Nice Girls
Verrückte Hühner, leicht ergraut
Die beste WG ever
© 2022 Barbara Bilgoni
2. Auflage
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Mail: barbarabilgoni13@gmail.com
Umschlag: Sonia Sengupta
Korrektorat: Carolin Kretzinger
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Paperback |
ISBN 978-3-347-58070-1 |
Hardcover |
ISBN: 978-3-347-58071-8 |
e-Book |
ISBN: 978-3-347-58072-5 |
Großdruck: |
ISBN: 978-3-347-58073-2 |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Wer von den Best Agern kann sich nicht an die verrückten Sechziger und Siebziger erinnern? Hier besteht die Möglichkeit, sie mit all ihren bunten, verrückten und ausgeflippten Facetten ein klein wenig auferstehen zu lassen. Diejenigen, die die Zeit leider nicht erlebt haben, bekommen hier einen kleinen Einblick und können Begriffe, die sie nicht kennen, im Glossar nachlesen.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Ihre Barbara Bilgoni
Nice Girls
Verrückte Hühner, leicht ergraut
Die beste WG ever
Ria war zurück in ihr Zimmer gegangen. Sie war sehr zufrieden hier in der Oldies-WG „Nice Girls“. Sie war sechsundfünfzig Jahre alt und in Frührente. Nach der Pensionierung hatte sie sich ihre alte Wohnung nicht mehr leisten können und im Supermarkt an der Pinnwand die Annonce mit der Wohngemeinschaft entdeckt à la: Suche verrückte Hühner als Bereicherung für WG, Alter fünfzig plus!
Sie hatte sofort angerufen und durfte sich vorstellen kommen. Angie war die Wohnungseigentümerin. Schon beim Eintreten schallte Ria das Lied „Aquarius“ aus dem Musical „Hair“*) entgegen.
Die zwei Mädls hatten sich auf Anhieb verstanden, trotz Angies diverser Eigenheiten. Sie trug nämlich liebend gerne Kleider aus den Siebzigern. Am liebsten hatte sie Glockenhosen, psychedelisch gemusterte Blusen, von denen man Kopf-weh bekam, Stirnbänder und Plateauschuhe. Sie hatte diese große Wohnung geerbt und suchte Mitbewohnerinnen.
Ria hatte sich gemeldet und mit ihr könnte es passen, dachte Angie. Sie standen im Wohnzimmer, das sehr geräumig war, und tranken Cola Rum. Weil Ria so sympathisch war, bot sie ihr sogar einen Joint*) an. Ria lehnte aber ab. Das war ihr dann doch zu viel des Guten, bei aller Liebe! Im Hintergrund lief eine LP mit Songs aus den Siebzigern.
Angie, die gerade bei Donna Summers „I Feel Love“ mitsummte, führte Ria in der Wohnung herum und zeigte ihr alle Räume. Es gab ein riesengroßes Badezimmer. Der Traum jeder Frau, die etwas auf sich hielt.
Jeder Raum hatte einen wunderschönen Balkon und war hell und geräumig. Die Möbel durfte jeder selbst mitbringen. Ria durfte sich ein Zimmer aussuchen. Bereits eine Woche später hatten die zwei Mädls hatten eine wilde Siebzigerjahre-Party in der noch leeren Wohnung gefeiert. Fanta-Flip und Liptauer-Igel mit Soletti inklusive. Angie gestand Ria, dass sie einen Hang zur Detektivin habe. Für ihr Leben gerne vermutete sie überall Verbrechen, die es von ihr aufzudecken galt.
Später war dann noch Mel und Inga dazugekommen. Inga hatte stets sehr vornehm getan und wollte immer eine Extrawurst. Sie hatte kleine Probleme, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Mel hatte das Kleeblatt vervollständigt. Die Wohnung war komplett. Im Großen und Ganzen funktionierte alles klaglos, wenn man über Ingas Sticheleien generös hinwegsah.
