Kennengelernt habe ich das Medizinrad bei meinen drei eigenen Visionssuchen als ein sehr nützliches Werkzeug, um die verschiedenen Lebensphasen und die Lebensübergänge dazwischen besser verstehen und einordnen zu können. Das Medizinrad hat aber noch viel mehr zu bieten. Für viele traditionelle Stammesgesellschaften ist es eine Art von geistig-seelischer Ur-Medizin, weil damit das ganze Leben, die Stammeswelt und der Bezug zu den Geistern, Ahnen und Gottheiten dargestellt, ausgedrückt und erklärt werden kann. Das Wissen, das im Medizinrad steckt, konnte den Menschen in Stammeskulturen Sicherheit und Geborgenheit schenken. Insofern ist der Begriff „Medizin“ sehr angebracht. Verbreitet war es zum Beispiel bei den Kelten, bei afrikanischen Gesellschaften und bei vielen Indianerstämmen Nordamerikas. Meine Kenntnisse über das Medizinrad habe ich aus drei Quellen erworben:
Während meiner Ausbildung zum Initiations-Mentor wurde mir plötzlich klar, dass das Medizinrad auch ins Christentum Eingang gefunden hat. Unser Adventskranz mit seinen vier Kerzen symbolisierte ursprünglich ein Medizinrad mit den vier Himmelsrichtungen. Beim Medizinrad drücken die vier Richtungen vier Aspekte der Ganzheit und das Allumfassende des menschlichen Lebens aus. Beim Adventskranz sollen die vier Kerzen auf das kosmische Ereignis der Geburt Christi hinweisen, dem alljährlich an Weihnachten gedacht wird.
Zudem entstand der katholische Jahresfestkreis auf der Grundlage eines Medizinrads. Um die christliche Heilsbotschaft jedes Jahr neu ins Gedächtnis der Gläubigen zu rufen und das ganze Jahr damit zu gestalten, wurden die wichtigsten historischen Heilsereignisse um die Person Jesu und um die Mutter Maria auf ein rundes System projiziert. Dafür eignete sich natürlich das zyklische Medizinrad hervorragend, das sich an je vier besonderen Sonnen- und Mondständen orientiert. So wird zum Beispiel der jedes Jahr erheblich variierende Termin für den Ostersonntag, das wichtigste christlichste Fest, nach einer „heidnischen“, vorchristlichen Methode berechnet:
Jahreszeiten und Lebensphasen
Doch zurück zum Medizinrad selbst. Wie ist es entstanden und warum lebten viele traditionelle Völker nach solchen Lebensrädern? Dazu meint der österreichische Visionssuche- und Ritualleiter Franz Redl: „Medizinräder der ganzen Welt sind innere und äußere Landkarten des Lebens und des Menschen. Diese Landkarten sind Orientierungen in Bezug auf die äußere Welt, die Natur, aber auch auf die innere Entwicklung, die Individuation des Menschen.“13 Ein Medizinrad dient also einer vielfältigen Grundorientierung. Diese zeigt sich auch in einem Kinderreim, der jedoch nur auf der nördlichen Halbkugel Sinn ergibt:
„Im Osten geht die Sonne auf,
im Süden steigt sie hoch hinauf.
Im Westen wird sie untergehen,
im Norden ist sie nie zu sehen.“
Damit kann man mit dem Medizinrad, das auf einem „Weltbild des Augenscheins“ beruht, einen Tagesablauf abbilden. Der Mond wird dabei im Norden angesetzt. Kinder erleben noch heute die Welt in diesem Sinne.
Man kann aber auch ein ganzes Jahr mit dem Medizinrad erfassen. In diesem Fall wird der Frühling im Osten, der Sommer im Süden, der Herbst im Westen und der Winter im Norden angesetzt. Wie oben bereits erwähnt, wurde der christliche Jahreskreis in ein bereits vorhandenes Medizinrad gelegt und die darin enthaltenen großen Jahresfeste, die sich an besonderen Sonnen- und Mondständen orientierten, wurden als christliche Feste neu gedeutet und uminterpretiert.
Schließlich lässt sich mit dem Medizinrad ein ganzes Menschenleben darstellen. Da viele traditionelle Kulturen davon überzeugt waren, dass eine Seele nach dem Tod in eine Art Geisterwelt eingeht, um nach einer bestimmten Zeit wieder in den Stamm hineingeboren zu werden, wurde dies natürlich im Medizinrad berücksichtigt. Demnach kann man die Geburt eines Kindes im Südosten ansetzen und die Kindheit in den Süden, die Jugendzeit in den Westen, die lange Phase des Erwachsenseins in den Norden und das (hohe) Alter in den Osten legen. Der Tod selbst findet dann im Medizinrad etwas südlich von der Ostmarkierung Platz. So, wie ein neuer Tag im Sinne des Medizinrads immer wieder im Osten beginnt, weil die Sonne im Osten oder Südosten aufgeht, so nimmt auch eine Seele nach dem körperlichen Tod eines Menschen einen Neuanfang in einer weiteren Inkarnation. Die Geburt wird deshalb im Südosten des Medizinrads angesiedelt. Zwischen dem Tod und einer Neugeburt befindet sich eine Leerphase, die man auch als „die dunkle Nacht der Seele“ bezeichnen könnte.
In der nachfolgenden Skizze sind neben den vier Haupt-Lebensphasen des Menschen auch die vier Übergänge „Geburt“, (Beginn der) „Pubertät“, „Erwachsenwerden“ und „Älterwerden“ eingezeichnet. Für viele Menschen fällt dieser letzte Übergang etwa mit der Pensionierung zusammen.
Uraltes psychologisches Modell zur Lebensdeutung
Nun könnte man einwenden, dass ein Weltbild des Augenscheins vor dem Hintergrund unseres heutigen naturwissenschaftlich-technischen Weltbildes vollkommen überholt ist. Wir wissen ja, dass unsere Erde ein kleiner Planet im Sonnensystem, die Sonne nur ein winziger Stern in unserer Galaxie „Milchstraße“ und diese wiederum nur eine von Milliarden von anderen Galaxien in unserem Kosmos ist, der sich zudem immer weiter ausdehnt. Was kann uns dann ein so altes Modell wie das Medizinrad noch nützen?
