Examens-Repetitorium
Staatsrecht

Staatsorganisationsrecht und Grundrechte

von

Dr. Max-Emanuel Geis

ord. Professor für Staats- und Verwaltungsrecht
an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

unter Mitarbeit von

Alexandra Lörinczy

Wiss. Mitarbeiterin, Ass. jur. Dipl. jur. univ.

und

Yvonne Baumgärtner

Wiss. Mitarbeiter, Dipl. jur. univ.

4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage

www.cfmueller.de

UNIREP JURA

Herausgegeben von Prof. Dr. Mathias Habersack

Autor

Max-Emanuel Geis, Jahrgang 1960, Studium der Rechtswissenschaften in Augsburg und Freiburg, Assessorexamen 1988 in Augsburg, Akad. Rat in Regensburg, 1989 Promotion, 2004 Habilitation in Regensburg, 2004 bis 2005 Professur im Öffentlichen Recht an der Universität Augsburg, 1995 bis 2002 Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Konstanz, seit 2002 Lehrstuhl für Öffentliches Recht, 2015 umbenannt in Lehrstuhl für Deutsches und Bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2018 Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes.

Wichtige Veröffentlichungen: § 54 (Parlamentsausschüsse) und § 55 (Untersuchungsausschuss) in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005; § 100 (Autonomie der Universitäten) in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2008; Universitäten im Wettbewerb, VVDStRL 69 (2008); Art. 7 und 8 GG im Berliner Kommentar zum Grundgesetz (LBl. Stand 2021); §§ 68–73 VwGO im NOMOS-Kommentar zur VwGO (5. Aufl. 2018); §§ 11–19, 40 VwVfG in Schoch/Schneider (Hg.), VwVfG, 2020; Kommentierungen zum Nebentätigkeitsrecht und zum Besoldungsrecht im Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrechts (GKÖD), Bd. 1 und 3; Hochschulrecht in Bund und Ländern. Heidelberger Kommentar in 3 Bänden (Stand 2021); Kommunalrecht, 5. Aufl. 2020; Polizei- und Ordnungsrecht, 17. Aufl. 2022 (i.E.); Raumplanungsrecht, 2022; Hochschulrecht im Freistaat Bayern, 2. Aufl. 2017; Beiträge im Handbuch Hochschulrecht in der Praxis (hg. von Hartmer/Detmer), im Handbuch Föderalismus (zus. mit Daniel Krausnick), im Handbuch Rechtsphilosophie (hg. von Hilgendorf/Joerden), im Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I (2021), § 33; (hg. von Kahl/Ludwigs), im Handbuch Gesetzgebung (hg. von Kluth/Krings), im Handbuch Compliance (hg. von Stober/Orthmann), und im Herder-Staatslexikon (hrsg. von Oberreuter), 8. Aufl. 2019 und im Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht (hg. von Meckel/Hallermann/Droege/de Wall). Gesamtschriftenverzeichnis (über 280 Titel) auf https://www.oer1.rw.fau.de.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

 

ISBN 978-3-8114-5946-5

 

E-Mail: kundenservice@cfmueller.de

Telefon: +49 6221 1859 599
Telefax: +49 6221 1859 598

 

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Vorwort

Wiederum ist – nach weiteren gut drei Jahren – die Zeit für eine Aktualisierung gekommen. Aus aktuellem Anlass wurde ein zusätzlicher Fall zur Corona-Problematik aufgenommen. Dennoch hat sich der Gesamtumfang des Buches nur bescheiden vergrößert, was der Kompaktheit des Werkes und dem bei der Examensvorbereitung (gerade im Staatsrecht) immer zu knappen Zeitdeputat zugute kommt.

Auch diese Auflage ist eine Frucht von TeamGEISt, zumal in erschwerten Corona-Zeiten. Ich danke meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Frau Ass. jur. Dipl. jur. Alexandra Lörinczy und Frau Dipl. jur. Yvonne Baumgärtner sehr für ihre vorbildliche Betreuung des Manuskripts und den aufmerksamen Blick für notwendige „Renovierungen“ sowie meinen studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Yasmin Demirhan, Zinedin Sparr und Arthur Kraft für vielfältige Zu- und Kontrollarbeiten und den strengen Blick des Adressatenkreises. Wie immer sorgte Frau Ingrid Mümmler bewährt im Hintergrund für das reibungslose Zusammenspiel des Teams. Für Kritik, Wünsche, Anregungen und Hinweise (aber auch Lob!) an die unten angegebene Adresse sind wir nach wie vor dankbar.

Erlangen, im Dezember 2021

Max-Emanuel Geis

Prof. Dr. Max-Emanuel Geis

Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes
Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Öffentliches Recht
Lehrstuhl für Deutsches und Bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht
Juridicum
Schillerstraße 1
91054 Erlangen
max-emanuel.geis@fau.de

Vorwort zur ersten Auflage

Das Staatsrecht gilt im juristischen Studium als ambivalentes Fach. Einerseits ist es spannend durch seinen engen Bezug zum politischen Geschehen (zumal seit der Wiedervereinigung), andererseits ist es doch verblüffend, wie es Wissenschaft und Rechtsprechung immer wieder gelingt, auf dem durchaus überschaubaren Normenbestand des Grundgesetzes weit ausgreifende Gedankengebäude zu errichten. Dies darf freilich nicht zum weit verbreiteten Irrtum verleiten, im staatsrechtlichen Studium ließe sich letztlich alles mit ein bisschen blumiger Demokratie- und Verhältnismäßigkeitsrhetorik in den grünen Bereich retten, so dass die Examensvorbereitung eher dem Verwaltungsrecht gewidmet sein solle. Im Gegenteil gehört eine einigermaßen solide Kenntnis des Staatsrechts zum unabdingbaren Grundbestand des Examenswissens, enthält doch traditionsgemäß eine der (meist) zwei Examensklausuren im Öffentlichen Recht den Schwerpunkt im Verfassungsrecht. Und darüber hinaus gilt als Postulat: Wer sich der Juristerei ergibt (gleich in welchem späteren Berufsfeld), sollte eine solide Vorstellung davon haben, was den Staat „im Innersten zusammenhält“.

Dieses Buch ist Resultat eines schönen Teamworks. Ich danke Frau Ass. jur. Birgit Bachmeier (Bereich Grundrechte), vormals Akad. Rätin, und Herrn Akad. Rat Sebastian Madeja (Bereich Staatsorganisationsrecht) sehr für ihren unverzichtbaren Anteil am Gelingen der Gesamtkonzeption. Desgleichen gilt mein Dank den wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern meines Lehrstuhls; Herr Sebastian Held hat sich um das Stichwortverzeichnis verdient gemacht, Frau Mila Atanasova und Herr Dipl. jur. Daniel Eules haben das Abkürzungsverzeichnis erstellt. Zusammen mit ihnen haben Frau Nadine Robe, Frau Anna Imhof und die Herren Dipl. jur. Oliver Schmidt, Dipl. jur. Stephan Thirmeyer und Johannes Thein die Fälle sorgfältig gegengelesen und viele wertvolle Hinweise aus akademischer und studentischer Sicht eingebracht. Frau Ingrid Mümmler danke ich sehr herzlich für die Betreuung des Manuskripts in der Schlussphase.