*
Angie 1973
Angie war der Paradiesvogel. Sie arbeitete stundenweise als Leihoma, was ihr sehr viel Spaß machte. Sie versuchte sich auch gerne als Detektivin. Zumindest sah sie hinter allem und jedem eine potenzielle Gefahr. Eine Miss Marple war nichts gegen sie.
In ihrer Freizeit liebte es die zweiundsechzigjährige ewige Hippie-Braut, mit ihrem Puch 500 durch die Gegend zu düsen. Manchmal, aber eher selten, besuchte sie ihren Sohn Dave, der ganz im Gegensatz zu ihr ein stinknormales Leben als Bilanzbuchhalter führte.
Ach, überhaupt Dave! Das war auch so eine Sache! Damals, als Angie jung gewesen war, in den Siebzigern, da nahm man das alles nicht so genau. „Leben und leben lassen“ war die Devise. „Make Love, Not War!“ Den Vater von Dave kannte sie gar nicht. Eigentlich kamen da mehrere Burschen infrage. Sie hatte von damals, es war eine feuchtfröhliche Party gewesen, ein verschwommenes Foto, das sie hütete wie ihren Augapfel. Darauf waren drei langhaarige Möchtegernmusiker und sie zu sehen. Jeder hielt sich für einen zweiten Jimmy Hendrix oder Mick Jagger. Man wollte einfach cool sein.
Die Vornamen hatte sie damals auf der Rückseite des Polaroids notiert. Einer hatte ein Gilet über dem nackten Oberkörper angehabt und trug eine Kette mit Peace*)-Anhänger. Der Zweite hatte ein fantasievolles Jackett à la „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“*) der Beatles an und der Dritte trug einen bodenlangen schwarzen Mantel und sonst offensichtlich nichts außer einem Leoparden-Slip. Er machte das Victory-Zeichen*). „Maximantel“ nannte man das damals. Die gingen bis zum Knöchel. Dann gab es noch Midi und Mini, je nach Länge der Bekleidung. Mitten unter diesen drei Burschen stand Angie, lediglich mit einem durchsichtigen Kaftan in den buntesten Farben und einem schwarzen Slip gekleidet.
Mein Gott, war das damals ein wilder Abend gewesen! Es gab alle möglichen Alkoholika und auch sonst noch allerlei legale und illegale Genussmittel. Der Rauch waberte durch die Räume. Wo hatte die Party überhaupt stattgefunden? Sie wusste es nicht mehr. Musste wohl irgendwo in Währing in einer Bassenawohnung*) gewesen sein.
Einer Tatsache war sie sich jedoch sehr sicher. Einige Tage nach der wilden Party begann die „Teenage Fair“*) in Düsseldorf. Das war im Jahr 1969.
Angie war irgendwann in der Früh, oder sagen wir einmal, so am frühen Nachmittag, aufgewacht und konnte sich an nichts mehr erinnern. Musste ziemlich wild hergegangen sein!
Naja, und wie es dann halt oft so ist, irgendwann kam die morgendliche Übelkeit und lange konnte sie ihren Eltern kein X mehr für ein U vormachen. Sie flog von der Schule.
In den Gymnasien zu dieser Zeit, in der die meisten Schulen noch reine Mädchen- oder Bubengymnasien waren, war ein Zweier in Betragen schon ein Grund, der Schule verwiesen zu werden. Schwangere Maturantinnen waren damals ein absolutes No-Go.
Damals gab es auch noch den Karzer*). Kennt das heute noch jemand? Sicher nicht! Andere Zeiten – andere Sitten! Das war ein hoch offizielles Nachsitzen für die ganze Klasse mit benoteter Lateinarbeit. Die Schüler waren in Gruppen eingeteilt, damit nicht abgeschrieben werden konnte. Geschummelt wurde aber trotzdem.
