie machen Aussagen über die Schürze ihrer Hebamme, und sie verkünden, diese Schürze wäre weuß gewösen, und alle Wunderkindgläubigen staunen.
Ach ja, es gibt bis heute keine andere Pforte, um in diese Welt zu schlüpfen, als eine Mutter, aber man arbeitet bereits an anderen Einstiegsmöglichkeiten, wie ich lese, doch wenn der Menschenbrutschrank, an dem man arbeitet, zuerst von Schaftlern in einem Lande erfunden wird, das antihuman regiert wird, so werden dort die Industriellen den Professoren das Brutschrankprinzip abkaufen und entreißen, und sie werden serienmäßig homunculi als billige Arbeitskräfte und zu Kriegszwecken herstellen. Dieser Umstand wird auch die Regierungen anderer Länder zwingen, solche homunculi herzustellen, und wenn ich an die Folgen denk, so möcht ich mit Hašeks Schwejk sagen: Davor hab ich immer die größte Angst gehabt!
(N 1972)
Als mein Vater zu meiner Mutter in die Dachkammer in der Forster Straße einer Niederlausitzer Kleinstadt stieg, hatte er das im Sinne, was man landläufig Liebe nennt, und er ahnte nicht, was er anrichten würde, und er ahnt noch jetzt als Achtzigjähriger nicht, was er mit seiner Liebe anrichtete.
(Se 1966)
Selbst, wenn ich nur etwas vom Charakter meiner Mutter und etwas vom Charakter meines Vaters hätte, wäre mein Charakter anders als der der beiden Alten. Nun sind aber auch die Charaktereigenschaften ganzer Heerscharen von Müttern und Vätern in mir wirksam, die ihren Groschen zur Summe beisteuerten, die mein Charakter ist. Sagt man mir da nicht Grobheiten, wenns heißt: Der ganze Vater; die ganze Mutter.
(Se 1966)
Als ich ein Kleinkind war, waren die Tiere meine Brüder, und ihre Stummheit war keine Verständigungsgrenze zwischen uns, denn ich verständigte mich mit anderen Kleinkindern ohne Worte.
Als mein Bewusstsein wuchs, wuchs die Ferne zwischen mir und den Tieren, doch als ich älter wurde und die Überheblichkeit überwand, mit der mich mein Bewusstsein von meinem Ich geschlagen hatte, fand ich die Wurzeln wieder, die mich mit den Tieren verbinden.
(Se 1966)
Schwarze Katze mit dem weißen Latz
streicht ums Tischbein, schmeichelt um die Kante.
Schnurrend schnellt sie, hascht im weichen Satz,
krümmt mit Anmut ihre samtne Brante.
Spitzbeohrter Katerkopf geneigt,
schlappt das rote Zünglein durch die Milch.
Wenn der gelbe Zottelhund sich zeigt,
sträubt ihr Schwanzhaar sich so wie beim Bilch.
Eingerollt auf rissger Ofenbank,
peitscht ihr Schweif. Wenn in der Küchenstille,
knackt die flinke Raspelmaus im Schrank,
füllt den schrägen Lidschlitz die Pupille.
Zusprung, Tatzenschlag und Krallenzücken,
Todeszirpen braun gestromter Maus,
sechsfach durchgespeerter Mäuserücken.
Schwarze Katze – Pantherduft im Haus.
(uv 1955)
In den Geschichten vom Herrn Keuner gibts eine Stelle, aus der hervorgeht, dass Herr Keuner-Brecht Katzen nicht besonders liebt; einer Katze aber, die sich zur Ruhe hingestreckt habe, zolle auch er den nötigen Respekt vor dieser Arbeit. Herr Keuner-Brecht hatte also die Katzen gut beobachtet.
Eines Abends kam ich zu Brecht und sah ein schwarz-weißes Kätzchen auf seinem Abendbrottisch. Die Wurst hatte es schon von den Broten gefressen, und jetzt leckte es die Butter ab. Schau an, Herr Keuner und die Katzen! sagte ich in der Art, wie wir uns gegenseitig zu frotzeln pflegten. Er sagte oft: Guhn Abend! Wie gehts dem Pferd?, und spielte auf meine Pferdenarrheit an. Ich stellte fest, dass er von seinem Arbeitsplatz geflüchtet war, damit sich die Katze dort tummeln konnte. Er wurde verlegen, nahm die Sache sehr ernst und gab Erklärungen ab, wieso man eine Katze, wenn sie sich einmal eingefunden habe, nicht sofort und ohne weiteres abschieben könne, und man müsse dies und das berücksichtigen. Aber die Katze fraß, ungerührt von allen Theorien, Brechts Abendbrot.
