Ich war noch ein Teenager als es begann - gestern wurde ich einundsiebzig Jahre alt und dürfte damit der älteste Mann in meiner Gegend sein - vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Denn sehr viele Menschen haben die Katastrophe nicht überlebt.

Ich blicke zurück auf eine untergegangene Welt, deren steinerne und stählerne Monumente noch immer sichtbar und allgegenwärtig sind - genauso wie die tödliche radioaktive Strahlung, die weite Gebiete unserer Erde unbewohnbar gemacht hat. Hinter mir liegt eine unglaubliche Dunkelheit, doch wenn ich den Blick nach vorne richte, nun, dann ist vom sprichwörtlichen Silberstreif am Horizont zumindest ein schwaches Glimmen zu sehen.

Was war dies früher noch für ein bequemes Leben gewesen, wenngleich ich dies zu der Zeit natürlich vollkommen anders gesehen hatte. Als die ganze Sache begann, war es gerade etwas mehr als ein Jahr her, seit ich von der Gesamtschule auf das örtliche Gymnasium gewechselt hatte. Das coole an dem Schulwechsel war, dass ich im Gegensatz zu den meisten Teenagern meiner Klasse am Morgen nicht in aller Frühe aufstehen musste, um dann in einem vollbesetzten, lärmenden und stinkenden Bus zur Schule fahren zu müssen, sondern bequem vom Frühstückstisch aufstehen und die hundert Meter bis zur Schule gehen konnte. Wir wohnten sozusagen um die Ecke. Na ja, das war dann aber auch der einzige Vorteil. Denn meine Noten hatten sich, bis auf Mathe, drastisch verschlechtert. Von meinem guten Notendurchschnitt der Gesamtschule, hatte ich mich auf dem Gymnasium gerade noch auf ein Ausreichend bis Befriedigend retten können. Deutsch war vorher nie ein Problem, jetzt hatte ich richtig Mühe, nur um überhaupt den Anschluss halten zu können. Ganz offensichtlich waren ein paar meiner Lehrer der festen Überzeugung, dass eine Klassenarbeit unterhalb eines Notendurchschnitts von 3,5 zu einfach und oberhalb von 4,5 nicht zu schwer, sondern nur die Schüler zu dämlich gewesen waren, den Stoff zu kapieren. Kein Wunder also, dass es wegen der Noten häufig Stress mit meinen Eltern gab.

Mein Vater hatte früher als Softwareentwickler bei SAP gearbeitet bevor er sich Selbstständig gemacht hatte - meine Mutter war Verkäuferin bei H&M. Aber Beide, zumindest schien mir das so, waren eigentlich nur scharf darauf, dass ich so schnell wie möglich meinen Notendurchschnitt verbessern musste. Und weil das nicht so schnell klappte wie es meine Eltern wünschten, wurde schon mal mein iPhone, die Playstation und manchmal sogar Beides eingezogen. Das Härteste war, als ich mich nach einer Reihe mangelhafter Arbeiten, einen Monat lang nicht mehr an meinem PC anmelden durfte. Meinen mühsam erspielten Rang innerhalb meines Clans konnte ich danach vergessen. Ein Umstand der mich damals noch lange wurmte. Ab und zu, vor allem dann, wenn ich mich total danebenbenahm, wurde auch schon mal ein Hausarrest ausgesprochen. Mit Ausnahme des Schwimmtrainings und den Treffen meiner AG im Physiklabor des Gymnasiums, war das Leben dann aber wirklich total Scheiße. Beim Hausarrest durfte ich nur noch in meiner Bude hocken und nur dann an meinen Computer, wenn es die Hausaufgaben erforderten. Fernsehen war natürlich vollständig gestrichen, was mich einmal vollkommen auf die Palme gebracht hatte, denn damals startete gerade eine neue Staffel von „Walking Dead“ über die sich am nächsten Tag jeder in der Schule unterhalten wollte. Sogar die Schuldeppen standen in ihrer Ecke und diskutierten über die neuen Folgen. Nur ich stand da, völlig Ahnungslos und tat so, als ob ich die Folgen gesehen hatte. Ich hätte niemals zugegeben, dass ich gerade Stubenarrest aufgebrummt bekommen hatte und dass dies auch noch ein umfassendes Fernsehverbot beinhaltete. Die Peinlichkeit wollte ich mir echt ersparen. Während des Hausarrestes hatte ich versucht, heimlich die Folgen auf meinen PC zu downloaden, natürlich über einen illegalen Dienst, und war prompt von meinem Vater erwischt worden. Ehrlich, mit einem Informatiker im Haus, kann man sich solche Tricks abschminken. Die Verbindung zum Server war schon unterbrochen, kaum dass das erste Bit die Grafikkarte in meinem PC hätte bemühen können. Stattdessen stand mein verärgerter Vater im Zimmer und hielt mir eine Standpauke über Diebstahl, illegalem filesharing und streaming von urheberrechtlich geschützten Inhalten und so ein Juristenblablabla. Als Konsequenz musste ich einen weiteren Monat auf meinen PC verzichten.

Wie gesagt, die einzigen Lichtblicke in solchen Wochen waren dann das Schwimmtraining und die AG der Schule. Beim Schwimmen hatte ich schon einige Pokale und Medaillen abgeräumt. Meine Kumpels schenkten meinen sportlichen Erfolgen zwar wenig Beachtung, aber ich bemerkte es, wenn sie neidisch auf die Pokalsammlung auf meinem Regal glotzten. Ich gebe gerne zu, dass ich stolz auf meine Pokale war, aber am meisten war ich auf die Urkunde von „Jugend forscht“ stolz. Der Roboter unserer AG hatte für Aufsehen gesorgt und dabei die Konkurrenz ziemlich blass aussehen lassen. Mit der komplizierten Mechanik des Roboters hatte ich zwar wenig am Hut gehabt und dazu auch kaum was beigetragen, aber die Steuerungssoftware von unserem Roboter, die hatte ich geschrieben und anschließend an den kleinen Raspberry, der in dem Roboter verbaut worden war, angepasst. Natürlich hatte ich dies meinem Vater zu verdanken, denn der hatte mich schon vor ein paar Jahren für das schreiben von Programmen begeistert. Aber bedankt hatte ich mich bei ihm dafür eigentlich nie. Ich war halt der festen Überzeugung eines jeden Teenagers, dass Eltern dazu verpflichtet waren ihren Kindern alles Mögliche zu kaufen und ansonsten eigentlich nur nervten. Die Welt in der ich als Teenager lebte, war eben eine völlig andere, als diejenige in der sich der Rest der Welt zurechtfinden musste.