Also, Angie war von der Schule geflogen. Heim konnte sie auch nicht, die Eltern wollten nichts mehr von ihr wissen. Zu groß war die Schande, die sich nicht mehr lange verbergen lassen würde. Eine schulpflichtige Tochter, die schwanger war, das war damals undenkbar, eine Blamage für die ganze Familie.
Ein paar Nächte trieb sie sich notgedrungen auf dem benachbarten Friedhof herum, irgendwo im Gebüsch hinter dem Häuschen des Friedhofswärters Manfred. Den hatte sie flüchtig gekannt. Reinlassen konnte er sie nicht, weil seine Mutter bei ihm lebte. Es war ja Sommer, die Nächte waren lau. Dann zog sie zu einer Freundin, die etwas älter war und schon eine kleine Garçonnière*) hatte. Dort kam sie fürs Erste unter und schlief auf einer Luftmatratze in der Küche.
Nach der Entbindung von ihrem Dave zog sie in ein Mutter-Kind-Heim draußen im vierzehnten Bezirk und konnte nun ihre Ausbildung fertig machen, wofür sie sehr dankbar war.
Schließlich hatte sie die Matura nachgeholt und fand eine Anstellung in einem Verlag. Sie suchte sich eine eigene kleine Wohnung für sich und Dave. Den Kleinen gab sie tagsüber in die Kinderkrippe. Das lief einwandfrei.
Manchmal ging sie auf Demos gegen die Unterdrückung der Frau, gegen BHs, gegen den Vietnam-Krieg, für das Recht am eigenen Körper. Dave war immer dabei gewesen, zuerst im Tragetuch, dann im Buggy aus dem Secondhand-Shop. So lernte er im zarten Alter schon die Macht der Worte und der Auflehnung gegen das Establishment*) kennen. Ach ja, einen „Haushaltsvorstand“*) gab es damals auch noch! Der Herr des Hauses durfte über alles bestimmen, auch über seine Frau. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Er durfte ihr sogar verbieten, arbeiten zu gehen.
Angie bemühte sich, Dave ihre Werte zu vermitteln, und ihm beizubringen, dass Frauen gleichberechtigt sind. Leider ist es weder der Politik noch der Wirtschaft bis heute gelungen ist, Frauen und Männer gleich zu entlohnen. Eines der letzten Mysterien unserer Zeit, außer vielleicht den Ufos und dem Yeti.
Ab und zu ließ Angie es noch krachen, so richtig mit LSD*) und Alkohol, meistens jedoch war sie eine fürsorgliche Mutter. Dank der Pille, die nunmehr bereits erhältlich war, passierte auch nie mehr etwas Ungeplantes. Mit den drei Fotovätern hatte sie nie mehr Kontakt gehabt. Wozu auch? Sie war stark genug, Dave allein großzuziehen. Sie konnte das!
Sie trug ausschließlich gebrauchte Kleidung, die sie mit einem goldfarbenen Kettengürtel auf ihre benötigte Weite regulierte. Sie liebte Filme wie „Saturday Night Fever“ und „Grease“ mit John Travolta und über ihrem Tisch hing ein Poster von John Lennon und Yoko Ono im Bett*). Die beiden hatten sich 1969 dazu entschlossen, so für den Weltfrieden zu protestieren. „Make Love, Not War“ war damals die beliebte Devise.
Na, wie auch immer, Dave wurde größer und konnte sich mit den oft allzu freizügigen Weltanschauungen seiner Mutter nicht mehr identifizie-ren. Sie war ihm oft sogar peinlich. Immer wieder musste er sich bei seinen Freunden oder deren Eltern erklären.
Angie hielt jedoch an ihrer Maxime fest, lebte immer noch die Themen der Siebziger und trug die gleichen Kleider wie damals.
An ihrem Arbeitsplatz war sie der bunte Hund. Wann immer jemand etwas über die Hippiezeit wissen wollte, war sie die Nummer eins für Auskünfte. Da konnte sie stundenlang reden und wusste nahezu alles über diese Ära. Die jungen Kollegen staunten oft nicht schlecht, was damals so abgegangen war. Man konnte sich das heute gar nicht mehr vorstellen.