Sehr viel, meine ich. Denn gerade in unserer modernen Technologie-, Kommunikations- und Mediengesellschaft ist das so bedeutende alte Wissen um Initiation, um Lebensphasen und um die notwendigen Übergänge dazwischen, das im Medizinrad überzeugend abgebildet ist, weitgehend in Vergessenheit geraten. In meinem ersten Band „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ habe ich ausführlich dargelegt, welch fatale Folgen eintreten können, wenn keine Initiation unserer Jugendlichen stattfindet.14
Wegen fehlender Initiatonsrituale versuchen gerade Jungen bisweilen mit sehr gefährlichen Mutproben wie verrückten Autofahrten, mit S-Bahn-Surfen, mit dem berüchtigten Komasaufen oder mit Schlägereien, die in der Pubertät neu entdeckte Kraft auszudrücken und zu beweisen. Andere verharren jahrelang in einem Zwischenzustand zwischen Jugend und Erwachsensein, selbst wenn sie schon über dreißig Jahre alt sind, hängen in Depressionen und Orientierungslosigkeit und finden einfach nicht den Dreh zu einem eigenständigen und kraftvollen Leben. Hier kann das Medizinrad sehr zur Lebensdeutung beitragen und die Notwendigkeit rechtzeitig durchgeführter und für unsere heutige Gesellschaft passender Übergangsrituale aufzeigen.
Richtig interessant und aktuell aber ist das Medizinrad aus psychologischer Sicht.15 Denn es kann vier elementare Ebenen im Menschen aufzeigen und jeder der vier Richtungen bestimmte menschliche (Wesens)Eigenschaften und einen Archetyp zuordnen, wie in den folgenden beiden Skizzen zu sehen ist. Dabei sind unter Archetypen grundsätzliche und typische Seelenprägungen oder Seelenfiguren im Menschen zu verstehen:
Diese vier Ebenen, sowie die vier Archetypen stecken in jedem Menschen. Sie wollen vier elementare Seiten des menschlichen Wesens bewusst machen und zum Ausdruck bringen. Wir alle tragen von Geburt an diese Ebenen als seelisches Potential in uns. Es handelt sich um vier wesentliche Aspekte des menschlichen Seins. In jeder der vier Grund-Lebensphasen soll eine Seelenfigur ans Licht gebracht und mit all ihren Qualitäten entfaltet werden. Menschliche Entwicklung bedeutet demnach, die vier Seelenseiten zu (er)leben und nacheinander Liebhaber, Krieger, König und Magier zu sein. Andererseits sind alle vier Seelenaspekte natürlich auch immer gleichzeitig und nebeneinander in jeder Lebensphase vorhanden.
Bei diesen eher knappen Bemerkungen zum Medizinrad möchte ich es belassen. Lieber Leser, wenn Sie aber mehr dazu erfahren wollen, lesen Sie bitte Band II von „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“.16 Darin ist dem Medizinrad ein ausführliches Kapitel gewidmet. In dem vorliegenden Buch jedoch soll nun der Fokus auf Heilung und auf das Heilwerden gerichtet werden. Diese Bedeutung klingt ja auch schon in dem Begriff „Medizin“-Rad an.
Es ist mittlerweile ein Vierteljahrhundert her, dass ich einige Jahre lang wöchentlich an einer Selbsterfahrungsgruppe teilnahm. Geleitet wurde diese von einer an der Psychologie Sigmund Freuds orientierten Psychotherapeutin. Die Gruppe hatte etwa zehn Mitglieder – Männer und Frauen im Alter zwischen dreißig und sechzig Jahren. Bei den meisten ging es um „nicht erledigte Geschäfte“ mit einem oder beiden Elternteilen oder noch einfacher ausgedrückt: um eine nicht oder nur teilweise vollzogene Ablösung von den Eltern.
Das Fehlen von Initiationsritualen
Da in unserer naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten westlichen Gesellschaft seit der industriellen Revolution das Wissen um Initiation und um Initiationsrituale fast vollständig in Vergessenheit geraten ist, gibt es für unsere Jugendlichen heute kaum noch adäquate und rechtzeitig durchgeführte Übergangsrituale.70 Die kirchlichen Rituale der Firmung oder Konfirmation sowie die heutigen Jugendweihen in Ostdeutschland werden in der Regel bereits in einem Alter von etwa 14 Jahren durchgeführt – manchmal ein Jahr später, bisweilen auch schon deutlich früher. An der Schwelle zur Volljährigkeit kommt dann meistens überhaupt kein individuelles, die Persönlichkeit stärkendes und den Übergang zur Volljährigkeit markierendes Ritual mehr, wenn man von der Führerscheinprüfung oder von den Schulabschlüssen wie (Fach-)Abitur oder Mittlere Reife einmal absieht.
Die unmittelbaren Folgen dieses Mangels kann man sofort erkennen: Denn eine Reihe von Jugendlichen versuchen es mit einer Selbst-Initiation, weil offizielle und geeignete Rituale im Alter von 16, 17, 18 Jahren oder noch später fehlen. Sie wollen ihre in der Pubertät erwachte Kraft und Vitalität ausdrücken, ihren Mut durch manchmal spektakuläre Taten zeigen und dafür gerade von den Erwachsenen Anerkennung bekommen. Besonders für Jungen gibt es diesen psychischen Initiationsdruck, je länger sie sich in der Pubertät befinden. Positiv kann man diese Kraft in der Bereitschaft vieler Jugendlicher erkennen, sich ehrenamtlich zu engagieren: etwa in politischen, sozialen, kirchlichen Vereinigungen, Sportvereinen und Verbänden. Auch Schulprojekte, Schulkonzerte oder Theatergruppen zeugen von diesem Wunsch, seine Fähigkeiten öffentlich zu zeigen und dafür die ersehnte Bestätigung zu bekommen. Leider stellen all diese Beispiele nur die eine Seite der Medaille dar.
Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Phänomenen bezüglich unserer Heranwachsenden auf der Suche nach sich selbst, die uns Erwachsenen Sorge bereiten müssen: verrückte Autofahrten und Mutproben wie etwa das berüchtigte S-Bahn-Surfen in den Städten; das Komasaufen, das immer häufiger „Alkoholleichen“ hervorbringt, die dann mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen – im Jahr mittlerweile mehr als 20.000 (!); übertriebenes Tätowieren und Piercing; Schlägereien unter Jungen besonders nach übermäßigem Alkoholgenuss; suchtartige Verlagerung aller Aktivitäten in die virtuelle Welt von Computersspielen, Internet und Smartphone. Diesem Verhalten stehen wir Erwachsenen, auch viele Fachleute, oft sehr hilflos und ratlos gegenüber. Dies liegt auch daran, weil wir nicht mehr erkennen, dass hinter all diesen Phänomenen ursprünglich eine sehr positive und kreative Kraft steckt: Jugendliche wollen zu Erwachsenen initiiert, das heißt hinübergeleitet und ins Erwachsensein eingeführt werden. Darüber habe ich sehr ausführlich in „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“71 berichtet.
Mindestens ebenso häufig wie obige Aktionen von Selbst-Initiations-Versuchen tritt heute auch das Gegenteil ein: Viele Heranwachsende kommen in ihrem Leben einfach nicht weiter, selbst wenn sie schon längst volljährig sind. Sie sind in der Jugend stecken geblieben und verbringen oft Jahre damit, sich zu orientieren, Klassen zu wiederholen, Schulabschlüsse zu schaffen, das Studium wieder abzubrechen und natürlich immer noch in der „Pension Mama“72 wohnen zu bleiben, auch wenn sie die 25 schon längst überschritten haben. Der tiefere Grund ist der gleiche wie bei den oben geschilderten Phänomenen. Die jungen Leute haben keine Übergangsrituale erfahren, weil keine angeboten wurden. Deshalb hängen sie eine lange Zeit in einem undefinierbaren Zwischenzustand fest: Sie sind zwar keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen.
Es wäre jedoch total ungerecht, den jungen Leuten pauschal vorzuwerfen, dass sie noch nicht erwachsen geworden sind. Denn einerseits herrscht in unserer Gesellschaft ein kollektiver Jugendwahn: Man möchte möglichst lange jung bleiben und nicht altern. Andererseits müssen Übergangsrituale, wenn sie stattfinden sollen, von Erwachsen, am besten von dafür ausgebildeten Initiations-Mentoren, angeboten und geleitet werden. Heute besteht kein Wissen und schon gar kein gesellschaftlicher Konsens darüber, was denn eigentlich „Erwachsensein“ bedeutet, wie, mit welchen Methoden oder Ritualen, das Erwachsensein erreicht werden könnte und wohin, in welches Weltbild und Wertesystem, wir unsere nachfolgende Generation eigentlich initiieren wollen. Niemand sagt den jungen Leuten, wie das Erwachsenwerden gehen soll. Tatsache ist aber, dass man wie selbstverständlich erwartet, dass jemand erwachsen ist, sobald er nach einem Schulabschluss oder nach einem Studium in den Arbeitsprozess eintritt. Hier herrscht an einer entscheidenden Nahtstelle im Leben eine wirkliche Diskrepanz, ja sogar ein bizarrer Widerspruch in unserer Gesellschaft.
Erwachsensein hat auf jeden Fall mit Ablösung von den Eltern und mit Selbstverantwortung und Selbstständigkeit zu tun – auch mit finanzieller Unabhängigkeit. Die meisten traditionellen Völker waren sich kollektiv darüber einig, dass der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen bei Jungen und Mädchen klar markiert sein muss und einen fundamentalen, enorm wichtigen, im Grunde sogar einen „heiligen“ Vorgang für die ganze Gemeinschaft darstellt. Indigene Stämme konnten sich, wenn sie mittelfristig überleben wollten, nicht wie in unserer heutigen Gesellschaft den Luxus leisten, dass ihre nachfolgende Generation „ewig“ in einem undefinierbaren Zwischenzustand verweilte oder gar in der Jugend hängen blieb. Daher wurden in der Regel erprobte und erfahrene ältere Männer und Frauen – sogenannte „Älteste“ – als Initiations-Mentoren ausgewählt, um die Jugendlichen ins Erwachsensein hinüberzuführen.
Für uns mögen solche Rituale, sogenannte „rites of passage“, heute befremdlich wirken, weil wir in unserer modernen Kommunikationsgesellschaft die Lebenswirklichkeit traditioneller Völker nicht mehr nachvollziehen können. Was deren Wissen über Initiation betrifft, hatten sie uns jedoch eindeutig etwas Fundamentales und Wichtiges voraus. Wir können von ihnen lernen. Die auf unsere heutige Technologiegesellschaft zugeschnittenen Übergangsrituale des WalkAway, der Jugend-Visionssuche und der Auslandsreise („work and travel“) wollen hier dem offensichtlichen Mangel entgegenwirken. Diese im Grunde uralten und zugleich sehr innovativen und aktuellen Übergangsrituale wurden in meinen beiden Bänden „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ ausführlich beschrieben.
Es ist jedoch im Grunde egal, mit welchem Ritual, welchem Ereignis oder welcher Zeremonie eine Ablösung von den Eltern und der Übergang in ein selbst gestaltetes und selbst verantwortetes Leben geschieht. Wichtig ist, dass er rechtzeitig passiert. Traditionelle Völker nutzten den sehr natürlichen Wunsch ihrer Jugendlichen, in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Daher wurden ja ganz offizielle, aufwendige und nicht ganz ungefährliche Rituale organisiert, durch die die Heranwachsenden zeigen konnten und mussten, was in ihnen steckt und dass sie Verantwortung übernehmen können. Es waren kontrollierte Mutproben. Waren diese aber geschafft, wurden die jungen Leute vor dem ganzen Stamm in einer feierlichen Zeremonie für erwachsen erklärt. Dies setzte bei den Betroffenen in der Regel zusätzlich Kräfte frei. Jetzt galten sie als Erwachsene mit allen Rechten und Pflichten, wurden von den anderen Erwachsenen als solche anerkannt und ernst genommen und fühlten sich dann auch als erwachsen.
Finden solche Übergangsrituale wie in unserer heutigen westlichen Gesellschaft nicht statt, klappt bei vielen jungen Leuten die Ablösung von den Eltern nicht oder nicht richtig. Sie bleiben emotional oft Jahre und Jahrzehnte an Vater und Mutter hängen, obwohl sie schon längst volljährig geworden sind und womöglich bereits ihr eigenes Geld verdienen. Und volljährig bedeutet ja, rechtlich gesehen erwachsen zu sein. Eine große Diskrepanz! Bei vielen jungen Leuten hat keine wirkliche Transformation vom Jugendlichen zum auch emotional, geistig und charakterlich selbständigen Erwachsenen stattgefunden. Fatal. Denn damit sind wir bei den langfristigen Folgen von solchen fehlenden oder missglückten Initiationen angelangt.