Als damals eine Seuche in Afrika ausbrach, ließ mich das zwar nicht kalt, aber für mich war es damals viel wichtiger, Filme anzuschauen die erst ab 18 freigegeben waren, Games wie Fortnite oder FIFA zu zocken, mit meinen Kumpels rumzuhängen und natürlich mein Sport. Das Einzige was einem in meinem Alter an den Nachrichten interessierte waren höchstens mal die Sportmeldungen. Wenn aber etwas über eine Seuche in Afrika gemeldet wurde, dann war das eben nur eine Meldung, wie viele andere auch. Doch dann - ich weiss das noch ganz genau - drängte sich die Nachricht über die Seuche immer mehr in den Vordergrund. Auf einmal stand sie auf jedem Titelblatt und wurde plötzlich auch in jedem Newsfeed erwähnt. Wenn ich mir die Medien so ansah, hatte ich aber oft den Eindruck, als ob die Bestürzung der Vielen, die uns die Neuigkeiten präsentierten, nur geheuchelt war. Die Seuche wütete in Afrika, also nicht gerade vor unserer Haustür – aber offenbar verlangte die „political correctness“ von den Erwachsenen, dass sie Bestürzung zu zeigen hätten. In Wirklichkeit ging es ihnen aber nur um die Einschaltquoten oder Auflagenhöhe ihrer Schmierblätter. Also, auf N24 überschlugen sich angebliche Experten mit ihren Prognosen, die sich später dann allerdings ausnahmslos als falsch herausstellten. Und es trafen sich natürlich auch ein paar uralte Opas irgendwelcher Rockgruppen aus dem letzten Jahrhundert, für ein paar Benefizkonzerte. Als dann bekannt wurde, dass sich zwar alle Menschen an der Seuche anstecken konnten, aber nur Schwarzafrikaner daran sterben mussten, Wow, die Meldung war wirklich der Hammer. Jede Verschwörungstheorie, mochte sie auch noch so bekloppt gewesen sein, wurde anschließend, vor allem von den Privatsendern, breit ausgewalzt und stundenlang durchdiskutiert. Eine Biowaffe, die nach Hautfarbe tötete, das war die Schlagzeile dieser Tage. Natürlich führten die Vertreter der Verschwörungstheorien an, dass nur die CIA in der Lage wäre, in supergeheimen Forschungslaboratorien derartige Viren auszubrüten. Mir wollte es nun aber gar nicht in den Kopf gehen, weshalb die Amerikaner einen derartigen Virus hätten heranzüchten sollen. Zumal das Virus einen großen Teil ihrer eigenen Bevölkerung dezimiert hätte. Vor allem den Teil der Bevölkerung, der noch immer den größten Anteil in ihren Streitkräften stellte, nämlich die Afroamerikaner. Aber Logik schien bei Verschwörungstheoretikern wohl überbewertet zu sein. Mit den Amerikanern wurden natürlich auch die Russen verdächtigt, später die Chinesen und selbst BASF durfte sich wegen eines Pharmakomplex in Nigeria, auf einmal einer größeren Aufmerksamkeit im Internet erfreuen.

Dann, nachdem ganze Landstriche entvölkert waren, verschwand die Seuche ganz plötzlich, ohne dass man irgendeinen Fortschritt bei der Identifikation des Virus hatte erzielen können. Die Horrorzahlen, welche täglich marktschreierisch durch den Blätterwald gerauscht waren, reduzierten sich zuerst auf ein paar Dutzend dann schließlich auf null. Die Welt schaltete danach, wie gehabt, wieder auf ein anderes Programm, so als ob es diese Seuche niemals gegeben hatte.

Fast zwei Jahre vergingen, bis wieder eine Seuche ausbrach. Diesmal jedoch nicht im geplagten Afrika, sondern in China. Nun aber starben nur Asiaten an der Seuche. In Afrika hatte die Seuche zehntausende Menschenleben gefordert, in China gingen die Opferzahlen dagegen rasend schnell in die Millionen. Es war eine derartige Katastrophe, dass China das Kriegsrecht verhängen musste und sogar um internationale Hilfe bat. Diesmal begriffen auch ich und meine Freunde, dass dies mehr war, als nur eine Katastrophe am anderen Ende der Welt, die uns nichts anging. In der Schule wurde viel darüber gesprochen, wie man helfen und wo man sich engagieren konnte. In Bio wurde die Unterrichtsreihe unterbrochen und lange über die vielen Seuchen gesprochen, welche bisher über die Menschheit hereingebrochen waren. Und trotz der großen Aufmerksamkeit und aller Bemühungen die weltweit Unternommen wurden, konnte niemand eine Antwort auf die Frage geben, weshalb ein Virus nur dann aggressiv wirkte, wenn bestimmte rassische Merkmale vorlagen.

Das ganze Geschehen erschütterte mich wirklich. Die Bilder der verzweifelten Menschen welche in den Nachrichten gezeigt wurden, berührten mich. In schier endlosen Kolonnen flohen die Menschen aus den betroffenen Gebieten, nur um später feststellen zu müssen, dass die Seuche auch an den Orten wütete, wo sie sich in Sicherheit bringen wollten. Die Aufnahmen zeigten kleine Kinder, alte Menschen, Kids in meinem Alter, wie sie sich auf den überfüllten Straßen dahinschleppten. Das Elend und die Not, von dem ich täglich über die Medien Zeuge wurde, veranlassten mich dazu, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Geld spendete. Ich tat dies nicht, um mein Gewissen zu beruhigen, sondern allein aus dem Wunsch heraus, dass meine fünfzig Euro hoffentlich irgendeinen Menschen helfen könnten. Vielleicht tat ich es auch deswegen, weil ich Jahre zuvor dem Drama, welches sich damals in Afrika abgespielt hatte, so wenig Beachtung geschenkt hatte.

Nach vier Wochen waren fünf Millionen Menschen an der Seuche gestorben. Fast alle Opfer waren männlich und im Alter zwischen zwölf und sechzig. Frauen die sich angesteckt hatten durchlitten wochenlang die Hölle und sahen, nachdem die Symptome wieder abgeklungen waren, furchtbar aus. Die Haut mit unzähligen Pusteln und Furunkeln übersät, die Wangen eingefallen, halb blind und kaum noch Haare auf dem Kopf, erholten sie sich nur sehr langsam von dieser schrecklichen Krankheit. Das Sprechen fiel ihnen schwer und die einzige Nahrung, welche sie nicht sofort wieder erbrachen, bestand aus gehacktem rohem Fleisch. Es war glaube ich, irgendein britisches Schmierblatt, welches sich dazu berufen fühlte, ein Foto von einer der bedauernswerten Überlebenden zu veröffentlichen und mit großen Lettern zu titeln, dass so die Überlebenden der Zombieseuche aussahen. Zombieseuche, so nannten dann alle diese Krankheit nachdem das Virus vorher Nazivirus genannt worden war.