*
Jahre später.
Sobald ihr Sohn die Schule beendet hatte, zog er von daheim aus. Er ließ sich zum Bilanzbuchhalter ausbilden, trug Anzug, Hemd und Krawatte. Sein Haar war kurz geschnitten und akkurat gescheitelt. Mit seiner Mutter wurde er von da an in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen. Er lebte das Leben eines Langweilers und Erbsenzählers. Das hatte Angie einmal bei einem Zerwürfnis zu ihm gesagt.
Eines Tages bekam sie Post. Sah irgendwie offiziell aus. Merkwürdig! Nachdenklich steckte sie den Brief in die Tasche, ging in ihre Wohnung, legte ihn dort ab und vergaß ihn sofort wieder.
Irgendwann, ein halbes Jahr später, läutete es an ihrer Tür. Angie öffnete und sah sich einem Ebenbild ihres Sohnes gegenüber, zumindest was die Aufmachung anging, nur Jahre älter.
Förmlich stellte sich der ältere Herr als Notar Dr. Bergmüller vor. Ob er eintreten dürfe, fragte er höflich und verhalten.
Angie bat ihn herein, führte ihn ins Wohnzimmer, das mit bunten Seidentüchern und vielfarbigen Lampions geschmückt war. Sie bat ihn, Platz zu nehmen, und fragte, ob sie einen Kaffee anbieten dürfe. Sie traute sich nicht, ihm etwas anderes zu kredenzen, denn von einem Hippie hatte er rein gar nichts an sich. Sie kam mit den Tassen zurück und setzte sich zu Herrn Dr. Bergmüller. Der zog unter den mild blickenden Augen von John Lennon ein Schriftstück aus seiner spießigen Aktentasche.
„Frau Angelika Kogler, ich brauche noch einen Ausweis von Ihnen. Dann können wir zur Tat schreiten. Wissen Sie überhaupt, wie lange wir nach Ihnen gesucht haben?“ Angie hatte keine Ahnung, holte jedoch ihren Reisepass und zeigte ihn dem Notar.
„Frau Angelika Kogler, geboren vierter Januar 1953“, las er deutlich vor. „Es stimmt, Sie sind es! Gar kein Zweifel!“
„Wer bin ich denn? So sprechen Sie schon! Worum geht es überhaupt? Habe ich auf der Straße ein Kaugummi-Papier nicht ordnungsgemäß entsorgt? Habe ich jemandem den Vogel gezeigt? Bin ich die Miete schuldig? Ich bin mir keiner dieser Vergehen bewusst.“
„Frau Kogler, ich bin hier als Testamentsvollstrecker des verstorbenen Herrn Mike Pospischil. Er war allen seinen Freunden unter dem Namen Mike bekannt, wurde mir versichert. Er hieß natürlich in Wirklichkeit Michael Eduard Pospischil. Das war sein offizieller Name.“ Wie zur Bekräftigung zog er ein vergilbtes Polaroidfoto aus einem Kuvert.
Angie erkannte es sofort wieder. Offenbar hatte damals jemand mehrere Fotos gemacht, denn nahezu das gleiche war ja in ihrem Besitz. Sie errötete bis unter die Haarwurzeln. „Das hier sind doch Sie? Habe ich recht? Diese Dame in dem originellen Nachthemd.“
„Mhm“, war alles, was Angie peinlich berührt herausquetschte. Sie knetete ihre Finger. Die waren schon ganz weiß und blutleer.
„Nun, Ihr Gesichtsausdruck bestärkt mich immerhin in meinem Gefühl, hier richtig zu sein“, meinte er grinsend. Er legte das Foto auf den Tisch und deutete ausgerechnet auf den Maximantel-Leo-Typ.