Gerade ein Examensrepetitorium ist im besonderen Maße von der Ressource Zeit geprägt. Wir haben versucht, die wichtigsten und aus unserer Sicht unverzichtbaren Problembereiche in examensadäquate Fallgestaltungen einzubauen und so eine konzentrierte, zeitbewusste Examensvorbereitung zu ermöglichen. Daher sind die weiterführenden Belege auch bewusst selektiv gewählt.

Erlangen, im Januar 2010        Max-Emanuel Geis

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

 Vorwort zur ersten Auflage

 Verzeichnis der Prüfungsschemata

 Abkürzungsverzeichnis

 Zur Vertiefung empfohlene Literatur

 1. Teil Staatsorganisationsrecht

  § 1 Staatsstrukturprinzipien

   A. Demokratieprinzip

    Fall 1 Der gewählte Schulleiter

    Fall 2 Blähungen im Bundestag

   B. Rechtsstaatsprinzip

    Fall 3 Unverhoffter Geldsegen

    Fall 4 Das ICE-Gesetz

   C. Bundesstaatsprinzip

    Fall 5 Streit um Rodungsgebühren

    Fall 6 Hilfe aus einer Hand

  § 2 Staatsorgane

   Fall 7 Streit im Bundestag

   Fall 8 Der Röntgen-Untersuchungsausschuss

   Fall 9 Der ultrarechte Richter

   Fall 10 Die NATO-Mission

  § 3 Handeln des Staates

   Fall 11 Finaler Rettungsschuss über den Wolken

 2. Teil Grundrechte

  § 4 Menschenwürde, Persönlichkeitsrecht, Gleichheitsrechte

   Fall 12 Folterverbot

   Fall 13 Kontaktpersonen

   Fall 14 Die Meistergründungsprämie

  § 5 Kommunikationsgrundrechte

   Fall 15 Dies academicus

   Fall 16 SuperBlitz

   Fall 17 Graffiti-Kunst an der S-Bahn

  § 6 Kommunikationsgrundrechte

   Fall 18 Der Kalifatsstaat

  § 7 Berufsfreiheit und Eigentum

   Fall 19 Die Unersättlichen

   Fall 20 Denkmalschutz first?

  § 8 Grundrechtliches Quodlibet

   Fall 21 Autobahn-Entschleunigung

  § 9 Corona ubiquitär

   Fall 22 Abspecken oder Anstecken?

 Stichwortverzeichnis

Verzeichnis der Prüfungsschemata

 Nr.  1: Prüfungsschema zur abstrakten Normenkontrolle 35

 Nr.  2: Prüfungsschema zur Wahlprüfungsbeschwerde vor dem BVerfG 84

 Nr.  3: Prüfungsschema zur konkreten Normenkontrolle 184

 Nr.  4: Prüfungsschema zum Bund-Länder-Streit 234

 Nr.  5: Prüfungsschema zum Organstreitverfahren 286

 Nr.  6: Prüfungsschema zur Präsidentenanklage 354

 Nr.  7: Vertiefende Hinweise zu den staatlichen Schutzpflichten – Aufbauvorschlag 481

 Nr.  8: Prüfungsschema bei Gleichheitsrechten 573

 Nr.  9: Prüfungsschema zur einstweiligen Anordnung 640

 Nr. 10: Prüfungsschema zur Verletzung von Freiheitsrechten 641

 Nr. 11: Prüfungsschema zur Verfassungsbeschwerde 689

 Nr. 12: Prüfungsschema zur Kommunalverfassungsbeschwerde 971

Abkürzungsverzeichnis

Allgemein geläufige Abkürzungen sind nicht erfasst. Im Übrigen wird auf Kirchner, Abkürzungen der Rechtssprache, 8. Aufl. 2016, verwiesen.

a.F.

alte Fassung

BAG

Bundesarbeitsgericht

BayImSchG

Bayerisches Immissionsschutzgesetz

BayVerfGH

Bayerischer Verfassungsgerichtshof

Bay. VGH n.F.

Amtl. Entscheidungssammlung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs Neue Folge

BeckOK

Beck’scher Onlinekommentar

BEEG

Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz)

BK-GG

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BT-Drucks.

Bundestagsdrucksache

BWahlG

Bundeswahlgesetz

DAR

Deutsches Autorecht

EStG

Einkommensteuergesetz

GewO

Gewerbeordnung

GOBR

Geschäftsordnung des Bundesrates

GOBT

Geschäftsordnung des Bundestages

HdbVerfR

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland
(hrsg. von Benda/Vogel/Maihofer, 2. Aufl. 1994)

HessStGH

Hessischer Staatsgerichtshof

HStR

Handbuch des Staatsrechts (hrsg. von Isensee/Kirchhof, 3. Aufl. 2004 ff.)

i.E.

im Ergebnis

i.R.d.

im Rahmen des

i.S.d.

im Sinne des

JuSchG

Jugendschutzgesetz

MdB

Mitglied des Bundestages

n.F.

neue Fassung

NK-VwGO

Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung
(hrsg. von Sodan/Ziekow), 8. Aufl. 2018

NWVBl.

Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter

OVG NW

OVG für das Land Nordrhein-Westfalen

OWiG

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PUAG

Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (Untersuchungsausschussgesetz)

WRV

Weimarer Reichsverfassung

Zur Vertiefung empfohlene Literatur

Im Rahmen eines Examensrepetitoriums haben sich die Schrifttumshinweise auf die nötigsten Titel zu beschränken, da eine zu ausschweifende Literaturzusammenstellung der typischen Lernsituation vor dem Examen nicht gerecht wird. Ziel ist es nicht, den Stoff umfassend zu vermitteln und zu belegen – dafür stehen Gesamtdarstellungen und Kommentare in ausreichender Zahl bereit –, sondern das konzentrierte Wiederholen der wichtigsten und repräsentativen Klausurtypen. Die nachstehenden Werke bieten den Stoff jeweils bereits in konzentrierter Weise.