Der erste Seuchenfall der in Europa gemeldet worden war, zumindest meiner Erinnerung nach, stammte aus Polen. Ein junger Arzt, der während der ersten Phase der Seuche in China bei einem Hilfseinsatz gewesen war, klagte plötzlich über heftige Kopf- und Gliederschmerzen. Leider wurde er nach einer flüchtigen Untersuchung durch seinen Arzt, mit einer Packung Ibuprofen nach Hause geschickt. Mein Vater stellte dazu später lediglich fest, dass der arme Kerl in Deutschland erst gar keinen Arzttermin bekommen hätte und ihn die Notaufnahme des Krankenhauses mit Sicherheit auch nach Hause geschickt hätte - allerdings ohne die Tabletten. Einen Tag später war der bedauernswerte Arzt tot. Die polnischen Behörden verhängten sofort eine umfassende Quarantäne - blöd nur, dass der junge Arzt äußerst gut vernetzt gewesen war, wie eine Zeitung schon kurz darauf berichten konnte. Anhand der Facebookeinträge des Mannes hatte die Zeitung alle Menschen aufgezählt, mit denen der junge Arzt vielleicht Kontakt gehabt hatte oder zumindest hätte haben können. Für die Zeitung machte das natürlich keinen Unterschied. Und prompt kam es zu einem Vorfall, über den sogar weltweit berichtet wurde. Aufgrund des Artikels hatten sich nämlich ein paar Typen dazu berufen gefühlt, einen der in der Zeitung namentlich aufgeführten „potentiellen Kontakte“ aufzugreifen, ihn in einen Plastiksack zu stecken und gnadenlos zu erschlagen. Gerade als sie ihn anzünden wollten, wurden sie von einer Polizeistreife entdeckt.

Keiner konnte sagen, wie weit sich die Seuche in Europa schon ausgebreitet hatte, angeblich aus Gründen des Datenschutzes, doch der mediale Funke war gelegt und die Blätter aus den diversen Zeitungsverlagen, sowie deren so genannten Experten, ereiferten sich darin, jeden Tag ihren Lesern ein neues Horrorszenario vorzustellen. Auf der anderen Seite standen die Berufsbetroffenen die kräftig dagegenhielten und schon eine ansteigende Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung festzustellen vermochten. Wieso nur gingen mir diese moraltriefenden Gestalten so mächtig auf den Zeiger? Vielleicht deshalb, weil sie mit der Art und Weise eines Oberlehrers diejenigen Menschen zu belehren versuchten, die eigentlich keinerlei Belehrung nötig hatten. Diejenigen die nun aber tatsächlich dringend einer Belehrung und vielleicht auch ein bisschen mehr Hirnsubstanz benötigt hätten, hörten doch sowieso nicht zu und schon gar nicht auf diese Schlauberger. Vielleicht kam es den Typen aber auch nur darauf an, sich selbst im Fernsehen zu sehen, um sich dort in ihrer vermeintlichen moralischen Überlegenheit zu sonnen.

Ähnlich wie bei dem Verlauf der Seuche in Afrika nahm das Interesse der Medien dann aber in dem Maße ab, wie die Anzahl der Seuchenopfer in Asien abnahm. Komisch, es starben wohl noch immer täglich einige hundert Menschen an dieser unheimlichen Seuche, doch in Deutschland schienen sich die Menschen nun auf einmal mehr darum zu sorgen, wo sie ihren Jahresurlaub verbringen konnten, als darüber nachzudenken, was es mit dieser Seuche auf sich hatte.

Später, inzwischen war ich 14 Jahre alt, hatte meine ersten Pickel erfolgreich bekämpft, sah ich einiges schon viel Gelassener als beispielsweise noch mit zehn oder zwölf. Außerdem waren inzwischen viel wichtigere Dinge in den Vordergrund getreten. So versuchte ich gerade mit Kerstin aus der Parallelklasse anzubändeln. Von meinem Kumpel Silvio hatte ich den Tipp bekommen, dass Kerstin auf mich stehen würde – oder zumindest interessiert war. Silvio sollte das eigentlich wissen, denn der knutschte ja jede freie Minute mit Kerstins bester Freundin Alina rum. Kerstin sah rattenscharf aus, so nicht nur die einhellige Meinung aller meiner Kumpels - sondern von fast allen Kerlen. Der Meinung war ich auch und sie nahm ja auch deswegen einen absoluten Spitzenplatz in meinen feuchten Träumen ein. Auf jeden Fall hatte ich gewaltigen Bammel davor, Kerstin um ein Date zu bitten.

Jetzt drei Wochen vor den großen Ferien, nahm der Schulstress langsam aber sicher ab. Die letzten Arbeiten waren geschrieben und mit Blick auf meinen Notendurchschnitt konnte ich mir diesmal Hoffnungen darauf machen, dass auch meine Eltern zufrieden sein konnten und die LAN-Party nächstes Wochenende damit gesichert zu sein schien. Tja, und dann wollte ich ja noch am Freitag Kerstin ins Kino einladen.

Wie erwartet freuten sich meine Eltern über die guten Schulnoten und selbst mein Vater war an dem Abend recht versöhnlich und spielte ein paar Runden auf dem Split Screen „Call of Duty“ gegen mich. Kurz vor dem Abendessen wurde das gemeinsame Spiel jedoch von einem Anruf unterbrochen. Das war mal wieder typisch, denn mein Vater wurde häufig angerufen. In den meisten Fällen sah man ihn dann in sein Arbeitszimmer gehen und stundenlang auf der Tastatur seines Computers rumhacken. Inzwischen sah ich meinen alten Herrn mit anderen Augen, als noch vor zwei oder drei Jahren, wo er mir ab und zu gewaltig auf die Nerven gegangen war. Vor knapp einem Jahr hatte er bei SAP gekündigt und sich selbstständig gemacht. Mein Vater musste auf seinem Gebiet wirklich spitze sein, denn er arbeitete nun von zu Hause aus und entwickelte mit verschiedenen Teams Software für die ESA, für die NASA, für das Deutsche Zentrum für Luft und Raumfahrt und für tausend andere Firmen. Daneben hielt er auch noch Vorträge an der Technischen Universität in Berlin und hatte sogar einen Aufsatz über neue Verfahren zur Faktorisierung großer Zahlen veröffentlicht, auf dem er ziemlich stolz war. Ich verstand zwar kein Wort aber das Ganze hörte sich doch ziemlich cool an, vor allem gegenüber den Lehrern in der Schule, die mit dem Geschriebenen etwas anzufangen wussten.

Bei dem Anruf, der unser gemeinsames Spiel gerade unterbrochen hatte, war jedoch kein Arbeitskollege oder verzweifelter Direktor irgendeiner Institution schuld, sondern Opa, wie ich deutlich hören konnte. Mein Opa Ludwig war eine Klasse für sich und verglichen mit den Großvätern meiner Kumpels, sofern die ihren Großvater überhaupt kannten, hatte der nur wenig mit dem Klischee eines gemütlichen Opas gemeinsam. Das ganze Leben von Opa klang wie eine Abenteuergeschichte, die selbst einen durch Hollywood abgebrühten Teenager wie mich noch Beeindrucken konnte.