Bei späteren Besuchen sah ich die Katze wieder. Sie war noch frecher geworden, und meine Frotzeleien wurden nachdrücklicher, weil es mir, ich gesteh es, Spaß machte, ihn, der sonst so schlagfertig war, immer aufs neue in Verlegenheit zu bringen und in Katzendiskussionen zu verwickeln. Und ich spielte auf das kleine Organon an, und dass das eine eben die Theorie und ein anderes die Praxis sei und dass man es doch an der Keuner-Katze sehen könne.
Natürlich, sagte er, dös möcht auch grässlich ausschaun, wenn dein Pferd sich aufm Abendbrottisch wälzen wollt!
(K 1966)
Was Brecht betrifft, so wurde und wird viel über ihn zusammengelogen. Als er lebte, aus Niederträchtigkeit von seinen Gegnern, als er tot war, aus Verehrungssucht von Intellektuellen.
(G 1969)
Ich lebe zwei Leben. Eines als Pferdezüchter und eines als Schriftsteller. Eines weiß vom anderen nichts, aber sie profitieren voneinander.
(G 1969)
O Reiten im Herbst, wenn den garstigen Fliegen
Dein Pferd nicht mehr schmeckt und die Schatten zu kühl sind!
Wenn die Mücken das Nebelnass deines Bartes
Scheun wie zu zeitigen Frühwinterschnee.
Wenn der Wind, deines spärlichen Haares spottend,
Raschelnd in silbrigen Disteln wühlt.
Wenn die Bäume, gebeugt von der bunten Last
Ihrer erfüllten Träume, knarren:
Eckern und Beeren, Zirbel und Zapfen.
Wegrands die harten, hahnenkammroten
Früchte der zärtlichen Heckenrosen.
Wenn dich beim Pass und beim wiegenden Schwungtrab
Nussruch und Schreckenzirpen umwehn,
Springen die Stutenhufe behende
Über gelb-krause Pfifferlinge,
Die in umdämmerte Moose getropft sind.
Wenn die Drommete des Kranichs im Luche
Reife Kalmus-Kolben zerschmettert,
Schluchzt es im Moor hinter wehendem Wollgras.
Wie beim Abschied im Frühling der Liebe
Bäumt sich dein Herz, und es peitscht deine Pulse.
Wenn die Sonne sich beugt
Und die Falten in deinem Gesichte
Schonend mit Abendschatten vernarbt,
Heißt du den Herbst ohne Wehmut willkommen.
O Reiten im Herbst!
(uv 1961)
Wir hatten miteinander gestritten, und mich überkam die leidige Lust, ungerechte Worte zu sagen. Zornig verließ ich das kleine Haus.
Über dem Hof, in durchsonnter Luft, hing eine singende Heidelerche. Sie stieg und lockte, ließ sich fallen und schluchzte, stieg wieder an und stieg, wurde zum singenden Punkt und verschwand dann im Höhendunst, aber ihren Gesang hörte man fort und fort, und es schien, als klänge die Luft.
Mein Zorn war dahin. Ich ging zurück in das Haus und rief in die Stube: Überm Hof singt die Heidelerche!
(¾ 1971)
Der tägliche Blick in die Tageszeitungen ruft den Selbstvorwurf in mir auf: Du tust zuwenig für den Tag!
Würde ich jedoch alle Tagesforderungen erfüllen: öffentliche Proteste, Stellungnahmen, Versammlungen und Sitzungen und noch mehr Sitzungen und auch sonst alles, was mir von Leuten, die für das Organisieren solcher Veranstaltungen bezahlt werden, aufgedrängt wird, käme ich nie im Leben zu einem eigentlichen Werk.
(Se 1966)
Viele Jahre meines Lebens gingen dahin, bis ich Mut genug beisammen hatte, das Hohngelächter der Dummköpfe und den Spott der Besserwisser für nichts zu achten, bis ich zu sagen und zu schreiben wagte, was ich sah, was ich fühlte, was ich dachte und nicht, was ich hätte sehen, fühlen und denken sollen.
(L I 1983)
Ein Wurm sitzt in meinem Herzen und nagt. Ich setz ihn auf galoppierendem Pferde dem Wind aus. Ich trinke Regen, ich esse Blättertau, ich atme den Harzduft der Kiefern ein. Der Wurm nagt matter. Wann wird er verenden?
(G 1969)
Muss ich, der Aufschreiber, selber glücklich sein, um andere glücklich zu machen? Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich, ich muss lachen, und ich muss weinen, um andere lachen und weinen zu machen.
(G 1969)
Was bin ich?