Es hat über 20 Jahre gedauert, bis mir klar wurde, dass viele Klienten deswegen beim Psychotherapeuten landen, weil in ihnen eine Ablösung von den Eltern auf bestimmten Ebenen noch gar nicht stattgefunden hat oder noch nicht abgeschlossen ist. Da das Wissen über die Notwendigkeit und die fundamentale Bedeutung von Initiation gesellschaftlich weitgehend in Vergessenheit geraten ist, verstehen viele Menschen häufig gar nicht, worin die eigentlichen Ursachen von vielen psychischen Problemen, von Zwängen, Mustern und Ängsten, von Trennungen und zerbrochenen Beziehungen oder vom Versagen im Beruf liegen, die sie letztendlich zum Psychotherapeuten bringen.
Ich finde, dass hier unsere ganze Gesellschaft sehr unökonomisch denkt. Wenn unsere heranwachsende Generation nämlich rechtzeitig mit für die Erfordernisse unserer heutigen postmodernen Gesellschaft geeigneten Übergangsritualen ins Erwachsensein eingeführt und damit von den Eltern emotional und geistig abgelöst wird, würde eine Reihe von Problemen gar nicht erst auftreten und sich in vielen Fällen eine Psychotherapie erübrigen.
Schmerz gehört zur Initiation
Im Kapitel „Heilung in der westlichen Welt – Initiation: eine Antwort auf die Probleme des Westens“73 beschreibt der afrikanische Schamane, Universitätsdozent und Männerinitiator Malidoma Patrice Somé sehr plastisch, wodurch so viele Probleme in Europa und in den USA verursacht sind: in fehlenden Übergangsritualen. Diese müssen einschneidende Erlebnisse enthalten, wenn sie wirken sollen. Bei vielen traditionellen Völkern wurde daher besonders den Jungen zum Abschluss ihrer Initiation eine sehr „begrenzte“ Wunde zugefügt, um sie immer an diesen fundamentalen „Einschnitt“ und Übergang zu erinnern, bei dem die Kindheit stirbt und der Erwachsene geboren wird.
Da es so etwas natürlich bei uns nicht gibt, fügen sich nicht wenige Jugendliche (vor allem Jungen!) während ihrer Pubertät selbst eine solche Wunde zu – bei einer Schlägerei, beim Extremsport, im Suff, durch eine Tätowieren oder beim Piercing. Instinktiv wollen sie dadurch zeigen, dass sie Schmerzen aushalten können und daher keine Kinder mehr sind. Weil aber kein offizielles Wissen mehr über Initiation besteht, wird die Bedeutung solcher Verletzungen nicht verstanden und kann für die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen gar nicht eingeordnet oder genutzt werden. In diesem Fall sind solche Verletzungen sinnlos und die Kraft, die daraus erwachsen könnte, verpufft.
Nach Ansicht von Malidoma gehören Schmerz und Leid untrennbar zu einem solchen Initiationsübergang. Vielleicht schreckt unsere Gesellschaft auch deshalb davor zurück. Dann aber kommt das Leiden etwa in unlösbaren psychischen Problemen, in Zwängen, missratenen Lebensbiographien oder körperlichen Symptomen mit einer zeitlichen Verzögerung um so heftiger zurück:
„Da initiatorische Erfahrungen Teil jedes Lebens sind, ist das dringendste Thema für den westlichen Menschen vielleicht nicht die Initiation selbst, sondern die Frage, wie man initiatorische Schmerzen und Leiden am besten abschließt … Wenn das Leid anerkannt wird, vergeht es. Geschieht das nicht, wächst es. Initiation und das damit verbundene Leid endet, wenn die Erfahrungen des Initianden von anderen anerkannt werden. Eine radikale Anerkennung findet statt, wenn eine Gemeinschaft die von einem Menschen erlebte Härte oder die Wunde, an der er leidet, ins Auge fasst und ihm bei der Bewältigung hilft.“74
Diese womöglich befremdliche Ansicht soll durch ein Beispiel aus meiner eigenen Jugendzeit näher erläutert werden. 1974 gab es allein in Westdeutschland mehr als 17.000 Verkehrstote im Jahr. Ein Teil von ihnen waren junge Männer, die ihre Kraft, ihren Mut, ihr Draufgängertum und damit ihr vermeintliches Erwachsensein mangels offizieller Initiationsrituale durch spektakuläre und gefährliche Autofahrten ausdrücken und „beweisen“ wollten. Auf dem Friedhof meiner Heimatgemeinde sind mehr als 25 junge Leute begraben, die alle diesem Geschwindigkeitsrausch verfallen und meist selbstverschuldet bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind.