I. Staatsorganisationsrecht

Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 37. Aufl. 2021

Christoph Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020

Jörn Ipsen, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 32. Aufl. 2020

Stefan Korioth, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2020

Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010

II. Grundrechte

Volker Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021

Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 8. Aufl. 2020

Jörn Ipsen, Staatsrecht II. Grundrechte, 23. Aufl. 2020

Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021

Gerrit Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 18. Aufl. 2021

Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2019

III. Verfassungsprozessrecht

Roland Fleury, Verfassungsprozessrecht, 10. Aufl. 2015

Christian Hillgruber/Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 5. Aufl. 2020

Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das BVerfG, 12. Aufl. 2021

1. Teil Staatsorganisationsrecht

1

Im Bereich des Staatsorganisationsrechts lassen sich drei klausurrelevante Schwerpunkte kennzeichnen: (1) Geltung und Reichweite von Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen,[1] (2) Probleme um Status, Rechte und Pflichten von Staatsorganen sowie (3) – häufig als formelles Teilelement einer grundrechtlichen Fragestellung – Fragen des Gesetzgebungsverfahrens.

2

(1) Innerhalb der Staatsstrukturprinzipien nehmen das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und das Bundesstaatsprinzip einen herausragenden Platz ein. Im Rahmen des Demokratieprinzips spielen wiederum Probleme der demokratischen Legitimationskette und des Wahlrechts einschließlich der Stellung von Parteien die dominierende Rolle. Zu den „klassischen“ Ausformungen des Rechtsstaatsprinzips gehören die Problemkreise: Gewaltenteilung, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rechtssicherheit und Bestimmtheit, Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den man auch unmittelbar in der Grundrechtsdogmatik angesiedelt findet. Im Bundesstaatsprinzip finden in Klausuren vor allem Fragen der Kompetenzordnung ihre Grundlage. Während die Gesetzgebungskompetenzen vergleichsweise geläufig sind (obwohl ihre Systematik nach der Föderalismusreform 2006 trotz des Wegfalls der Rahmengesetzgebung unübersichtlicher geworden ist), wird die weit kompliziertere Verwaltungskompetenzordnung meist sträflich vernachlässigt. Dagegen spielt das Sozialstaatsprinzip – eine Staatszielbestimmung mit unmittelbarer Geltung[2] – in schriftlichen Prüfungsarbeiten infolge seiner inhaltlichen Weite jedenfalls als eigenständiger Prüfungsgesichtspunkt eine eher untergeordnete Rolle und ist hier daher nicht mit einem eigenen Fall vertreten. Meist wird es als gesetzeskonkretisierender oder ermessensleitender Gesichtspunkt in Grundrechtsfällen angesiedelt sein; Leitbild ist hier nach wie vor die Numerus-Clausus-Entscheidung des BVerfG,[3] die die Ausbildungsfreiheit des Art. 12 GG mit dem sozialen Recht auf Chancengleichheit gekreuzt hat. Gleiches gilt für das Republikprinzip, das eher in verfassungshistorischen und staatstheoretischen Fragestellungen von Bedeutung ist, die dem mündlichen Examen vorbehalten bleiben.[4] Gänzlich außer Betracht bleiben hier das Umweltstaatsprinzip aufgrund seiner mangelhaften, weitgehend „falluntauglichen“ Konstruktion in Art. 20a GG sowie das Kulturstaatsprinzip, dessen Geltung als ungeschriebene Staatszielbestimmung zwar in Rechtsprechung und Schrifttum bejaht wird,[5] dessen normative Verankerung aber über einen geplanten, doch bislang unrealisiert gebliebenen Art. 20b GG nicht hinausgekommen ist.[6]

3

(2) Im Bereich der Staatsorgane bieten die Rechte und Pflichten von Abgeordneten und die Stellung von Ausschüssen (insb. Untersuchungsausschüssen) einen reichen Fundus für Fragestellungen. Unabdingbar für den Examenskanon ist die altehrwürdige Frage nach der Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten, die durch „aktive“ Vertreter dieses Amtes ganz neue Aktualität gewonnen hat; hierdurch können wiederum andere – materielle – verfassungsrechtliche Fragestellungen „eingekleidet“ werden. Schließlich wirft die Frage nach dem originären Machtbereich der Exekutive das Problem deren Organisationsgewalt und damit der Gewaltenteilung auf; gleichzeitig baut sie mit den Stichworten „Wesentlichkeitstheorie“ und „Parlamentsvorbehalt“ die Brücke zu den Staatsstrukturprinzipien.

4

(3) Als Verfahren zur Kreation von Normen stellt das Gesetzgebungsverfahren einen Prototyp staatlichen Handelns dar; es birgt nicht nur viele Ansatzpunkte relevanter und irrelevanter Verfahrensfehler, sondern zeigt auch das föderativ geprägte Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat. Gerade deswegen scheint die Aufnahme eines Falles sinnvoll.

Im Folgenden wird versucht, den klausurrelevanten Stoff repräsentativ in examenstypischen Fällen zu erfassen: Die genannten drei „fallfreundlichen“ Staatsstrukturprinzipien sind mit je zwei Fällen vertreten, die Fragen um die Staatsorgane mit insgesamt vier Fällen (zwei „legislative“ und zwei „exekutive“ Beispiele). Dem Handeln der Legislative gilt schließlich der letzte Fall dieses Teils. Die möglichen Verfahrensformen des Verfassungsprozessrechts sind dabei in die einzelnen Fälle des Buches eingebettet. Sie werden durch Schemata begleitet, aus denen sich die Aufbaustruktur der jeweiligen Klage-/Antragsform einprägsam ergibt.

5

(4) Die weltweite Corona-Pandemie ab 2020 lässt auch das deutsche Staatsrecht unter einer neuen Perspektive erscheinen, da hier nahezu alle staatsorganisatorischen und grundrechtlichen Probleme gleichzeitig und flächendeckend auftreten. Die intensive Verknüpfung beider Bereiche soll in Fall 22 thematisiert werden.

§ 1 Staatsstrukturprinzipien

A. Demokratieprinzip

Fall 1 Der gewählte Schulleiter

Themenschwerpunkte: Demokratieprinzip, Staatsvolk, Legitimationskette, Formen demokratischer Legitimation, Legitimationsniveau, abstrakte Normenkontrolle

6

Das Bundesland X sieht eine Reform vor, nach der die Schulleiter an öffentlichen Schulen zukünftig von der Schulversammlung, bestehend aus Schülern, Lehrern und Eltern, gewählt werden sollen. Der Hintergrund hierfür war, dass viele Schulleiter zu autoritär auftraten und deshalb von den Schülern und der Elternschaft nicht gut angenommen wurden. Eltern, Schüler und Lehrer sollten selber bestimmen, wer denn ihr „Chef“ werden solle. Darüber hinaus solle die Schulversammlung auch bei Ordnungsmaßnahmen wie Verweisen, Disziplinarverfahren usw. mitbestimmen und -entscheiden dürfen. Das Landesschulgesetz wird – im ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren – wie folgt ergänzt:

§ 3 (Schulleiterwahl)

Der Schulleiter wird von der Schulversammlung mit der Mehrheit der Stimmen ihrer Mitglieder gewählt.