Der 2. Weltkrieg war erst ein paar Tage zu Ende, da erschien mein Opa in einem halbzerstörten Rathaus und behauptete seine Ausweispapiere verloren zu haben. Der völlig übermüdete Beamte wollte lediglich wissen wo die Eltern wären, oder ob eine Geburtsurkunde vorläge. Opa log dem Mann vor, dass die Familie ausgebombt war und alles verloren hätte. Außerdem wüsste er nicht wo seine Eltern waren. Ob die Lüge zog oder nicht, der Beamte nahm ein Lichtbild entgegen und fertigte noch an Ort und Stelle einen Notausweis an, auf welchem Opa aber auf einmal drei Jahre älter war. Mit dem Ausweis wanderte er in die nächste Stadt, ging aufs Schulamt und wollte sich für das Abitur einschreiben lassen. Opa behauptete dort allerdings, dass er während des Krieges nach Ostpreußen aufs Land geschickt worden war und dort ein Gymnasium besucht hätte aber dann von der Wehrmacht eingezogen und hierher versetzt worden war. Das Kriegsabitur hätte er aufgrund der Lage nicht mehr machen können. Derlei Schicksale gab es zu der Zeit viele, also wurde Opa in die nächste Schule geschickt und nachdem Opa eine Lehrprobe abgehalten hatte, wurde er für das Abitur zugelassen und bestand dieses, im zarten Alter von sechzehn Jahren, sogar mit Auszeichnung.

Danach radelte er mit einem klapprigen Fahrrad nach Heidelberg und schrieb sich in die Fakultät für Mathematik ein. 1951 fuhr er mit dem gleichen Fahrrad nach München, um sich dort in die Technische Hochschule einzuschreiben. Anschließend studierte er in Delft und weil er sich die Überfahrt nach Amerika nicht leisten konnte, versteckte er sich auf einem Handelsschiff, das nach New York unterwegs war. Kaum war das Schiff auf offener See, meldete er sich beim Kapitän. Dieser wollte ihn zuerst über Bord werfen lassen, entschied sich aber dann doch noch dafür, den jungen Kerl zur Strafe unter Deck bei den Maschinen schwitzen zu lassen. Schon nach zwei Tagen beschwerte sich der Bordingenieur über den Deutschen der dort unten alles durcheinander brachte. Mein Großvater überholte die völlig verwahrloste Maschinenanlage des Dampfers und brachte die Besatzung des Maschinenraumes auf Vordermann. Als nach vier Tagen der Kapitän vom ständigen Gezeter seines leitenden Ingenieurs genervt, endlich den Maschinenraum betrat, erwartete ihn an Stelle des ölverschmierten, verdreckten Decks mit seiner mürrischen Besatzung, ein hell erleuchteter, blitzsauberer Maschinenraum in welchem die Maschinisten emsig wie die Ameisen am Werkeln waren. Zwischen diesen vorher so grobschlächtigen Menschen, bewegte sich der jungenhafte blinde Passagier wie ein General. Der Kapitän musste sich mehrmals die Augen reiben, um sich zu versichern, dass er nicht gerade einen schönen Traum hatte. Da stand Ole, der wohl übelste Schläger zwischen Rotterdam und Hamburg, und ließ sich geduldig die Hydraulikanlage erklären. Kai Jansen, den man noch nie nüchtern gesehen hatte, trug einen funkelnagelneuen Blaumann, war rasiert und gerade konzentriert dabei die Drehzahlen der Maschinen anzupassen. Der Kapitän lachte daraufhin nur und empfahl seinem Ingenieur sich mit Ludwig zu vertragen. So kurz nach dem Krieg war das für den holländischen Ingenieur sicherlich nicht leicht. Aber als Seefahrer kann man sich den Luxus chauvinistisch zu sein nicht leisten. Also setzte sich der alte Holländer am Abend zu dem jungen Deutschen, stellte ein paar Flaschen Bier auf den Tisch und klärte das Verhältnis. Als das Schiff einen Tag früher als geplant im Hafen von New York anlegte, wurde Ludwig vom Zahlmeister eine schöne Summe ausgezahlt. „Das steht einem leitenden Ingenieur zu“, meinte der als knausrig beschriebene Zahlmeister bloß. Man konnte über die Holländer ja sagen was man mochte, aber für ehrliche Arbeit zahlten sie auch einen ehrlichen Lohn. Außerdem versorgte der Kapitän den jungen Deutschen mit den notwendigen Papieren, damit er in die USA einreisen konnte. Von New York fuhr Ludwig die 340 Kilometer nach Cambridge, wieder auf einem Fahrrad, um sich in das dortige Massachusetts Institute of Technology einzuschreiben. Er blieb dort vier Jahre, lernte Professor Jay Wright kennen und machte bei ihm seinen Abschluss als Ingenieur. Er kehrte zurück nach Deutschland, allerdings über einen Umweg, der ihn durch die gesamten Vereinigten Staaten von Amerika und von dort über Japan nach China führte. In der Volksrepublik China wurde er verhaftet, konnte aus dem Gefängnis ausbrechen und schlug sich bis nach Indien durch. Dort heuerte er auf einem Dampfer an, der ihn über den Suezkanal nach Griechenland brachte. Auf dem Landweg durchquerter er Jugoslawien, die Tschechoslowakei, Polen bis nach Danzig. Von dort fuhr er mit einem Schiff nach Hamburg und reiste wieder nach München. Er bewarb sich bei Siemens um eine Stelle bei der neugeschaffenen Abteilung für Halbleitertechnik und wurde prompt angenommen. Allerdings wurde bei der Beantragung seines neuen Ausweispapiers, den inzwischen gab es ja die Bundesrepublik Deutschland, von einem korrekten Beamten des Einwohnermeldeamtes die Vordatierung seines alten Ausweises aufgedeckt. Die Technische Universität München wollte ihm daraufhin seinen akademischen Grad aberkennen. Dagegen wehrte sich Großvater und kurz darauf wurde der Präsident der Universität von zahlreichen Schreiben namhafter Professoren aus Heidelberg, Delft und Amerika regelrecht bombardiert. Die Universität wollte die Sache dann doch auf sich beruhen lassen, allerdings unter der Bedingung, dass er an der Universität München promovieren musste. Für Opa Ludwig war harte Arbeit die Regel und im Gegensatz zu mir fiel Opa das Lernen schon immer sehr leicht. Obwohl vielleicht als Strafe gedacht, war es ihm eine Ehre von einer hervorragenden deutschen Universität schließlich den Doktortitel verliehen zu bekommen. Ein Jahr später lernte er eine aufstrebende Physikerin kennen und heiratete sie kurz darauf. Das Paar bekam fünf Kinder, vier Jungs und ein Mädchen. Opa kündigte mit fünfzig seinen Arbeitsplatz, denn er hatte mehrere Patente zur Verbesserung der Leistung von Schiffsmaschinen an eine koreanische Werft verkauft und braucht sich danach nie wieder über Geld Sorgen zu machen. Oma Bärbel, inzwischen eine hoch angesehene Professorin an der Universität Heidelberg, emeritierte und zog mit ihm nach Süddeutschland. Dort, an der Grenze zwischen Baden und Schwaben kauften sie einen alten heruntergekommenen Hof, den sie sich nach ihrem Geschmack einrichteten. Tja, und dort lebten sie bis heute.