Herr Michael Eduard Pospischil ist vor acht Monaten verstorben. Er hatte offenbar etwas zu exzessiv gelebt. Obwohl, nach außen hin sah er die letzten Jahre durchaus angepasst aus. Über die genauen Umstände seines Ablebens ist mir leider nichts bekannt. Er war CEO in einer namhaften Elektronikfirma und hatte es letztendlich doch zu so etwas wie einem kleinen Vermögen gebracht. Ich bin sein Nachlassverwalter und in dieser Funktion bin ich heute hier. Meine Kanzlei hatte Sie schon vor Monaten angeschrieben, jedoch haben Sie sich nie gemeldet. Schade! Es ist unnütze Zeit verstrichen.
Nun, ich möchte nicht lange um den heißen Brei herumreden, ich lese Ihnen jetzt das Testament meines Klienten vor.“
Und dann kam ein langer Sermon und Angie war so verwirrt und nervös, dass sie kein Wort verstand. Ratlos blickte sie drein. „Und was heißt das jetzt?“, fragte sie.
Frau Kogler, der hier auf dem Foto abgebildete Herr Michael Eduard Pospischil, allen seinen Freunden unter dem Namen „Mike“ bekannt, hat Sie als Alleinerbin eingesetzt. Da er Ihren Namen nicht mehr genau wusste, hatte er mich bei der Erstellung des Testamentes beauftragt, nach Ihnen zu suchen. Und Gott sei Dank konnte meine Kanzlei Sie ausfindig machen, was im Übrigen nicht einfach war. Wir hatten nur Ihren Vornamen und das Foto.“
„Was ist es denn, das ich geerbt habe? Ein Wellensittich? Ein Heizlüfter? Eine Tischdecke?“
„Frau Kogler, Sie erben eine zweihundert Quadratmeter große Wohnung in bester Wiener Lage am Opernring schräg gegenüber der Staatsoper, ferner Aktienpakete und einige Sparbücher. Außerdem habe ich hier noch einen Brief des Verstorbenen für Sie. Den können Sie nachher in Ruhe lesen. Verbindlichkeiten gibt es keine, daher kann ich wohl annehmen, dass Sie das Erbe antreten werden. Überlegen Sie bitte in Ruhe und suchen Sie mich morgen um vierzehn Uhr in meiner Kanzlei auf. Dann fertigen wir alles an und Sie können gleich die Wohnung besichtigen, wenn Sie das Erbe antreten. Die ist nur wenige Minuten von meiner Kanzlei entfernt und bereits geräumt und renoviert. Alles auf Anweisung von Herrn Pospischil.“
Er drückte Angie seine Karte in die Hand und verabschiedete sich förmlich mit Handkuss und leichter Verbeugung. Und weg war er.
Angie blieb staunend zurück. Sie kochte sich noch einen frischen Kaffee, kippte zur Stärkung einen Cognac hinein und machte sich dann daran, den Brief von Michael Eduard Pospischil vulgo „Mike“ zu lesen.
Sie las: Angie! Ich, Michael Eduard Pospischil, habe gestern von meinem Vertrauensarzt erfahren, dass ich unheilbar krank bin. Meine voraussichtliche Lebenserwartung beträgt noch ungefähr drei Monate. Das WIE und WARUM möchte ich mir hier sparen. Es ist für dich nicht von Bedeutung. Ich habe gut gelebt, habe in meiner Jugend nicht viele Eskapaden ausgelassen, habe getrunken, geraucht, gehascht und vieles mehr.
Leider war es mir nie vergönnt, eine Familie zu gründen. Es gibt also keine mir bekannten Nachkommen. Die irdischen Güter, die ich in meinen letzten Jahren angehäuft habe, möchte ich einem Mädchen vermachen, das ich in meiner Jugend gekannt habe.
Leider weiß ich nicht mehr viel von ihr, nur dass sie Angie hieß. Sie war damals eine scharfe Braut und nicht zu verachten. Ich glaube, wir haben es richtig krachen lassen.
Daher erteile ich meinem Notar, Dr. Eduard Bergmüller, den Auftrag, diese Angie zu suchen. Als einzigen Anhaltspunkt besitze ich lediglich ein Polaroidfoto, auf dem ich nicht sehr schmeichelhaft herüberkomme. In meinem späteren Leben war ich etwas anders gekleidet. Ferner sind auf dem Foto meine zwei Freunde und Angie abgebildet. Damals, es war zu Ende der Sechzigerjahre, wohnte sie in Wien. Falls dich Herr Dr. Bergmüller gefunden hat, dann bist das du, Angie, und ich setze dich als Alleinerbin ein. Du hast mir damals manch schöne Stunde bereitet, allerdings weiß ich nicht mehr sehr viel davon.
Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und eigenhändig: Michael Eduard Pospischil vulgo „Mike“.
Angie: Lass es krachen und denk´ an die alten Tage! Wir sehen uns – irgendwann – irgendwo! Peace!
Wien, am 3. Februar 2020
Darunter kam seine eigenhändige Unterschrift.
Angie musste schlucken. Mike! Ach Gott, Mike! Dunkel erinnerte sie sich an diese wilde Zeit in ihrer Jugend. Und wer weiß, vielleicht war dieser Mike ja sogar der Vater von Dave. Sie hatte es nie erfahren, was letztlich auch egal war. Aber diese Fügung nun, das war schon irgendwie seltsam. Sie beschloss, sich die Adresse am Opernring anzusehen.
Mit der U-Bahn fuhr sie in die Stadt und ging dort den gesamten Opernring ab. Allzu lange war dieser Teil der Ringstraße ja nicht. Er ging von der Kärntner Straße bis zur Eschenbachgasse. Das waren allerhöchstens dreihundert Meter. Die Hausnummer wusste sie noch nicht, aber die Gebäude waren allesamt wunderschön und eines davon musste ihr neues Domizil sein. Wenn sie das Erbe antrat. Ja, wenn! Sollte sie es machen?
Ganz so sicher war sich Angie da noch nicht. Früher hatte es ja auf der einen Seite die Hippies und auf der anderen das Establishment gegeben. Zwei Gegensätze, die so gar nicht zusammenpassten. Mit so einer Wohnung würde sie eindeutig in die zweite Kategorie gehören. Aber warum eigentlich nicht? Mike hatte keine Nachkommen und offenbar auch keine anderen Verwandten mehr. Und sie könnte die Wohnung sicher gut gebrauchen. Nach einer unruhigen Nacht fuhr sie mit ihrem Puch 500 am nächsten Nachmittag schnurstracks zu Herrn Dr. Bergmüller, um das Erbe anzutreten. Sie hoffte, dass ihr Auto während des Termins nicht abgeschleppt werden würde. In der Innenstadt von Wien sind die Parkplätze knapp und ein Parkpickerl hatte sie auch keines.
Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, bekam Angie den Wohnungsschlüssel. Sämtliche anderen Unterlagen würden ihr per Post zugehen. Herr Dr. Bergmüller gratulierte ihr herzlich und verabschiedete sie.
So, jetzt brauchte sie erst einmal Champagner! Das musste einfach sein! Gleich gegenüber der Oper betrat sie ein erlesenes Café, suchte sich den schönsten Tisch und bestellte sich das vornehme Getränk und ein Kaviarbrötchen. Wenn schon Establishment, dann ordentlich! Anschließend suchte sie das Haus auf, in dem ihre neue Wohnung lag, fuhr mit dem Lift ins Dachgeschoss und steckte andächtig den Schlüssel ins Schloss. Sie drehte ihn einmal um und betrat das Loft.
Mein Gott, war das schön hier! Ehrfürchtig durchschritt sie alle Räumlichkeiten. Eines wusste sie allerdings jetzt schon. Dies hier war viel zu groß für sie allein. Aber sie würde sich etwas einfallen lassen.
*