§ 18 (Ordnungsmaßnahmen)

Die Schulversammlung kann mit der Mehrheit ihrer Stimmen über Verweise, Disziplinarverfahren usw. entscheiden und gegebenenfalls diese auch nachträglich aufheben.

Mit Hilfe dieser Reform will sich das Bundesland X als politischer Vorreiter in Sachen Demokratie und schulischem Mitbestimmungsrecht positionieren. Die Bundesregierung, die von anderen politischen Kräften dominiert wird, bezweifelt die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes und sieht gerade in der Reichweite der Kompetenzen der Schulversammlung einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Es könne nicht angehen, dass ein Gremium wie die Schulversammlung „einfach so“ wie der Staat handelt, ohne vorher vom Volk gewählt worden zu sein. Darüber hinaus sei es fraglich, ob eine Schulversammlung als echtes „Organ“ der Schule über die Geschicke der Schule und der Schüler entscheiden dürfe.

Trotz politischer Kontroversen hält die Landesregierung des Bundeslandes X am Regelungsvorhaben fest. Die Schulversammlung, die Eltern, Lehrer und Schüler als Betroffene gleichermaßen in die Entscheidungsprozesse einbeziehe, sei ein Musterfall gelebter Basisdemokratie. Im Übrigen gestatte das Demokratieprinzip, das verfassungsrechtlich für die Bundesrepublik als Ganzes gelte, durchaus Modifikationen auf der landesrechtlichen Ebene, solange die Homogenität gewahrt sei.

Die Bundesregierung will nicht nachgeben und beschließt im Kabinett, gegen diese Normen des Landesschulgesetzes beim BVerfG vorzugehen.

Bearbeitervermerk:

Hat das Vorgehen der Bundesregierung Aussicht auf Erfolg?

Lösung zu Fall 1

I. Verfahrensart

7

Als statthafte Verfahrensart kommt die abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 I Nr. 2 GG; §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG in Betracht.

In diesem Verfahren obliegt dem BVerfG die Kontrolle bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Steht die Gültigkeit einer Norm in Frage, kann das BVerfG diese auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen und zwar unabhängig von ihrer konkreten Anwendung. Im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG muss die streitgegenständliche Norm nicht in einem konkreten Rechtsstreit maßgeblich sein.[1] Vorliegend bestehen Zweifel über die Vereinbarkeit des Gesetzes des Bundeslandes X mit dem Demokratieprinzip aus Art. 20 I GG. Die Bundesregierung will dieses Gesetz, ohne dass es bisher zu einer konkreten Anwendung gekommen wäre, auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen. Folglich ist die abstrakte Normenkontrolle die richtige Verfahrensart vor dem BVerfG.

Die abstrakte Normenkontrolle ist kein subjektives Rechtsschutzverfahren, sondern ein objektives Beanstandungsverfahren. Eine konkrete Rechtsverletzung ist daher nicht erforderlich und muss vom Antragsteller auch nicht geltend gemacht werden. Das Verfahren ist nicht kontradiktorisch, wird also nicht gegen einen Antragsgegner betrieben. Jedoch kann den in § 77 BVerfGG bestimmten Organen die Möglichkeit der Stellungnahme eingeräumt werden.[2]

8

Hinweis:

Entgegen dem ersten Anschein ist ein Bund-Länder-Streit gem. Art. 93 I Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG nicht einschlägig.[3] Hierfür mangelt es bereits an Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Land über ihre verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten. Dieses Verfahren ist bei einer Verletzung von Verfassungsrecht, das seine Grundlage nicht im Bundesstaatsverhältnis hat, nur einschlägig, wenn das Bund-Länder-Verhältnis durch diese Verletzung maßgeblich ausgestaltet wird.[4] Dieser Fall ist hier jedoch nicht gegeben.

Die abstrakte Normenkontrolle hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

II. Zulässigkeit

1. Zuständigkeit des BVerfG

9

Die Zuständigkeit des BVerfG folgt aus Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG.

2. Antragsberechtigung

10

Die Antragsberechtigung ergibt sich aus der abschließenden Aufzählung des Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG. Demzufolge sind nur die Bundesregierung, die Landesregierung und ein Viertel der Mitglieder des Bundestages antragsberechtigt. Stellt – wie hier geschehen – die Bundesregierung einen Antrag an das BVerfG, so muss diesem Antrag ein vorheriger Kabinettsbeschluss zugrunde liegen (§ 15 I lit. e) GO BReg); fehlt dieser, ist der Antrag unzulässig.[5] Vorliegend hat die Bundesregierung aber einen Kabinettsbeschluss gefasst. Daher sind die Voraussetzungen der Antragsberechtigung erfüllt.

11

Hinweis:

Vergleiche den Unterschied zum 1994 eingefügten Verfahren nach Art. 93 I Nr. 2a GG: Hier sind – weil es sich ausschließlich um die Wahrung von Länderrechten handelt – nur (!) der Bundesrat, die Landesregierungen und die Länderparlamente antragsberechtigt. Dieses Verfahren ist anwendbar, wenn Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, ob ein Gesetz speziell den Anforderungen des Art. 72 II GG entspricht.

12

Exkurs

Für den Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages ist zu beachten, dass hierbei auf die Zahl der Abgeordneten in der Legislaturperiode abzustellen ist. Der Antrag auch einer Fraktion, die nicht ein Viertel der Mitglieder umfasst, ist für die Antragsberechtigung nicht ausreichend.[6]

3. Antragsgegenstand

13

Der Antragsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle umfasst Rechtssätze aller Art. Dazu gehören Rechtsverordnungen und Satzungen des Bundesrechts und des Landesrechts, formelle Gesetze und Verfassungsrecht. Art. 79 III GG hält Maßstäbe für verfassungsändernde Gesetze bereit, weshalb diese ebenfalls als Prüfungsgegenstand in Betracht kommen.[7] Da die abstrakte Normenkontrolle grundsätzlich eine repressiv und keine präventive Normenkontrolle ist, muss ein Gesetz i.S.d. Art. 93 I Nr. 2 GG bereits rechtlich existent, d.h. gem. Art. 82 I GG ausgefertigt und verkündet worden, jedoch noch nicht in Kraft getreten sein.[8] Im Gegenzug ist auch ein außer Kraft getretenes Gesetz tauglicher Prüfungsgegenstand, solange es noch Rechtswirkungen entfaltet. Anders als bei der konkreten Normenkontrolle ist die Prüfung nicht auf formelles, nachkonstitutionelles Recht beschränkt.[9]

Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein formelles Gesetz nach Landesrecht, das bereits verkündet worden ist; es ist also tauglicher Prüfungsgegenstand.