Ein paar Pfündchen Sand, die wieder in Sand aufgehen, wird mir gesagt. Und wenn ich was Geistiges hinterlass, das nicht in Sand aufgeht? frage ich. Vielleicht hinterlässt jeder Mensch, auch jene Zeitgenossen, die sich für Sand halten, mehr, als man bisher weiß.
(Se 1966)
Mein Pferd scheut vor einem harmlosen Fetzen Papier oder vor der daunigen Vogelfeder, die im Winde den Weg entlang rollt, und es möchte durchgehen.
Ich denke an einen Freund, der bald das Leben, bald den Tod scheut, der immerzu ausbrechen möchte …
(Se 1966)
Die kleinen Schritte sind es, mit denen ich, ohne mit meiner Kraft zu wüsten, den Berg doch schließlich besteige.
(Se 1966)
Ich bin nicht lang genug hier.
Ich mühe mich manches zu wissen.
Noch weiß ich nicht, wer ich bin,
Da glimmt mein Leben nur noch und erlischt.
(uv)
Die Stute und ihr Hengstfohlen grasten am See. Der Sattel knarrte, und die Steigbügel klingelten leise. Uralte Laute. Uralt auch das Peinigergeschlecht der grauen Bremsen, die sich an den Pferdehälsen festbissen. Zwei Meter im Umkreis roch die Luft nach Pferdeschweiß. Dort stand ich, hatte den Mantel aus Pferderuch umgenommen und mich für die Nasen der Rehe unsichtbar gemacht.
Ein Flugzeug pfiff über den Wald hinweg. Das Geräusch des Überschalljägers regte die Frösche an. Sie quakten, als hätten sie einen Engel gesehn.
Eine Krähe stieg aus den Hochkiefern, umkreiste die Bucht, erspähte mich, stieß einen kurzen Quarrlaut aus, steigerte ihre Geschwindigkeit und grenzte wie ein fliegender Feuermelder ihr Nistgebiet mit Warnschreien ein.
Die Frösche verstummten. Nur einer, der instinkt- oder gehörlos war, quakte weiter. Mein Mantel aus Pferdeduft war für nichts mehr gut. Ein Tier der Luft hatte die Tiere im Wasser und auf dem Lande von einer möglichen Gefahr verständigt.
(¾ 1971)
Eines Tages gewahrte ich, dass ich nicht mehr dem unverbindlichen Nichts, dem Nirwana, angehörte, dass ich mich in der Welt der Selbstverpflichtungen befand, dass ich Akteur in einem Lebensfilm war und dass ich Partner hatte, auf die ich mich einstellen musste.
(Gr 1972)
Großvater wurde neunzig Jahre alt, und ich sah ihn nie mutlos, nie kraftlos. Auf seinem Totenbett prügelte er sich noch mit einem jungen Mann, der ihn zu zeitig beerben und ihm die Uhr wegnehmen wollte. Die Uhr und der Kalender waren Großvaters Navigationsgeräte durchs Leben.
Wenn im Frühling der Kopfsalat im Garten einwuchs und der Wind mit den zartgrünen Blättern spielte, so hieß es bei Großvater: Vorwärts gehts, der Salat spielt schon mit den Ohren!
Die Tiere hatten für ihn eine ins Menschliche übersetzte Sprache:
Der Kater vor dem Scheunentor sagte zur Katze auf dem Heuboden: Katharina, komm mal raus, komm mal raus!
Der Hengst rief der Stute zu: Hiiier bin ich, hiiier!, und die Kohlmeise sang: Hier sitz ich fein, hier sitz ich fein!
Die Krähen ermunterten im Winter einander: Knoche dürr, Knoche dürr. – Klaube ab! Klaube ab!, und die Schwalbe sang im Sommer am Hausgiebel: Hosen flicken, Hosen flicken? Kein Zwirrn, kein Zwirrn.
Der Grünspecht schrie nach Großvaters Auslegung im Frühling: Weib, Weib, Weib! und im Herbst: Strick, Strick, Strick!
Der Täuber gurrte: Heb den Rock hoch, heb den Rock hoch!, und der Goldammerhahn sang im Birkenwipfel: Wie, wie, wie hab ich dich lieb!
Manchmal mein ich, Großvater sei ein Dichter gewesen, einer, dem sein hartes Leben nicht Zeit ließ, aufzuschreiben, wie er die Welt sah.
(K 1966)
Meine Großmutter, ein Anderthalbmeter-Mütterchen, ist wie eine Zwergin aus dem Märchen. Sie hat tiefliegende Augen und rote Oberbäckchen, ist gütig und listig und – eben die tiefliegenden Augen. Wenn etwas nicht so geht, wie es gehen soll, stellt sie sich ein und schiebt an.