So fuhren etwa vier junge Männer aus dem Nachbarort gegen 3.00 Uhr früh von einem Discobesuch nach Hause. Mitten in einer Ortschaft geriet dem leicht angetrunkenen Fahrer das Auto außer Kontrolle. In einer leichten Rechtskurve im Ort prallte das Auto mit fast 100 (!) Stundenkilometern an eine Hauswand. Die Kerle überlebten, wurden aber schwer verletzt. Der Beifahrer wurde Zeit seines Lebens zum Invaliden. Falls man dieses dramatische Geschehen als sicher sehr unbewussten Selbst-Initiationsvorgang deuten möchte, so hat er seine Wirkung weitgehend verfehlt. Denn die Reaktion der Leute in ihrem Heimatdorf war nach dem Unfall sehr ambivalent. Einerseits war man sehr froh, dass niemand dabei zu Tode gekommen war. Andererseits bekamen die Verletzten nicht die volle Aufmerksamkeit, das Mitgefühl und die Zuwendung der Gemeinschaft. Nach Ansicht vieler Dorfbewohner hatten sich alle vier, nicht nur der Fahrer, sehr unverantwortlich und „blöde“ verhalten, denn alle vier waren betrunken und jeder von ihnen hätte der Fahrer sein können. Eine Anerkennung ist jedoch nach Malidoma, einem absoluten Experten für Initiation, unbedingt nötig, um die volle Kraftentfaltung einer Initiation sicherzustellen und den Übergang ins Erwachsensein wirklich bewältigen zu können:
„Gemeinschaft ist entscheidend zum Abschluss einer Initiation. Ohne Gemeinschaft schweben die Initiationserfahrungen in der Luft. Die Initianden bekommen keinen Boden unter die Füße … Es gibt unzählige unabgeschlossene Initiationen in der modernen Welt, da die Menschen so isoliert leben und Probleme immer nur Sache des Individuums sind. Ja es besteht sogar die Tendenz, andere, die Anerkennung für ihr Leiden suchen, deswegen zu verurteilen. Die Seele eines Menschen, der Anerkennung sucht, um seine Initiation zu beenden, interpretiert dann diese Verurteilung als Zeichen, dass die Welt keine Notiz von seiner Initiation genommen hat. Daher drängt ihn die Seele, die Erfahrung zu wiederholen. Sie hofft, dass das nächste Mal jemand davon Notiz nimmt.“75
Notiz genommen hat das Dorf von dem oben erwähnten schlimmen Unfall und dem Selbst-Initiations-Versuch der vier Männer sehr wohl. Das hatten sie – sicher sehr unbewusst – erreicht. Bei der Anteilnahme an dem daraus erfolgten Leid – alle vier waren schwer verletzt – war die Gemeinschaft zumindest gespalten. Es ist anzunehmen, dass der Unfall schlimm genug für die vier Männer (besonders für den Fahrer) war, dass sie eine solche Erfahrung nicht wiederholen mussten, auch wenn die Anerkennung für ihre „Initiations-Tat“, das heißt für ihren Unfall, im Dorf damals weitgehend ausblieb.
Die Psychotherapie soll es richten
Ärzte in der indischen Ayurveda-Medizin bekamen Anerkennung und Auszeichnungen, wenn sie eine gute Gesundheitsprophylaxe machten. Unsere Ärzte dagegen werden hoch gerühmt, wenn ihnen etwa eine besonders spektakuläre Operation gelingt. Die herkömmliche westliche Medizin tritt also erst dann auf den Plan, wenn schon heftige Symptome vorliegen. Krass ausgedrückt sollen Ärzte noch Wunder bewirken, wenn beispielsweise starke Raucher bereits an Kehlkopfkrebs oder Alkoholiker an Leberzirrhosen erkrankt sind. Der völlig falsche Ansatz! Es steht mir nicht zu, unsere Ärzte, die sich mehrheitlich engagiert um unser Wohl bemühen, auch nur irgendwie zu kritisieren. Denn letztlich haben wir in unseren westlichen Gesellschaften genau die Ärzte und die Medizin, die wir mit unserer Einstellung verdienen. Dies spiegelt sich auch in der Ausbildung der Medizinstudenten wieder. In der Ayurvedischen Medizin hingegen geht es, zumindest von der Idee her, um eine ausgewogene Ernährung und um eine gesunde Lebensführung, so dass Krankheiten überhaupt viel seltener auftreten.
Aus naheliegenden Gründen hofft jeder, nicht krank zu werden. Eine Krankheit oder ein Leiden tritt jedoch nie zufällig auf, sie haben immer Ursachen. Dann erhoffen wir uns natürlich sofort Hilfe vom Arzt. Dass aber viele Krankheiten von einer falschen oder gar unverantwortlichen Lebenseinstellung verursacht werden, möchten die meisten nicht wissen. Es wäre unbequem und würde womöglich eine radikale Veränderung in Einstellung, Verhalten und Bewusstsein verlangen. Viele treiben Raubbau an ihrer Gesundheit, weil sie zu viel Alkohol trinken, zu viel Fleisch essen, zu lange Zeit am Computer verbringen, Extremsportarten betreiben oder sich gar nicht bewegen oder als Workaholics den Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit verloren haben, um nur einige Gründe zu nennen.
Mit der Psychotherapie verhält es sich ähnlich wie mit der Schulmedizin. Psychotherapien werden – zeitlich oft um Jahrzehnte versetzt – häufig dazu benötigt, um nicht erfolgte oder nicht abgeschlossene Lebensübergänge nachträglich unter viel schwierigeren und langwierigeren Bedingungen endlich zu bewältigen und abzuschließen. Da wir dafür keine geeigneten Rituale mehr haben, gibt es gerade hinsichtlich der Initiation, bei der es um die Loslösung von Vater und Mutter geht, große Defizite und viele blockierte Entwicklungen. In diesem Fall tritt – und auch nur dann, wenn dies die Betroffen akzeptieren – die Psychotherapie auf den Plan.
Hier liegt wiederum ein falscher Ansatz in unserer Gesellschaft vor: Statt rechtzeitig die Ablösung von Vater, Mutter und Herkunftssystem durchzuführen, werden viel später, oft erst mit 40 oder 50 Jahren, große Probleme festgestellt, die dann in der Psychotherapie gelöst werden sollen. Sie soll nachträglich korrigieren, was ein kollektives gesellschaftliches Versäumnis angerichtet hat. Eine Psychotherapie soll somit eine Nachreifung von nicht erfolgten oder nicht abgeschlossenen Initiationen ermöglichen. Plakativ ausgedrückt kann man dies auch so formulieren: Dreißig-, Vierzig- oder Fünfzigjährige hängen emotional noch immer an „Mama“ oder „Papa“, bekommen deshalb psychische Probleme oder Stress in ihren Partnerbeziehungen und in ihren eigenen Familien und müssen dann zur Psychotherapie.
Gott sei Dank gibt es die Psychotherapie und unsere Krankenkassen übernehmen in der Regel dafür die Kosten. Auch ist es vermutlich so, dass die meisten Psychotherapeuten ihr Bestes geben und sich um die psychische Gesundung ihrer Klienten bemühen. Besser wäre es aber, viele Psychotherapien gleich ganz überflüssig zu machen, indem Initiationen dann durchgeführt werden, wenn sie natürlicherweise anstehen: an der Schwelle von der Adoleszenz zum Erwachsensein.