14

Exkurs

Eine Ausnahme zur generellen Absage an eine präventive Normenkontrolle lässt das BVerfG allerdings bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen und EU-Verträgen gem. Art. 59 II, 23 I 2, 3 GG (Vertragsgesetzen) zu.[10] Diese seien bereits vor Ausfertigung und Verkündung überprüfbar, um ein Auseinanderfallen völkerrechtlicher Vertragspflichten und verfassungsrechtlicher Bindungen zu vermeiden.[11] Bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen und EU-Verträgen tritt eine besondere vertragliche Bindung ein, die selbst durch eine Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes nicht aufgehoben werden könnte.[12] Dies hat praktische Gründe. Könnten die völkerrechtlichen Verträge nachträglich zu Fall gebracht werden, dann wäre die Europäische Union handlungsunfähig. Gleichzeitig ist aber damit gesagt, dass völkerrechtliche Verträge und primäres Unionsrecht mittelbar, über die entsprechenden Zustimmungsgesetze als Bundesrecht, geeignete Prüfungsgegenstände einer Normenkontrolle sind (vgl. Art. 23, 24 I, 59 II GG).[13] Denn das entscheidende Kriterium für einen zulässigen Gegenstand der Normenkontrolle ist die Form der Rechtssätze und nicht deren Inhalt.[14] Im Gegensatz dazu scheiden Rechtsakte des Unionsgesetzgebers (namentlich sekundäres Unionsrecht) als Prüfungsgegenstand aus, da es sich hierbei nicht um bundes- oder landesrechtliche Normen handelt, sondern um eine vom deutschen Recht zu unterscheidende Rechtsordnung.[15] Grundsätzlich überprüfbar sind aber wiederum die Normsetzungsakte von Bund oder Ländern zur Umsetzung des sekundären Unionsrechts in innerstaatliches Recht, jedenfalls soweit den deutschen Normsetzern diesbezüglich ein Gestaltungsspielraum eingeräumt ist.[16] Problematisch ist dabei, dass das BVerfG seine Prüfungskompetenz unbefugter Weise über die des EuGH stellt und damit Unionsrecht überprüfen würde.[17] Gemäß seiner „Solange-Rechtsprechung“[18] macht das BVerfG jedoch von seiner Prüfungskompetenz am Maßstab der deutschen Grundrechte „solange“ keinen Gebrauch, wie der Grundrechtsschutz durch den EuGH gewährleistet wird. Darüber hinaus behält sich das BVerfG vor, Unionsrecht aufzuheben, sofern es in eindeutigem Widerspruch zum GG steht (sog. „ausbrechende Hoheitsakte“).[19] Dies geschieht zum einen i.R.d. ultra-vires-Kontrolle, wenn die Union offenkundig kompetenzwidrig handelt.[20] Zum anderen kann eine sog. Identitätskontrolle erfolgen, wobei das BVerfG prüft, ob durch einen Unionsrechtsakt die nach Art. 79 III GG unantastbare Verfassungsidentität verletzt wird.[21]

4. Antragsgrund („Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“)[22]

15

Nach dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 2 GG sind Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die Verfassungsmäßigkeit/Bundesrechtsmäßigkeit erforderlich. Nach § 76 I Nr. 1 BVerfGG wird jedoch ein „für nichtig Halten“ vorausgesetzt. Zudem fasst § 76 BVerfGG die Antragsvoraussetzungen noch enger, indem er auf das Dafürhalten des Antragstellers selbst abstellt. Damit stellt sich die Frage, welchen Kriterien zu folgen ist. Dieser Streit ist zugunsten des Art. 93 I Nr. 2 GG zu entscheiden. Zum einen ist es bereits zweifelhaft, ob eine einfachgesetzliche Norm Verfassungsrecht einschränken kann, zum anderen hat das BVerfG dahingehend entschieden, dass Art. 93 I Nr. 2 GG durch § 76 I BVerfGG lediglich konkretisiert wird und eine Bestätigung des Klarstellungsinteresses sei.[23] Gleiches gilt im Übrigen auch für das Normbestätigungsverfahren des § 76 I Nr. 2 BVerfGG.[24]

Die Zweifel der Bundesregierung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sind daher als Antragsgrund ausreichend.

5. Objektives Klarstellungsinteresse

16

Das Klarstellungsinteresse ist eine vom BVerfG entwickelte ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung[25] und nicht mit einer etwaigen Antragsbefugnis zu verwechseln. Der Antragsteller muss keine subjektive Rechtsverletzung geltend machen, da es sich um ein objektives Beanstandungsverfahren handelt. Das objektive Klarstellungsinteresse wird grundsätzlich durch bestehende Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel indiziert. Es fehlt nur dann, wenn eine Norm bereits außer Kraft getreten ist und keinerlei Rechtswirkungen mehr entfaltet.[26] Ist eine Norm bereits vor einem Landesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden, ist ein Klarstellungsinteresse abzulehnen. Umstritten ist letztlich der Fall, in dem von einem landesrechtlichen Rechtsbehelf kein Gebrauch gemacht wurde. Bei untergesetzlichem Landesrecht besteht die Möglichkeit der Normenkontrolle nach § 47 VwGO. Diesbezüglich ist eine Entscheidung in beide Richtungen möglich. Einerseits wird mit der Subsidiarität der abstrakten Normenkontrolle argumentiert. Dem wird jedoch entgegengehalten, dass die Prüfungsmaßstäbe von Landesverfassungsgericht und BVerfG verschieden sind und daher keine gegenseitige „Sperrwirkung“ einsetzt.[27]

Die Bundesregierung musste hier keinen landesverfassungsrechtlichen Rechtsbehelf einlegen. Das Gesetz ist weiterhin rechtswirksam. Somit ist das Klarstellungsinteresse gegeben.

6. Form

17

Die Schriftform bestimmt sich nach der allgemeinen Vorschrift des § 23 BVerfGG. Mangels entgegenstehender Sachverhaltsangaben sind diese Voraussetzungen als erfüllt zu betrachten. Eine Frist ist – anders als bei der Verfassungsbeschwerde, dem Organstreit und dem Bund-Länder-Streit – bei der abstrakten Normenkontrolle nicht einzuhalten.

7. Zwischenergebnis

Der Antrag im abstrakten Normenkontrollverfahren ist zulässig.