Was an dem Anruf von Opa Ludwig so merkwürdig war, war der Umstand, dass meine Großeltern eigentlich so gut wie nie anriefen. Sie schrieben lieber lange Briefe. Angesichts von E-Mails, FaceTime oder WhatsApp kam mir das damals irgendwie als Anachronismus vor. Heute ist es wieder die Regel, wie mir gerade einfällt. Nun, irgendetwas musste bei Opa vorgefallen sein, denn Anrufe von ihm waren eine absolute Seltenheit und hatten dann auch selten etwas Gutes beinhaltet. Und so war ich zwar neugierig, aber ich wunderte mich auch nicht, dass Papa den Rest des Abends in seinem Büro blieb. Als ich eine Stunde später selbst in mein Zimmer ging, hörte ich Papas Stimme durch die geschlossene Bürotür. Offenbar telefonierte er noch immer. In meinem Zimmer versuchte ich noch ein Problem mit der Steuerungssoftware des neuen Roboters zu lösen, scheiterte aber daran und chattete anschließend mit Carsten und Sergej über die neuen Opfer aus Walking Dead sowie der geplanten Fortsetzung von „World War Z“, diesmal sogar mit Moritz Bleibtreu in einer Hauptrolle. Es sollten nur noch wenige Tage vergehen, bis ich erkennen sollte, dass die Realität schlimmer werden konnte, schlimmer noch als sie sich die Drehbuchautoren dieser Filme, jemals hätten vorstellen können.

Ich ging an diesem Montag sehr spät zu Bett, denn, wie gesagt, die Schule lief nur noch auf Sparflamme und alle bereiteten sich auf die großen Ferien vor, die diesmal schon Anfang Juni in Berlin und Brandenburg starten sollten. Als ich vom Duschen zurückkam und in mein Zimmer ging, bemerkte ich, dass mein Vater noch immer telefonierte. Jetzt hörte ich auch deutlich die Stimme meiner Mutter, die am Gespräch teilnahm. Was gesprochen wurde, konnte ich nicht verstehen, und zu lauschen wäre mir im Traum nicht eingefallen. Ich legte mich also ins Bett, streamte über Amazon-TV noch eine Folge „The Strain“ und schlief dann schließlich ein. Am nächsten Morgen war mein Vater noch immer in seinem Arbeitszimmer, wo ich ihn sprechen hörte. Also entweder telefonierte er noch immer, oder schon wieder, dachte ich mir noch und ging anschließend in die Küche wo ich mich ordentlich von Mamas Fruchtjoghurt bediente, der bereits auf dem Tisch stand. Ich war mitten beim Essen, als meine Eltern nun ebenfalls die Küche betraten. Beide sahen vollkommen übernächtigt aus. Von Papa war ich diesen Anblick ja gewohnt, aber nicht von meiner Mutter. Mein Vater bereitete für sich und für Mama einen Kaffee zu. Während er an der italienischen Maschine rumhantierte - nichts geht über eine italienische Espressomaschine - schaute er mich beiläufig an.

„Liegen eigentlich noch wichtige Arbeiten an, so kurz vor den Ferien?“

„Nein, die fahren jetzt nur noch auf Sparflamme. Freitag hatten wir zwei Stunden lang irgendwelche Filme über Plattenfische in Tansania angeschaut und heute dürfte sich das Ganze wohl wiederholen - hoffentlich mit anderen Viechern. Der einzige der noch einigermaßen einen spannenden Unterricht abhält ist Herr Köchert“.

„Der Chemielehrer?“.

„Genau. Der hat letztens ein krasses Experiment durchgeführt. War Klasse“.

„Mit der Einschätzung bist du aber wahrscheinlich in der Minderheit, oder?“, fragte Vater und grinste. Ich grinste zurück.

„So ziemlich. Ich find Chemie eigentlich ganz OK. Im Gegensatz zu meiner alten Chemielehrerin gibt sich der Köchert wenigstens richtig Mühe und erklärt das Zeug so, dass man es auch versteht“.

„Ja, das ist oft so. Hängt häufig nur von den richtigen Lehrern ab “.

Die Kaffeemaschine begann zu zischen und zu brodeln und ich konnte nur noch darüber staunen, dass die Lautstärke und der Dampf in keinem Verhältnis zur Kaffeemenge standen die auf einmal in die kleinen Tassen tröpfelte.

„Ich muss los“, sagte ich schließlich und trottete zum Gymnasium.

Die Woche versprach ganz angenehm zu werden. Mit wenigen Ausnahmen hatten sich auch die Lehrer bereits schon geistig in die Ferien verabschiedet. Ich traute mich Kerstin einzuladen, musste aber unser Date auf übernächste Woche verschieben, weil sie das kommende Wochenende zum Geburtstag ihrer Oma fahren musste. Ich bekam die Steuerungssoftware unseres neuen Roboters in den Griff und wurde endlich auch in die erste Schwimmstaffel meines Vereins aufgenommen. Also ehrlich, dass lief doch wirklich super. Nur zu Hause herrschte eine merkwürdige Stimmung. Jeden Tag verpackten meine Eltern irgendwelche Sachen in Kisten, die sie dann zur Post fuhren. Papa führte eine komplette Spiegelung sämtlicher Festplatten durch und verschickte diese dann ebenfalls mit einem Spezialversand irgendwohin. Ständig waren meine Eltern unterwegs und anhand der Verbindungsprotokolle die ich aus der Fritzbox auslesen konnte, führten sie sehr viele Telefongespräche - viel mehr als jemals zuvor. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wollte aber auch nicht mit Fragen nerven, zumal mich das Ganze ja offensichtlich auch nichts anging. Also chattete ich mit meinen Kumpels, bekam neidische Glückwünsche, weil ich es bei Kerstin wohl geschafft hatte und übertrieb natürlich bei der Darstellung wie ich es geschafft hatte. Kasimir, mein bester Kumpel, schrieb dazu, dass Kerstin schuld daran war, dass ihn seine Mutter im Bad mit heruntergelassener Hose erwischt hatte. Er bekam von uns allen ein LOL dafür. Am Donnerstagabend, ich kam gerade vom Schwimmtraining nach Hause, platzte schließlich die Bombe. Ich hatte mich schon gewundert, warum in unserer Einfahrt unsere Familienkutsche mit einem Anhänger stand und offenbar nur noch wenige Gramm vom höchst zulässigen Gesamtgewicht entfernt war. Mein Vater verzurrte gerade die Plane über dem riesigen Anhänger.

„Wir fahren heute Nacht zu Opa.“, erklärte er beiläufig und zerrte an einem Spanngummi herum.

„Und die Schule?“, fragte ich überrascht.