Eine Initiation verlangt Mut, sie fordert die Bereitschaft, sich Ängsten zu stellen, die auftreten können, wenn man einen alten, überkommenen Lebensabschnitt (Kindheit) hinter sich lassen und in eine neue, unbekannte Lebensphase (Erwachsensein) eintreten will. Während eines Initiationsrituals können in verdichteter Form Emotionen hochkommen und den Initianden mit einer Flut von Gedanken und Gefühlen überschwemmen. Dies ist nicht selten mit psychischen Schmerzen verbunden, wenn man dabei auch seinen Schattenseiten und schlimmen Erfahrungen aus der Vergangenheit ins Auge blicken muss. Aber genau dadurch, dass man sich all seinen Seiten, gerade den dunklen, stellt, können das Licht und eine kreative Kraft hochkommen. Dadurch kann eine Initiation gelingen.
Eine Visionssuche ist ein sehr geeignetes Ritual für solch einen Initiationsvorgang. Eine sogenannte „Medizinwanderung“ ist eine Vorbereitung dazu und eine notwendige Voraussetzung dafür. Eine Medizinwanderung kann jedoch auch für sich allein stehen, um neue seelische und geistige Impulse für das eigene Leben zu bekommen. Daher sollen im folgenden Abschnitt diese beiden Rituale genauer vorgestellt werden.
Psycho-Hygiene durch Naturrituale
Als Lehrer bin ich psychisch wirklich gefordert. Darum habe ich es mir schon vor vielen Jahren angewöhnt, einen geeigneten Ausgleich in der Natur zu suchen. Meist eine Stunde vor Sonnenuntergang fahre ich beinahe täglich zu einem nahe gelegenen, etwa zwei Quadratkilometer großen Waldstück, wandere zu einem meiner Lieblingsplätze und setze mich zu Füßen eines großen Fichten- oder Buchenbaumes am Rande einer Waldlichtung. Den Baum als Schutz im Rücken lasse ich meine Gedanken schweifen und diese schöne Natur auf mich wirken.
Bei einem solchen Ausflug im Dezember hatte ich bei beginnender Dämmerung ein seltsames Erlebnis. Es herrschte völlige Windstille, der Waldboden war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Während ich wieder an einem Baum lehnte, nahm ich nach etwa zehn Minuten einen etwa zwei Meter großen jungen Fichtenbaum in meiner Nähe wahr. Plötzlich spürte ich, dass der bewegungslose junge Baum lebte, ja er war ein lebendiges Wesen, mit dem ich jetzt ganz selbstverständlich Kontakt aufnehmen konnte. Dazu musste ich aber zuerst zur Ruhe und in eine „langsamere Schwingungsfrequenz“ kommen. Anscheinend war dies die Voraussetzung für eine Kommunikation mit dem Baum. Es ging dabei nicht um eine bestimmte Botschaft, sondern um die Kommunikation selbst. Dies machte mich völlig ruhig, ich geriet in eine Art von zeitlosem meditativen Zustand. Im Angesicht des Baumes spürte ich nun mein eigenes Inneres, das mit dem Baum in einen Dialog trat. Der Baum war mir freundlich gesonnen, er war einfach nur da mit seiner ganzen Aufmerksamkeit und völlig offen für die Begegnung. Er hatte unbegrenzt Zeit. Dies erzeugte ein wunderbares Gefühl in mir.
Ohne dass ich dies bewusst angestrebt hatte, war ich in eine Anderswelt geraten, in der anders gefühlt, gedacht, empfunden und erlebt wird. Ich kam mir vor wie ein Beobachter dieser nonverbalen Kommunikation zwischen mir selbst und der jungen Fichte. Ich hatte den Eindruck, dass ich mich in den Fichtenbaum einfühlen und an ihm Anteil nehmen konnte. Es ging dabei nicht um mein Hirn, sondern um meine Intuition, mein Herz, meine Liebe zum Baum und zu mir selbst. Ja, ich empfand in diesem Augenblick Liebe für alle Lebewesen, für die ganze Schöpfung. Es war für mich ein unerwartetes spirituelles Erlebnis in der Natur, eine sehr einfache aber wesentliche Einheitserfahrung, die mich vollkommen aus der Anspannung und dem Stress des Alltags herausführte; eine Art von Meditation, die mich tief mit Gott und der Welt verband und die mich alles viel gelassener sehen ließ. Entspannt, innerlich ausgeglichen, voll Dankbarkeit und voll stillem Glück ging ich etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang wieder nach Hause.
Lieber Leser, versuchen Sie es doch selbst. Jeder von uns kann in den Wald gehen. Sie müssen keine besonderen Fähigkeiten mitbringen, nur genügend Zeit. Setzen Sie sich einfach an einen schönen Platz und beobachten Sie gelassen alles um sich herum. Warten Sie ab, was dann geschieht. Auf jeden Fall werden Sie feststellen, dass es entspannend sein kann, nur da zu sitzen, zu schauen und mit allen Sinnen wahrzunehmen, was da an Lebewesen um Sie herum ist – eine Maßnahme zur Psychohygiene ohne therapeutische Begleitung, wenn Sie so wollen.
Medizinwanderung – Tag der Reinigung für die Seele
Während es bei dem soeben geschilderten Besuch im Wald in erster Linie um Entspannung und Ausgleich geht, hat eine sogenannte „Medizinwanderung“ ein deutliches „Mehr“ zu bieten. Denn sie ist in der Regel zielgerichtet. Hier geht man ganz bewusst in einen anderen Zustand, auch „Schwellenzeit“ oder „Schwellenwelt“ genannt. Eine Medizinwanderung kann als Vorbereitung zu einer Visionssuche dienen, sie kann jedoch auch für sich alleine schon psychisch klärend sein. Vermutlich war der Grundgedanke, der hinter einer Medizinwanderung steht, allen traditionellen Völkern und Kulturen vertraut.
Bekannt geworden unter diesem Begriff im deutschsprachigen Raum ist sie vor gut zwanzig Jahren durch die von dem amerikanischen Ehepaar Steven Foster und Meredith Little gegründete School of Lost Borders.76 Den beiden Psycholgen und Ethnologen war bei ihrer jahrelangen Sozialarbeit mit nordamerikanischen Indianerstämmen aufgefallen, dass einzelne Erwachsene immer wieder für einen oder mehrere Tage allein im Wald verschwanden, um die Naturrituale einer Medizinwanderung oder gar einer Visionssuche zu machen. (Das Ehepaar untersuchte eine ganze Reihe solcher oder ähnlicher Rituale und formte daraus Zeremonien, die kompatibel zu und praktikabel für unsere moderne, westliche Gesellschaft sind).