III. Begründetheit

1. Entscheidung des BVerfG und Prüfungsmaßstab

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Das BVerfG erklärt das Gesetz, sofern der Antrag begründet ist, gem. § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig. Ist das Gesetz nur punktuell nichtig und im Übrigen verfassungsgemäß, kann auch nur ein Teil des Gesetzes für nichtig erklärt werden. Die Nichtigerklärung hat nach § 31 II BVerfGG Gesetzeskraft. Darüber hinaus besteht gem. § 78 S. 2 BVerfGG die Möglichkeit, weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes bei gleichem Nichtigkeitsgrund für nichtig zu erklären, obwohl diese Bestimmungen nicht explizit Gegenstand des Verfahrens waren.[28] Die Nichtigerklärung wirkt „ex tunc“, also auf den Zeitpunkt des Erlasses zurück. Damit wird sämtlichen Rechtsakten, die dieses Gesetz als Rechtsgrundlage hatten, der Boden entzogen.[29] Die Auswirkungen sind jedoch unterschiedlich geregelt:

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In § 79 BVerfGG sind die weiteren Folgen für rechtskräftige Strafurteile und die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung geregelt. Probleme gibt es jedoch bei der Rückabwicklung von Verträgen, Willenserklärungen und Realakten, die auf dem nichtigen Gesetz basieren. Diese sind dann zwar rechtswidrig, die Nichtigkeit des Gesetzes führt aber nicht zwingend und automatisch zur Rückabwicklung oder Unwirksamkeit dieser Rechtsakte. In solchen Fällen kommen die Grundsätze von Treu und Glauben, der Vertrauensschutz oder die Figur der unzulässigen Rechtsausübung zum Tragen.[30] Damit wird eine Norm so lange als gültig angesehen, bis sie Wirkungen im Rechtsverkehr entfaltet.[31] Weiterhin besteht die Möglichkeit der „Verfassungswidrigkeitserklärung“ (Unvereinbarkeitserklärung), die dazu führt, dass die Vorschrift lediglich nicht mehr anwendbar ist. Eine solche Entscheidung erfolgt häufig bei einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Der Gesetzgeber muss dabei eine freie Gestaltungsmöglichkeit haben, um diesen Zustand zu beseitigen.[32] Eine weitere Entscheidungsform ist die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Neuregelung innerhalb einer angemessenen Frist. Das BVerfG sieht dann vom Ausspruch der Nichtigkeit oder der Verfassungswidrigkeit ab.[33] Der Hauptanwendungsfall ist ein verfassungswidriger Zustand, der aber im Fall einer Nichtigkeitserklärung einen noch unerträglicheren Zustand schaffen würde, indem überhaupt keine Regelung existiert.[34] Der Prüfungsmaßstab des BVerfG hängt von der zu überprüfenden Norm ab. Handelt es sich dabei um Bundesrecht, so ist das gesamte Grundgesetz Prüfungsgegenstand. Landesrecht wird auch an Bundesrecht geprüft.

Der Antrag ist begründet, wenn die zu überprüfende Norm formell und/oder materiell gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht (für den Fall des Landesrechts) verstößt.

2. Formelle Verfassungsmäßigkeit

Die formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ist gegeben, wenn das Bundesland X für den Erlass des Gesetzes zuständig war und das Gesetz in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande kam.

a) Gesetzgebungskompetenz (Zuständigkeit)

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Nach dem Grundsatz des Art. 70 I GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit nicht dem Bunde durch das Grundgesetz Gesetzgebungsbefugnisse verliehen werden. Steht dem Bund daher nach den Art. 71 ff. GG nicht die Gesetzgebungskompetenz zu, sind die Länder zuständig. Vorliegend ist keine ausschließliche Kompetenz des Bundes gem. Art. 71, 73 GG ersichtlich. Aus dem Katalog der Gegenstände konkurrierender Gesetzgebung gem. Art. 74 GG ergibt sich ebenfalls kein Kompetenztitel. Das Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern im Bereich der Bildungsplanung nach Art. 91b GG ist im vorliegenden Fall nicht betroffen. Folglich verbleibt es bei der Grundregel des Art. 70 I GG und die Gesetzgebungskompetenz über das Schulwesen obliegt ausschließlich den Ländern.[35] Das Bundesland X war somit für den Erlass des Gesetzes zuständig.

b) Verfahren und Form

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Mangels gegenteiliger Sachverhaltsangaben sind Verfahren und Form eingehalten worden.

3. Materielle Verfassungsmäßigkeit

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Die Bundesregierung bezweifelt die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Schulleiterwahl. Möglicherweise liegt hier ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip vor.

Hinweis:

Werden mehrere Vorschriften eines Gesetzes im Sachverhalt angegeben – wie hier – empfiehlt es sich, diese getrennt zu untersuchen.

a) § 3 (Schulleiterwahl)

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§ 3 des Gesetzes zur Schulleiterwahl ermöglicht der Schulversammlung, den Schulleiter zu wählen. Die Zielsetzung dieses Gesetzes ist die Förderung demokratischer Mitbestimmung der an der jeweiligen Institution Betroffenen. Der Schulleiter ebenso wie die Lehrerschaft sind Beamte oder Angestellte des Staates und werden in dieser Funktion vom jeweiligen Bundesland ernannt. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob dieses Vorgehen an staatlichen Schulen mit dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes vereinbar ist.

aa) Demokratieprinzip

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Das Demokratieprinzip ist verfassungsrechtlich in Art. 20 I, II GG verankert und auf Grund der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG einer Änderung entzogen. Über die Homogenitätsklausel des Art. 28 I 1 GG sind auch die einzelnen Bundesländer der demokratischen Grundordnung verpflichtet. Eine normative Konkretisierung erfährt das Demokratieprinzip in Art. 20 II GG.

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Exkurs

Der Begriff der Demokratie bedeutet Volksherrschaft, also Souveränität des Volkes.[36] Daraus folgt jedoch nicht, dass das Volk alle Entscheidungen selbst basisdemokratisch treffen kann. Vielmehr handelt es durch besondere Organe der drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) und nimmt mittels Abstimmungen und Wahlen auf die Entscheidungsprozesse Einfluss (repräsentative Demokratie).[37]

Darauf basiert die demokratische Legitimation, wonach jegliche Ausübung staatlicher Gewalt durch die Staatsorgane ihren Ursprung, ihre Rechtfertigung und Begründung beim Volk[38] hat („vom Volke ausgeht“, Art. 20 II GG), nicht etwa von transzendenten oder selbstinstallierten Mächten. Das entscheidende Element demokratischer Legitimation ist die Zurückführung der Herrschaftsmacht auf das Volk. Gleichzeitig sichert sie den Einfluss des Volkes gegenüber den handelnden Staatsorganen bei der Ausübung der Staatsgewalt.[39] Dies geschieht durch Wahlen. Zu differenzieren ist dabei zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Legitimation. Der Bundestag wird unmittelbar durch Wahlen nach Art. 39 I 1 GG legitimiert, während die anderen Bundesorgane des Art. 20 II 2 GG nur mittelbar (über den Bundestag) legitimiert werden. Es entsteht eine Legitimationskette, die ihren Ursprung beim Bundestag und somit wiederum beim Volk hat. Die demokratische Legitimation im staatsrechtlichen Sinne besteht aus zwei Komponenten – der Legitimationskette und der demokratischen Verantwortlichkeit (Rückbindung).[40] Erstere steht für den lückenlosen Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft.[41] Dies erfolgt im Bereich der Exekutive durch die Wahl des Parlaments, den Erlass von Gesetzen und die Bestellung von Amtsträgern.[42] Die zweite Komponente ist die Rückbindung an das Volk durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung, die Verantwortlichkeit der Regierung vor dem Parlament und letztlich die Verantwortlichkeit des Parlaments vor dem Volk im nächsten Wahlakt.[43] Die Legitimationskette gilt nicht nur auf Bundesebene, sondern über die Homogenitätsklausel des Art. 28 I GG auch auf Landesebene.

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Nach dem Wortlaut des Art. 20 II GG ist allein das Volk Träger demokratischer Legitimation. Die Wahl des Schulleiters würde dem Gesetz zufolge durch die Schulversammlung erfolgen. Ob dieses Gremium eine ausreichende Legitimation bietet, ist eine Frage der Definition des Begriffes „Volk“ in Art. 20 II 1 GG.

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Das Staatsvolk umfasst die Gesamtheit aller deutschen Staatsangehörigen (Art. 116 GG),[44] die einen Verband dauerhaft miteinander und mit dem Staat verbundener Personen darstellen.[45] Dieses Gesamtvolk ist unteilbarer Träger der demokratischen Legitimation.[46] Eine Legitimation, die von einer Mehrzahl von Menschen, einer bestimmten Gruppe von Menschen („Teilvölkern“ bzw. Volksteilen) oder von Verbänden ausgeht, ist nicht ausreichend.[47] Eine Demokratie (nur) der Betroffenen oder Unterworfenen gibt es nicht.[48] Größere Gruppen können zwar eine „Stimmmacht“ haben, sind aber dennoch nicht durch die Gesamtheit der Bürger legitimiert. Dies gilt prinzipiell auch im Bereich der Gemeinden, auch deren Organe werden durch die Gesamtheit der Gemeindebürger legitimiert. Auf diese Ebene projiziert, bilden die Gemeindebürger das Gesamtvolk, das gem. Art. 28 I 2 GG eine kommunale Vertretung wählt; auf Bundesebene sind sie daher auch als „Volksteil“ zur Legitimation berechtigt. Insoweit trifft Art. 28 I 2 GG eine nicht auf kleinere Gruppen von Staatsbürgern übertragbare Sonderregelung, die dem „Volk“ auf Gemeinde- oder Kreisebene eine eigene Legitimation verleiht.[49] Nach Art. 28 I 3 GG sind auch Unionsbürger auf Gemeindeebene wahlberechtigt und wählbar, gehören mithin zum Gemeindevolk. Diese Bestimmung geht auf Art. 22 I AEUV i.V.m. der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19.12.1994 zurück. Danach steht jedem Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht zu. Die „Staatsgewalt“ ist der ureigene Gegenstand der demokratischen Legitimation. Sie ist neben Staatsgebiet und Staatsvolk ein Bestandteil der „Drei-Elemente-Lehre“ nach Jellinek. Inhaltlich umfasst die Staatsgewalt alle dem Staat zuzurechnenden Handlungen, die verbindlichen Entscheidungscharakter haben.[50]

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Die Schulversammlung ist der Zusammenschluss einer kleineren Gesamtheit von Staatsbürgern. Demokratische Legitimation kann jedoch nur durch das gesamte Staatsvolk erfolgen. Mit einem „Teilvolk“, das ausnahmslos alle Personen in einem definierten Gebiet erfasst, wie es auf Gemeinde- oder Kreisebene besteht, ist die Schulversammlung nicht vergleichbar.[51] Die Schulversammlung ist ein Verbund, der aus Eltern- und Schülervertretern besteht und seine Legitimation nur von diesen bestimmten Gruppen erhält. Eine derartige „Teilvolk-Legitimation“ ist jedoch nicht ausreichend.[52] Amtsträger – darunter fallen auch Schulleiter – erfahren ihre demokratische Legitimation ebenfalls durch das Volk oder durch demokratisch legitimierte Staatsorgane.[53] Der Zurechnungszusammenhang i.R.d. Legitimationskette kann nur über das Gesamtvolk im Bereich des Bundeslandes X (Art. 28 I 2, Art. 20 II GG) hergestellt werden. Einem Teilvolk, das nur durch einen örtlichen oder sonstigen speziellen Bezug gesetzlich verbunden ist, kann diese Legitimationskraft nicht zugestanden werden. Die Größe der Schulversammlung ist nicht maßgeblich, soweit sie nicht die Gesamtheit des Bundeslandes X ausmacht. Auch eine reine Betroffenenpartizipation reicht für die demokratische Legitimation nicht aus.[54] Damit ist festzuhalten, dass die Schulversammlung keine ausreichende demokratische Legitimation aufweist. Folglich verstößt § 3 gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 I, II, 28 I 2 GG).

bb) Die Schulversammlung als Element funktionaler Selbstverwaltung

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Möglicherweise könnte die Schulversammlung als Organ funktionaler Selbstverwaltung legitimiert sein. Die Legitimationsform hierfür stellt nicht auf das Gesamtvolk, sondern auf Interessen- und Mitgliedergemeinschaften ab. Abzugrenzen ist diese von der kommunalen Selbstverwaltung, die den Volksteil gebietsbezogen auf Gemeinde- und Kreisebene (Art. 28 I 2 GG) demokratisch legitimiert. Im Gegensatz dazu ist die funktionale Selbstverwaltung als sachlich-inhaltliche Legitimation aufgabenbezogen.[55] Diese Legitimation wurzelt nicht im Demokratieprinzip, sondern im Interesse an einer möglichst optimierten Entscheidungsfindung durch Einbeziehung des Sachverstandes betroffener Gruppen (z.B. Berufskammern und Universitäten), die ansonsten nicht zur demokratischen Legitimation berechtigt wären.[56] Allerdings besteht dabei ein Defizit in der personell-demokratischen Legitimation. Daher sind zum Ausgleich eine staatliche Aufsicht und eine gesetzliche oder verfassungsrechtliche Rechtfertigung unabdingbar, um das erforderliche „Legitimationsniveau“ zu erhalten. Dieses ist nur gewahrt, wenn für jede staatliche Handlung auch ein Subjekt „greifbar ist“, das gegenüber dem Bürger verantwortlich ist – und sei es in der Wahlentscheidung.[57] Demokratische Legitimation und demokratische Verantwortlichkeit bilden eine untrennbare Einheit.