„Ach, die ist doch sowieso schon im Urlaubsmodus.“, antwortete mein Vater, „Ich schreibe denen eine E-Mail und entschuldige dich für die paar Tage.“

„Paar Tage? Du meinst wohl eher zehn Tage.“, fragte ich fassungslos. Wow, mein Vater ließ mich zehn Tage Unterricht stemmen. Ich war wirklich platt, denn vorher hätte ich nicht einmal eine Sekunde verpassen dürfen. „Und was ist mit dem Schwimmtraining? Du hast doch sonst immer so darauf geachtet, dass ich keine Trainingsstunde versäume!“

Mein Vater sicherte die Spanngummis mit einem Vorhängeschloss, legte anschließend seinen Arm um meine Schulter und zog mich ins Haus. „Nanu, das sind ja ganz neue Töne von dir.“, sagte er scherzend. „Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sich mein Sohn dagegen wehrt, dass er früher in die Ferien fahren kann“.

Natürlich ging es mir nicht um die zehn Tage, sondern darum, dass ich deswegen Kerstin nun doch nicht treffen konnte und dann war da auch noch die Tatsache, dass unser Urlaubsziel der Hof von Oma und Opa war. Ich zuckte also mit den Schultern, und schlurfte hoch in mein Zimmer, nur um festzustellen, dass die meisten meiner Sachen verschwunden waren.

„Hey“, rief ich die Treppe runter. „Wo sind denn meine Sachen hin?“.

„Na eingepackt und auf dem Weg zu Oma und Opa“.

Na schön, dass man ein paar Dinge mit in die Ferien nahm, sah ich ja noch ein. Dass, wenn man zu Oma und Opa fuhr, man gut beraten war, etwas mehr einzupacken, leuchtete mir auch ein. Aber weshalb gleich sämtliche Anziehsachen eingepackt worden waren, dass konnte ich mir nun wirklich nicht erklären. Ich setzte mich hinter meinen Mac und versuchte Kerstin zu erreichen. Auf keinem Fall wollte ich sie versetzen, denn die Konkurrenz an Nebenbuhlern war groß. Kerstin war zwar erst fünfzehn, ging aber locker als siebzehn oder achtzehn durch. Kein Wunder, dass auch deshalb ständig ein paar Kerle der höheren Klassen um Kerstin und ihren Freundinnen rumlungerten.

Kerstin war, Gott sei Dank, zu Hause und saß mit Alina zusammen in ihrem Zimmer. Ich aktivierte FaceTime und erzählte Kerstin davon, dass wir schon zehn Tage vor Ferienbeginn abreisen wollten. Natürlich erwähnte ich mit keinem Wort, dass meine Eltern das Haus quasi ausgeräumt hatten. Alina war wie immer gut drauf und scherzte auf meine Kosten darüber, dass ich zu meinen Großeltern fuhr, an statt mit ihr und Kerstin die nächsten Wochen im Freibad abzuhängen.

„Wir können uns doch über FaceTime sprechen“, meinte Kerstin tröstend.

„Tja, das würde ich gerne. Aber bei meinen Großeltern gibt es kein Internet“.

„Kein Scheiß? Da gibt es kein Internet?“, fragte Alina fassungslos. „Wo leben deine Großeltern denn?“.

„Im Schwarzwald.“

„Und da gibt es kein Internet, nicht einmal ein kleines?“ fragte Kerstin mit zuckersüßer Stimme.

Sie verschob den Bildschirm ein wenig und ich konnte die Flasche Wodka und die Energydrinks am Rande des Tisches stehen sehen.

„Nee, na ja. Es gibt schon Internet, aber das ist dort so langsam, dass man Streaming vergessen kann. Es gibt dort auch keinen Fernseher. Nicht einmal einen kleinen“, fügte ich hinzu.

„Oh Mann, was für eine Scheiße“, sagte Alina. „Da musst du doch umkommen vor Langeweile“.

Ich verdrehte die Augen.

„Weißt du was, ich drücke jetzt auf Aufnahme und schick dir was, damit du etwas zur Ablenkung hast“, sagte Alina.

Ich sah wie sie sich über den Bildschirm beugte, irgendwelche Einstellungen vornahm und sich dann Kerstin zuwandte. Sie umfasste ihre Hüfte und küsste sie leicht auf den Mund. Beide kicherten in die Kamera und Kerstin hauchte, „das ist jetzt nur für dich mein Schatz“, und steckte Alina ihre Zunge in den Mund. Beide küssten sich leidenschaftlich, so das mir auf einmal extrem heiß wurde. Alina zog Kerstins hautenges Shirt nach oben. Oh Mann, Kerstin trug keinen BH. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und zog Alina nun ebenfalls das Shirt aus. Beide küssten sich wieder. Ihre Hände glitten über ihre Körper und ihre festen Brüste. Kerstin küsste Alinas Kinn und fuhr mit der Zunge ihren Hals entlang in Richtung ihrer Brüste. Auf einmal drehte sie sich zur Webcam, lachte und mit einem hämischen Unterton sagte sie, „Schalten sie nach den Ferien wieder ein und erleben sie das doch einmal selbst“. Sie warf mir eine Kusshand zu. Auch Alina zeigte sich noch einmal auf dem Bildschirm und winkte lachend, dann war die Verbindung unterbrochen. Ein paar Minuten später meldete sich mein iPhone, dass eine Videobotschaft eingetroffen war. Wow, Alina und Kerstin in FullHD. Nach der Nummer ging ich erst einmal kalt duschen. OK, ich fuhr jetzt zwar zu Oma und Opa, aber so wie es aussah, konnte mit Kerstin eigentlich nichts mehr schiefgehen. Ich sah die ganze Sache nun nicht mehr ganz so verbissen.

Gegen Abend saßen wir im Auto, fuhren auf den Berliner Ring und anschließend auf die Autobahn Richtung München. Ich saß vorne auf dem Beifahrersitz, während sich Mama auf dem Rücksitz eingerichtet hatte. Alles war vollgestopft mit Koffern, Taschen und Kartons, so dass Mama nicht viel Platz hatte, um sich auszubreiten. Sie hatte Kopfhörer aufgesetzt und ihr MacBook auf den Schoß gelegt. Ich wusste, dass sie Minecraft spielte, auch wenn sie immer so tat, als ob sie gerade an irgendetwas arbeiten würde. Papa wollte, wie üblich, genau zwei Mal anhalten. Einmal um eine Pause einzulegen und das andere Mal, um zu tanken. Auf der Straße fuhren lange Reihen von LKWs die nach Ansicht unserer Politiker doch schon längst auf die Schiene gehörten aber eigentlich alles taten, um genau das zu verhindern. Papa war kein Freund langer Reisen, ich dagegen mochte lange Autofahrten. Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren, wählte eine Playlist und genoss die Fahrt.

Es wurde langsam dunkel und wie zu erwarten war, gerieten wir kurz hinter Leipzig in einen Stau. Das Navi hatte uns davor gewarnt und auch schon rechtzeitig eine alternative Strecke vorgeschlagen, aber aus irgendeinem Grund war Papa auf der Autobahn geblieben. Fast viereinhalb Stunden ging es also nur Stopp and Go, was mein Vater allerdings mit seiner üblichen Gelassenheit hinnahm was ich sehr erleichtert zur Kenntnis nehmen konnte. Denn die ganze Woche zuvor, besser gesagt seit dem Anruf von Großvater, war mein Vater ein völlig anderer Mensch gewesen. Ständig hatte er telefoniert, war gereizt und kaum anzusprechen. Doch kaum saßen wir im Auto, hatte er seine gewohnte Selbstsicherheit und Ruhe zurückgewonnen. Es schien so, also ob irgendeine Last von seinen Schultern genommen worden war.

Der Stau war von drei PKW ausgelöst worden, die ineinander gerast waren. Ich sah verschiedene Fahrzeuge der Feuerwehr und mehrere Einsatzwagen der Polizei, welche die Unfallstelle absicherten. Routiniert winkten die Beamten mit ihren Leuchtkellen den Verkehr an den verunfallten Fahrzeugen vorbei. Das blaue Blinken der Einsatzleuchten auf den Fahrzeugen, das Licht der Einsatzfahrzeuge und die reflektierende Schutzkleidung der Feuerwehrmänner übten eine eigenartige Faszination auf mich aus. Neugierig starrte ich aus dem Fenster und versuchte so viele Details wie möglich zu erhaschen. Doch schon wenige Meter nach der Unfallstelle konnte mein Vater wieder Gas geben und so entschwand die Szene aus meinem Blickfeld und ich glotzte wieder auf die langweilige Autobahn vor mir. Denn da es inzwischen Stockdunkel war, konnte ich auch nichts mehr von der Landschaft erkennen. Unser VW war zwar kein PS strotzender Bolide, aber dennoch konnte damit zügig gefahren werden, wenn man denn wollte. Und so wie es aussah, hatte es Papa eilig, denn an Stelle seiner üblichen 120 km/h, fuhr er heute fast 150. Eine Sensation für meinen übervorsichtigen und ständig auf Vernunft bauenden Vater. Die Fahrt verlief so in einem ungewohnten Abwechseln von Überholen und Spurwechsel. Während mein Vater offenbar seiner neuentdeckten Leidenschaft als Rennfahrer frönte, vertiefte ich mich in Fortnite auf meinem iPhone, während mir gleichzeitig Musik aus einer Playlist in den Schädel hämmerte. Als ich das nächste Mal Ausschau nach den Straßenschildern hielt, um mich zu orientieren, hatten wir Nürnberg bereits hinter uns gelassen und fuhren nun auf der Autobahn in Richtung Würzburg. Papa setzte gerade zum Überholen an, als der Laster den wir gerade überholen wollten, immer mehr auf die Standspur fuhr und dann auf einmal scharf nach rechts zog. Deutlich konnte man die Funken sprühen sehen, als er an der Leitplanke entlang schrammte. Der Fahrer bremste scharf, das ABS setzte ein, schließlich kam der LKW auf dem Standstreifen zum Stehen. Papa zog sofort nach rechts und hielt ebenfalls auf dem Standstreifen. Er schaltete die Warnblinkanlage ein und herrschte uns an, sitzen zu bleiben. Ich hörte, wie er im Kofferraum nach der Warnweste suchte und darüber schimpfte, dass diese wohl unter Bergen von Koffern und Taschen begraben war. Im Rückspiegel sah ich dann, wie er ohne die Weste zum havarierten Laster rannte.

Ein weiterer Laster hielt an, stand aber nun genau zwischen unserem Fahrzeug und dem verunfallten LKW. Die Tür des Führerhauses öffnete sich, der Fahrer stieg aus und hastete ebenfalls zum verunfallten LKW. Doch auf einmal sah ich meinen Vater wieder zu unserem Auto zurückrennen. Er riss die Tür auf, warf sich hinter das Steuer und fuhr los. Er schaffte es sogar die Reifen quietschen zu lassen und dass mit einem vollgeladenen Passat Kombi. Er hatte noch immer seine Jacke zugeknöpft und schnallte sich auch erst später während der Fahrt an. Das war nun gar nicht das normale Verhalten meines Vaters. Ich wollte ihn fragen was los war, sah ihn an und erschrak, denn mein Vater war kreidebleich. Ich meine damit, dass er wirklich total weiß im Gesicht war.

Meine Mutter bekam von all dem nichts mit, denn sie war schon vor Stunden eingeschlafen.

„Was war denn los“, fragte ich leise.

„Nichts“, meinte mein Vater nur, doch ich spürte, dass er log. Denn entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, beschleunigte er auf Höchstgeschwindigkeit und hielt noch nicht einmal für seine, an sich heilige, Kaffeepause an. An seinem halsbrecherischen Fahrstil änderte sich auch dann nichts, als wir die Autobahn verließen und auf einer Bundesstraße weiterrasten. Auch eine Stunde später, als der Morgen uns mit leichtem Nieselregen begrüßte, saß mein Vater noch immer verkrampft und mit völlig ausdruckslosem Gesicht hinter dem Steuer.

„Kannst Du mir sagen, warum du unbedingt einen Strafzettel kassieren möchtest“, hörte ich kurz darauf meine Mutter fragen.

Mein Vater reagierte nicht, er starrte einfach nach vorne und prügelte unser Auto auf der leeren Bundesstraße nach vorne.

„Schatz?“, hörte ich meine Mutter erneut. Sie nannte meinen Vater immer Schatz während er sie Sternchen nannte, und noch einmal etwas drängender „Schatz?“.

Es war als wachte mein Vater auf. Er schüttelte kurz den Kopf und reduzierte die Geschwindigkeit. „Alles klar“, antwortete er und warf meiner Mutter ein Lächeln über den Rückspiegel zu.

„Wir haben es bald geschafft“.

Mama blinzelte nach draußen. Wir durchfuhren gerade eines der vielen kleinen Dörfer die es in dieser landwirtschaftlich geprägten Gegend noch häufig gab. In der Dorfmitte stand eine Gaststätte - Mond oder Sonne oder Krug - ich weiß nicht mehr. Der Parkplatz neben der Gaststätte war voll besetzt. Erfahrene Berufskraftfahrer vermieden, wann immer möglich, die teuren Raststätten der Autobahnen und fuhren stattdessen lieber einen kleinen Umweg zu diesen gemütlichen Dorfgaststätten. Dort erwarteten die Fahrer blitzblanke Zimmer, gutes Essen und vor allem Ruhe. Ich wusste aus einer Doku, dass die Haupteinnahmequelle, sehr vieler Dorfgaststätten entlang der Autobahnen, die Berufskraftfahrer waren. Vielleicht gaben sich die Wirtsleute gerade deshalb sehr viel Mühe, ihre fahrende Kundschaft zufrieden zu stellen.