(L I 1983)
Mit meiner Schwester zusammen nehme ich oft an der Hofe-Arbeit der Großmutter teil. Ich liebe es, im Weibergegirr auf Knien übers Feld zu kriechen und den schwarzen Erdgeruch einzuatmen. Großmutter hackt die Sträucher heraus, und wir lesen die Kartoffeln in den Viertelzentner-Korb aus Weidenruten, und wenn er gefüllt ist, helfen wir ihn zum Sammelwagen schleppen. Im Frühling beim Queckenhacken greife ich wie ein Beschwörer in die freigehackten Nester der Schlangenwurzeln und bin stolz, wenn ich sie unverletzt herausbringe, weil jedes Schlangenglied, das in der Erde bleibt, neue Schlangen zeugt. Ich stehe mit den Fasanenhähnen auf du und du, und Wehmut überfällt mich, wenn im Herbst bei der Kartoffel-Ernte der Rote Milan seine Abschiedskreise über dem scharrenden Weibervölkchen dreht.
Unterm letzten Kartoffelstrauch sitzt der Kokott, ein sorbischer Zwerg, ein Feldgeist, der nun keinen Unterschlupf mehr hat und flüchtet, und wem es gelingt, ihm eine Weidenkiepe überzustülpen, wird belohnt. Es gelingt uns nie, den Kokott zu fangen, er ist so flink, dass man ihn nicht sieht, aber belohnt werden wir von der Großmutter für unsere Fangmühen doch: Ein Zuckerstück, zwei Rosinchen – wie es die rote Friesrocktasche hergibt.
(L I 1983)
Wenn Großvater seinen Handwagen mit einem langgezogenen Brrrr! auf dem Hofe des Kottens angehalten hatte, küsste er uns. Er zwirbelte sich den aschblonden Schnurrbart und zwinkerte uns zu, und er kramte aus dem Handwagenkasten ein Stückchen Speck oder eine Schinkenscheibe, einen Klecks Butter, ein Töpfchen Magerquark oder ein Kännchen Buttermilch, und er schleuste die Raritäten heimlich in die Küche der Mutter, denn die Vorratsschränke in dieser Küche waren in der Regel so leer, dass sich dort nicht eine Fliege hätte von Krümeln ernähren können.
Sodann führte uns Großvater seine musizierende Taschenuhr vor, und wir durften mit seinem Kompaß spielen. Wenn uns diese technischen Wunderwerke zu langweilen begannen und unsere Gier auf Neues wieder emporquoll, so packte uns Großvater, und er ließ uns kopfunter in der niedrigen Bodenstube an der Decke entlanglaufen. Da hatten wir dann den Tisch und die Waschkommode unter uns, und die gewohnte Welt verkehrte sich und verströmte einen neuen Reiz, und damals wuchs die Lust in mir, meinen anerzogenen Standpunkt zur Welt mit einem poetischen Standpunkt auszutauschen.
(Gr 1972)
Aprilschnee fiel. Ich ging verstimmt und griesgrämig umher, obwohl es nicht in meiner Macht stand, mir ein günstigeres Wetter zum Salatpflanzen zu machen. Das Hellgrün der Fliederknospen schimmerte durch die weiße Lasur, und die sprießenden Lilien zerschnitten mit ihren Schwertblättern kühn die Schneedecke. Im Grasgarten zerscharrten die bauchigen Shetlandstuten den Schleier des Scheinwinters nach vitaminprallen Junghälmchen für ihre künftigen Fohlen. Stare und Amseln suchten sich ihr Frühstück auf schneefreien Stellen unter Schirmfichten und Föhren, und meine Söhne rollten den kleberigen Spätschnee lachend zu großen Kugeln. Aus den Kugeln formten sie einen Mann, der mit hängenden Mundwinkeln und Schlitzaugen aus Kohlestückchen in die Welt blickte.
Da lachte auch ich, und nicht nur über den Schneemann; denn fast hätte ich mich um die Poesie eines ungewöhnlichen Tages gebracht.
(¾ 1971)
Das Taglicht bleibt länger.
Der Winter zerrinnt.
Schon kommt am Mittag ein Weilchen die Sonne.
Eiszapfen funkeln am Dachrand und tropfen.
Nachts bricht ein hungriger Sturm aus dem Wald.
Fuderweis frisst er den krustigen Schnee.
Wassersatt duften die ziehenden Lüfte.
Tag und Nacht hohles Sausen in Bäumen.
Dann kommt die Sonne schon morgens und gleißt.
Klingelnde Wässer rinnen durchs Feld.
Eilig und breit wird der Bach in den Wiesen.
Bachblumen öffnen die Knospenlider.
Der Star ist da und beäugt seinen Kasten.
Der Sperling sitzt auf dem Stänglein davor.