Bei einer Medizinwanderung muss man ganz alleine sein. Es ist aber sinnvoll, sie mit der Betreuung eines Mentors durchzuführen. Man benötigt dazu eine Landschaft, in der man ungestört sein kann. Es wäre gut, sich schon in den Tagen zuvor die Gegend auszusuchen und am Tag der Durchführung bereits vor Sonnenaufgang dort zu sein. Dann legt man eine Schwelle auf den Boden, die aus Ästen oder kleinen Steinen gebildet werden kann. Vor dem Überschreiten in das Naturgebiet, in diese andere Welt außerhalb unserer Zivilisation, sollte man sich sehr klar über das Ziel sein, für das man diesen Tag in der Natur verbringen will. Man sollte sich bewusst werden, mit welcher Intention, mit welchen Anliegen oder mit welchen Fragen, auf die man sich eine Antwort erhofft, man für diesen Tag in die Natur hinausgeht. Es ist auch sehr sinnvoll, Gott, das Göttliche, das Universum, Mutter Erde oder einfach alle guten Geister dieses Gebietes um Schutz, Kraft und Segen für das bevorstehende Unternehmen zu bitten. In vollem Bewusstsein wird anschließend die Schwelle überschritten.
Bei einer Medizinwanderung sollte auf jedes Essen und auf alle Kommunikationsmittel wie Handy oder Smartphone verzichtet werden. Man sollte nur einen leichten Rucksack, einen Regenschutz und genügend Wasser, sowie ein Tagebuch mit dabei haben, um alle Gedanken und Gefühle notieren zu können, die im Laufe des Tages auftauchen. Man gilt während des ganzen Tages als unsichtbar für andere Menschen und ist nur noch Teil der Natur mit all ihren Wesenheiten.
Die Medizinwanderung hat wie jedes Ritual drei Teile: einen Anfang, einen Hauptteil und ein klar markiertes Ende. Anfang und Ende bestehen in diesem Fall im Überschreiten der Schwelle: bei Sonnenaufgang hinaus in die Anderswelt der Natur und bei Sonnenuntergang wieder zurück aus der Anderswelt in die gewohnte zivilisierte Welt. Die Zeit dazwischen wird „Schwellenzeit“ genannt. Man könnte diese Phase auch „Traumwelt“ oder „Traumzeit“ bezeichnen. Die äußere natürliche Welt mit all ihren Wesenheiten kann dabei in eine intensive Kommunikation mit dem eigenen Inneren treten und umgekehrt. Eine Medizinwanderung ist daher vor allem eine psychische Reise zu sich selbst. Die Wesen der Natur reagieren mit ihrem intuitiven Bewusstsein oft erstaunlich auf unsere gerade aktuellen inneren Prozesse.
Alles, was in diesem Mittelteil des Aufenthalts in der Natur geschieht, jede Begegnung mit einem Baum oder mit Tieren, kann eine Bedeutung für den eigenen seelischen Prozess haben, einen Impuls geben oder eine Antwort auf eine Frage parat halten. Es ist ja genug Zeit da. Im Sommer kann die eigentliche Medizinwanderung jenseits der Schwelle durchaus 15 Stunden und mehr dauern – Zeit genug, über alles nachzudenken und das Anliegen und die Fragen, mit denen man hinausgegangen ist, auf sich wirken zu lassen. Soll die Medizinwanderung zur Vorbereitung auf eine bald bevorstehende Visionssuche dienen, dann geht es darum, überhaupt die Themen dafür zu finden, sich über mögliche Ziele, Visionen und Schritte klar zu werden, die als nächstes im Leben anstehen.
Die Medizinwanderung wird abgeschlossen, wenn die Schwelle in entgegengesetzter Richtung überschritten und damit die Naturwelt wieder verlassen wird. Es ist sehr sinnvoll, gleich anschließend oder zumindest sehr zeitnah seine Erfahrungen entweder in einer Medizinwander-Gruppe zu erzählen oder sie einem erfahrenen Mentor alleine zu schildern. Er gibt danach als außenstehender Beobachter und in solchen Naturdingen erfahrener Begleiter einen „Spiegel“, ein Feedback zu der Erzählung, um klarzumachen, was bei der Medizinwanderung wirklich geschehen ist, welche Bedeutung Pflanzen- und Tiererlebnisse für die eigene Geschichte haben könnten und welcher innere Prozess gerade „abgeht“. Denn oft ist dies einem Medizinwanderer, der soeben aus einem tiefen Erleben aus der Anderswelt der Natur zurückkommt, auf der rationalen Ebene nicht wirklich klar. Darum soll der Mentor das Bewusstsein schärfen helfen.
Um eine bessere Vorstellung von einer Medizinwanderung zu bekommen, sollen im Folgenden die authentischen Erlebnisse eines Teilnehmers einer Medizinwanderungs-Gruppe geschildert werden, die von einer erfahrenden Mentorin geleitet wurde. Ein über 50-jähriger Familienvater erzählt nach seiner Rückkehr aus der Schwellenzeit:
„Ich saß schon etwa eine Stunde auf einer Blumenwiese am Waldrand. Um mich herum summte und brummte es von vielen Insekten. So wunderte es mich gar nicht mehr, als eine Wespe zu mir flog und sich auf meinem Knie niederließ. Zunächst musste ich meinem natürlichen Reflex widerstehen, die Wespe davonzujagen, denn ich war als Kind mehrfach schmerzhaft von Wespen gestochen worden. Die Ritualleiterin hatte uns Teilnehmern vor dem Hinausgehen in die Natur darauf aufmerksam gemacht, dass alle Erlebnisse im Außen Ausdruck für einen seelischen Prozess im Inneren sein könnten. Was also wollte mir die Wespe in meiner jetzigen Situation wohl „sagen“ oder vermitteln?