Ein Postauto, eines von diesen neuen E-Transportern, blockierte vor uns die Straße, die Warnblinkanlage war eingeschaltete. Ich sah, wie sich die Hände meines Vaters plötzlich um das Lenkrad verkrallten. So fest, dass die Knöchel deutlich hervortraten. Er beschleunigte unsere überladene Mühle weit über die erlaubten Fünfzig und gerade als er das Postfahrzeug überholte, öffnete sich plötzlich die Fahrertür des Postautos und ein Bote sprang auf die Straße. Ein dickes Bündel Zeitungen im Arm, schaute er uns kopfschüttelnde hinterher bevor er gemütlich über die Straße schlenderte, wo er das Bündel in einem Wartehäuschen ablegte. Danach ging er, die Hände in den Taschen gesteckt, wieder zu seinem Fahrzeug zurück. Ich blickte in den Seitenspiegel und wollte den Boten weiter beobachten. Ich sah, wie er vor der Fahrertür stand und diese wohl gerade öffnen wollte. Doch dann riss ihn irgendetwas von den Beinen. In diesem Augenblick fuhren wir um eine Kurve und ich verlor das Geschehen aus den Augen. Na gut, ich hatte kaum geschlafen, lediglich ein wenig gedöst und war noch müde. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Aber dennoch blieb mir diese unheimliche Szene noch eine Weile in Erinnerung.

Inzwischen fuhren wir auf einer der schmaleren Landstraßen Baden-Württembergs, die früher die kleinen Ortschaften miteinander verbunden hatten, bevor sie durch die breiten Umgehungs- und Bundesstraßen überflüssig geworden waren. Ab und zu tauchte ein anderes Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn auf, doch insgesamt war kaum etwas los an diesem verregneten Samstagmorgen, so dass ich mich vor lauter Langeweile mit ein paar Videos die ich aus YouTube streamen konnte, ablenkte. Ab und zu schaute ich zu meinem Vater, der aber noch immer einen ziemlich angespannten Eindruck auf mich machte. Beim besten Willen, ich konnte mir einfach keinen Reim auf sein Verhalten machen. So verkrampft und verbissen hinter dem Steuer sitzend, hatte ich ihn noch nie erlebt. Selbst die kompliziertesten Aufgaben, die er in seinen Programmen realisieren musste, brachten ihn nicht aus der Ruhe. Im Gegenteil, dann sah man ihn lächelnd und vor allem vollkommen tiefenentspannt vor dem Computer sitzen und auf der Tastatur rumhämmern. So zumindest der äußere Eindruck. Natürlich trog der äußere Schein, wie so oft, denn die Wahrheit war, dass mein Vater eben nur so aussah, wenn er sich vollkommen auf eine Aufgabe konzentrierte. Selbst eine Bombe, die neben ihm hochgegangen wäre, hätte ihn nicht dazu gebracht, auch nur für eine Sekunde vom Bildschirm aufzuschauen.

Also, wie gesagt, es war total untypisch für ihn, wie er jetzt so angespannt vor dem Lenkrad saß. Mir kamen Zweifel darüber, ob ich meinen Vater gerade richtig beurteilte. Denn in der letzten Zeit war ich ja kaum noch mit ihm zusammen gewesen. Mein Vater musste arbeiten, war also in seinem Büro, auf Reisen zu seinen Auftraggebern, bei einem seiner Vorträge oder abendlichen Veranstaltungen an der Uni. Nee, ich will jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich von meinem Vater entfremdet hätte - oder er sich von mir. Das war bestimmt nicht der Fall. Aber es war schon so, dass ich selbst immer mehr Gelegenheiten ausließ, an welchen ich auch etwas mit meinem Vater hätte unternehmen können. Er war eben nur noch mein Vater. Vielleicht war die verdammte Hormonumstellung in meinem Körper damals ursächlich dafür, dass ich so tickte wie ich eben getickt hatte. Pubertierende Jungs sind die Pest - Mädchen die Hölle, stellte einmal mein Klassenlehrer seufzend fest. Muss wohl was dran sein.

Nach langer Zeit, sprach mich mein Vater plötzlich an.

"Frank, kannst du bitte das Gatter öffnen?"

Die Stimme meines Vaters riss mich aus meinen Gedanken. Gelangweilt schaute ich aus dem Auto. Ohne dass ich es mitbekommen hätte, waren wir von der geteerten Landstraße auf einen unbefestigten Feldweg abgebogen. Nun standen wir vor einem Holzgatter, welches von Hand geöffnet werden musste. Die beiden Torflügel des Gatters wurden nur durch eine dicke Seilschlinge zugehalten. Ich befreite die Torflügel von der Fesselung, und ließ Papa mit unserem Kombi durchfahren. Da ein kleines Schild daran erinnerte, dass man das Tor ständig geschlossen halten sollte, verband ich anschließend wieder die beiden Torflügel miteinander.

Es hatte aufgehört zu nieseln. Bevor ich wieder in das Auto einstieg schaute ich mich um. Dampf stieg von den Wiesen auf, es roch kalt und frisch nach, nun ja, irgendwie nach Natur. Es war hier so eine ganz andere Luft, als in Berlin. Nein, damit meine ich nicht, dass man in Berlin ständig mit einem Mundschutz herumlaufen musste - bei weitem nicht, denn schließlich war die Berliner Luft weltbekannt. Was ich meine war diese Mischung aus erdigen, umgepflügten Feldern, Tannenwälder und dicht bewachsenen, dampfenden Wiesen. Hätte ich damals einen Blick dafür gehabt, hätte ich festgestellt, dass dieser Augenblick, als die Sonne vor dem Hintergrund eines dicht bewaldeten Tals den morgendlichen Dunst aufzulösen begann, unvergleichlich schön war. So stieg ich lediglich wieder in unser Auto, um neugierig aus dem Fenster zu schauen. Noch drei oder vier Male musste ich aussteigen, um irgendwelche Holzgatter oder in einem Fall lediglich eine einfache Holzschranke zu öffnen, Papa durchfahren zu lassen und danach die Sperren wieder zu schließen. Dann endlich, kurz bevor es einen lang ansteigenden Hügel hochging, standen wir vor einem großen Tor, welches aus geschmiedeten Eisenstangen zu bestehen schien und dass in einer hohen Bruchsteinmauer verankert war. Das Tor wirkte hier fehl am Platz, da die entsprechende Mauer fehlte. Stattdessen schlossen sich an den beiden bruchsteinernen Torpfeilern eine dichte, sehr hohe Hecke an. Dieses Tor wies ein stabiles Schloss auf, war jedoch nicht abgeschlossen. Ich achtete darauf, dass die beiden Torflügel, nachdem ich sie geöffnet hatte, jeweils in eine Aufnahme arretierten, so dass sie nicht zurückfallen konnten, um wohlmöglich Papas Auto zu demolieren. Als ich die schmiedeeisernen Tore wieder schloss, bemerkte ich, wie schwer diese waren. Wow, das war richtiger Stahl, nicht nur so verzierte Stangen die innen hohl waren und nur äußerlich einen stabilen Eindruck erwecken sollten.