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Das vorgesehene Organ einer Schulversammlung ist aber nicht mit einer aufgabenbezogenen, im Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren legitimierten, funktionalen Selbstverwaltung zu vergleichen. Es fehlt schon äußerlich an der körperschaftlichen Organisation der Betroffenen oder jedenfalls an einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts als Rechtsträger (Schulen sind regelmäßig unselbstständige Anstalten des öffentlichen Rechts). Darüber hinaus bestehen keine gemeinsamen Interessen, die für eine optimierte Entscheidungsfindung notwendig sind. Während die Lehrerschaft die öffentlichen Interessen des Staates repräsentiert (staatlicher Erziehungsauftrag abgeleitet aus Art. 7 I GG), nehmen die Eltern und Schüler private Interessen wahr (privater Erziehungsauftrag abgeleitet aus Art. 6 I GG, Ausbildungsfreiheit aus Art. 12 I GG). Es besteht also ein Interessensgegensatz,[58] was insbesondere aus Art. 7 I GG ersichtlich wird. Eine originäre Legitimation im Rahmen funktionaler Selbstverwaltung ist mithin nicht gegeben.

cc) Partizipationsrechte neben demokratischer Legitimation

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Der Schulversammlung könnten Beteiligungsrechte zustehen. Die Entscheidungsgewalt der demokratisch legitimierten Mitglieder darf dadurch aber nicht eingeschränkt werden.[59] Um dies sicherzustellen, unterliegt die Mitbestimmung der nicht ausreichend demokratisch legitimierten Mitglieder sowohl einer Schutzzweckgrenze als auch einer Verantwortungsgrenze.[60] Während die Schutzzweckgrenze von den Interessen der Amtsträger bestimmt wird, steht aufgrund der Verantwortungsgrenze den verantwortlichen Verwaltungsträgern eine Letztentscheidungskompetenz zu.[61] Handelt es sich um einen Amtsauftrag, wie den staatlichen Schulauftrag,[62] so kommen diese Sicherungsmechanismen zur Anwendung. Die Reichweite der Partizipationsrechte bestimmt sich nach der Intensität und Nachhaltigkeit, mit welcher die Interessen der Amtsträger berührt werden. Dazu hat das BVerfG die Theorie der abgestuften Legitimationsdichte entwickelt.[63] Diese Theorie gilt für alle Fälle der Ausübung von Staatsgewalt, d.h. für jedes amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter, obgleich sich dieses Handeln bereits unmittelbar nach außen auswirkt oder nur interne Voraussetzung für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben ist.[64] Danach steigen die Anforderungen an die demokratische Legitimation je intensiver die Amtsaufgaben betroffen sind. Umgekehrt sinkt die Legitimationsdichte bei innerdienstlichen Maßnahmen, wenn gegenüber Dritten keine Aufgabenerfüllung stattfindet.[65] Dann sind auch Mitbestimmungsrechte möglich.

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Für die Schulversammlung bedeutet dies: Sobald die Mitbestimmung über innerdienstliche Maßnahmen hinausgeht, muss die Letztentscheidungskompetenz dem vom Volk legitimierten Amtsträger vorbehalten bleiben.[66] In Fällen, die den Status der beteiligten Personen betreffen, ist eine hohe Legitimationsdichte erforderlich, so dass an die Unmittelbarkeit demokratischer Legitimation höhere Anforderungen gestellt werden. Zentrale Entscheidungen wie der staatliche Schul- und Erziehungsauftrag müssen weiterhin beim Staat bleiben. Fragen des schulischen Erziehungsauftrags betreffen immer auch Eltern und Schüler und damit Dritte. Eine rein innerdienstliche Maßnahme ist dann schon nicht mehr gegeben. Die Auswahl des Schulleiters geht über eine bloße innerdienstliche Maßnahme hinaus. Sie begründet das Amt, das maßgebliche Ausgestaltungsbefugnisse über den staatlichen Schul- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 I GG verleiht. Sie bedarf daher einer hohen demokratischen Legitimation, welche die Schulversammlung nicht vermitteln kann. Zumal ist in keiner Weise ersichtlich, in welcher Form sie für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden könnte. Verantwortung darf gleichsam nicht in einem Gremium „verschwinden“.

b) § 18 (Ordnungsmaßnahmen)

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Nach § 18 des Gesetzes kann die Schulversammlung über die Erteilung von Schulstrafen entscheiden und verhängte Schulstrafen aufheben. Auch insoweit stellt sich die Frage, ob das Legitimationsniveau der Schulversammlung für diese Befugnisse ausreichend ist. Eine bloße innerdienstliche Maßnahme, die den Amtsauftrag gegenüber den Bürgern nicht oder nur unmaßgeblich berührt,[67] würde eine Mitbestimmung zulassen. Die Verhängung von Schulstrafen im Sinne von Verweisen oder Disziplinarverfahren ist jedoch eine Entscheidung, die dem demokratisch legitimierten Amtsträger vorbehalten ist. Diese Sanktionen greifen in die Stellung bzw. den Status der Schüler ein, die sogar zur Beendigung des Schulverhältnisses (Verweisung von der Schule) führen können. Infolgedessen kann das Bestimmungsrecht des weiteren Bildungsweges und damit das Recht auf Ausbildungsfreiheit (Art. 12 I GG) beeinträchtigt sein.[68] Damit liegen Maßnahmen mit Außenwirkung und von erheblicher Bedeutung vor. Weiterhin sind zentrale Punkte des Schul- und Erziehungsauftrages betroffen. Maßnahmen wie Schulstrafen, die sich auf die „Mitgliedschaftsrechte“ eines Schülers auswirken, dürfen nicht an die Schulversammlung abgegeben werden, da hiervon schwerpunktmäßig die Erledigung von Amtsaufgaben betroffen ist.[69] In diesen Bereichen muss sich der Staat bzw. der demokratisch legitimierte Amtsträger eine Letztentscheidungskompetenz vorbehalten. Aufgrund von § 18 wäre dies nicht möglich, da die Schulversammlung mit der Mehrheit ihrer Stimmen selbst über diese Maßnahmen entscheiden und sogar Entscheidungen der Amtsträger aufheben würden.

Somit sind die §§ 3, 18 des Gesetzes materiell verfassungswidrig. Das BVerfG wird das Gesetz insoweit für nichtig erklären.

IV. Ergebnis

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Die abstrakte Normenkontrolle ist zulässig und begründet. Sie hat daher Aussicht auf Erfolg.

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Prüfungsschema zur abstrakten Normenkontrolle

Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG

I. Zulässigkeit

1. Zuständigkeit des BVerfG

Art. 93 I Nr. 2 GG; Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht

2. Antragsberechtigung

Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG (abschließend); Bundesregierung, Landesregierung, ein Viertel der Mitglieder des Bundestages

3. Antragsgegenstand

Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG; Bundes- oder Landesrecht formeller oder materieller Natur, keine Beschränkung auf nachkonstitutionelle Gesetze

4. Antragsgrund: „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“

Kompetenz (Zuständigkeit)

Verfahren

Form

2. Materielle Verfassungsmäßigkeit