Zunächst konnte ich aber nach einigen Minuten feststellen, dass diese Wespe mir offensichtlich nichts antun wollte. So entspannte ich mich und ließ sie gewähren. Sie lief immer wieder um mein Knie herum und krabbelte schließlich sogar an mir empor. Daher hielt ich meine Handfläche über meine Brust, um der Wespe den weiteren Weg nach oben zu versperren. Sie musste wieder den Weg nach unten wählen, um kurze Zeit später erneut nach oben zu laufen. Dies ging über eine längere Zeit so. Ich war zunächst vollkommen auf das Insekt konzentriert. Dann konnte ich feststellen, dass ich, zuerst ganz unbemerkt, immer mehr in die Rolle eines neugierig werdenden Beobachters geriet.
So merkwürdig dies vielleicht klingen mag: Irgendwann fühlte ich mich selbst wie eine Wespe oder zumindest wie eine Art Kumpel oder Spielgefährte dieser 'meiner' Wespe. Ohne es beabsichtigt zu haben, bekam ich vorübergehend ein Bewusstsein wie eine Wespe und jetzt verstand ich plötzlich auch ihren 'Besuch' auf meinem Körper. Wespen lieben es, sich von Fallobst zu ernähren. Sie summen und brummen häufig emsig um aufgeplatzte oder verwesende Früchte herum.
Meine Wespe wollte mir offensichtlich anzeigen, dass etwas in mir selbst gerade zur 'Verwesung' anstand. Verwesen bedeutet Vergehen, aber auch Umwandlung und Transformation – ein ganz natürlicher Vorgang. Und schlagartig wurde mir klar, worum es dabei ging: Die Beziehungen zu meinen engsten Familienmitgliedern waren im Begriff zu 'verwesen', das heißt, sie standen zur Veränderung und Neuordnung an, nachdem beide Kinder ausgezogen waren. Mir wurde bewusst, dass ich den Mut haben sollte, mich von meiner Frau mehr als bisher abzugrenzen und meine eigenen Bedürfnisse in Zukunft ernster zu nehmen, die durch die Fürsorge für die beiden Kinder so lange zurückstehen mussten. Anscheinend wollte mich die Wespe genau darauf aufmerksam machen und mir vermitteln, dass dieses mein Anliegen seine natürliche Berechtigung hatte. Vielleicht war genau diese Erkenntnis der Grund, warum ich überhaupt zur Medizinwanderung aufgebrochen war.
Wie war es möglich, dass ein so kleines Wesen wie die Wespe in der Lage war, mich auf solch einen wichtigen Punkt für mein weiteres Leben aufmerksam zu machen? Ich konnte nur staunen und bedankte mich still bei der Wespe, die mir gerade so einen wesentlichen Hinweis gegeben hatte. Als ob die Wespe meine Gedanken hätte lesen können, flog sie kurz nach meiner „Danksagung“ wieder davon. Sie hatte so lange bei mir verweilt, bis ich diese wichtige Botschaft verstanden und in mich aufgenommen hatte: Verwesung – Veränderung – Abgrenzung.“77
Da der Mann schon selbst mit dieser Erkenntnis zur Gruppe zurückgekehrt war, musste die Leiterin nur noch eine Bestätigung für die Richtigkeit seiner Deutung geben. Die eigentliche Arbeit hatte die Natur bewirkt, die ihm durch ihre Wesen, im konkreten Fall durch eine Wespe, die anstehende psychische Aufgabe gespiegelt hat. Mutter Natur als Lehrerin, Heilerin und Natur-Psychotherapeutin.
Visionssuche als natürliche Urtherapie für die Seele
Es ist das große und bleibende Verdienst der beiden Amerikaner Steven Foster und Meredith Little, dass sie das Ritual der Visionssuche entwickelt haben, das das Grundanliegen traditioneller indianischer Initiation enthält und gleichzeitig die Bedürfnisse und Gegebenheiten unserer modernen, auf Naturwissenschaft, Technik und Informationstechnologie ausgerichteten Gesellschaft berücksichtigt. In ihrem Buch „Vision Quest“78 haben sie den Ansatz der Visionssuche ausführlich dargelegt. Die beiden deutschen Autoren Sylvia Koch-Weser und Geseko von Lüpke haben in „Vision Quest. Visionssuche: allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst“79 dann weitere Aspekte dieses Rituals ausgeführt. Auch in meinem zweiten Band „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Heldenreisen“80 wurde der Ablauf einer Visionssuche näher erläutert. Darum soll in diesem Buch nur sehr kurz auf ihren äußeren Ablauf eingegangen, dafür aber der Schwerpunkt auf die psychischen Prozesse gelegt werden, die bei einer Visionssuche möglich sind.
Die Visionssuche ist in der Regel ein zwölftägiges Ritual, das aus drei Phasen besteht. Zunächst erfolgt eine viertägige Vorbereitung in der Gruppe auf das eigentliche Kerngeschehen des Rituals, das in einer ebenfalls viertägigen „Solozeit“ besteht. Es wird abgeschlossen mit der Rückkehr und der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Diese dritte Phase dauert dann auch vier Tage.
Bei den Indianern wurde eine Visionssuche grundsätzlich an zwei Knotenpunkten im Leben durchgeführt: Einmal als verpflichtendes Ritual für Jugendliche in der Adoleszenz als Übergangsritual ins Erwachsensein. Und als Orientierungsritual in der Mitte des Lebens, in späteren Lebensphasen oder bei einer Lebenskrise. Für den ersten Zweck, der Jugend-Initiation, werden heute vor allem Rituale wie die Jugend-Visionssuche, der WalkAway oder eine begleitete Auslandsreise („work and travel“) angeboten.
Eine Jugend-Visionssuche dauert in der Regel elf Tage, die Solozeit nur drei Tage und Nächte. Der WalkAway wiederum stellt eine viertägige Kurzform der Jugend-Visionssuche für etwa 15 bis 17-jährige Jugendliche dar. Hier beträgt die Solozeit 24 Stunden. Eine von Mentoren begleitete Auslandsreise ist bis jetzt noch wenig entwickelt, enthält aber ein unschätzbares Potential, wenn es um die Initiation ins Erwachsensein geht. Über diese Rituale habe ich ausführlicher bereits in meinen beiden Büchern „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ berichtet. Daher soll in diesem Buch nun ausschließlich die Visionssuche als Orientierungsritual für Erwachsene im Mittelpunkt stehen.
Während der vier Vorbereitungstage zu einer Visionssuche soll ein mehrfaches Ziel erreicht werden: