Kapitel 2: Zum Lehrer berufen – ein persönlicher Erfahrungsbericht

 

Das vorhergehende Kapitel wollte aufzeigen, dass der Lehrerberuf auch in einer modernen, technisierten, digitalisierten und kompetenzorientierten Schullandschaft seine Bedeutung und Rollenzuschreibung nicht verloren hat – im Gegenteil. Man kann neue Schulstrukturen schaffen, moderne Medien einsetzen, die Unterrichtsräume gut ausstatten und die Schulleitung effizienter gestalten. Ohne den Lehrer geht aber gar nichts, denn besonders für die Schüler in der Pubertät, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung hin zum Erwachsenwerden, wird neben einem kompetenten Fachmann vor allem ein Mensch gebraucht, der mitfühlen, empfinden, steuern, sich abgrenzen, motivieren, anregen und helfen kann. Der Lehrer als zugewandter Mensch, Pädagoge und Mentor wird auch in Zukunft bedeutsam sein.

 

Auf die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler kommt es an

 

Um die Diskussion bezüglich des Lehrerberufs versachlichen zu können, müssen grundsätzlich drei Ebenen unterschieden werden, die für einen Pädagogen von entscheidender Bedeutung sind und auf denen er wirkt:

 

 

Gerade diese letzte Ebene, deren Bedeutung für die Entwicklung der Schüler gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, kann kaum gemessen, wenig evaluiert, gar nicht digitalisiert und nur sehr schlecht von Schulleitungen bewertet werden. Die Beziehungsebene zwischen Lehrer und Schülern wird auch in Zukunft „analog“ bleiben. Dies bedeutet aber nicht, dass sie dann unwichtig geworden wäre. Ganz im Gegenteil. Dieses Buch möchte sich genau dieser Seite widmen, die immer mehr verloren zu gehen scheint: der Beziehungs- und Vertrauensebene. Sie ist mir persönlich ein echtes Herzensanliegen. Daher trägt dieses Buch den Untertitel „Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“.

Wenn Jugendliche sich während ihrer Schulzeit im Pubertätsprozess vom Kind zum Erwachsenen entwickeln wollen, wenn ihre Initiation gut verlaufen und erfolgreich sein soll, dann muss zu Recht vom Lehrer gefordert werden, dass auch er selbst sich seiner Persönlichkeitsentwicklung immer wieder stellt. Darum möchte ich dieses zweite Kapitel meinem eigenen Werdegang, sowie einigen wesentlichen persönlichen Erfahrungen in diesem Beruf widmen, der für mich im Laufe der Jahre immer mehr zu einer echten Berufung geworden ist.

Obwohl mir vollkommen bewusst ist, dass persönliche Erlebnisse nicht objektivierbar und nicht eins zu eins auf andere Lehrkräfte oder Lernsituationen übertragbar sind, bin ich von der Überzeugung geleitet, dass im Einzelnen, im Exemplarischen, zugleich viel vom Ganzen stecken kann. Daher glaube ich, dass es in diesem Buch über Schule, Lehrer und Schüler Sinn macht, ganz persönliche und für mich wesentliche Stationen auf meinem eigenen Weg zum Lehrerberuf und auch einige außergewöhnliche, authentische Situationen als Pädagoge im Klassenzimmer zu beschreiben und zu reflektieren.

Welche Einstellung zum Beruf und zu den Schülern, welche Fähigkeiten und Kompetenzen des Lehrers sind notwendig, um einen guten Unterricht bieten zu können? Worauf kommt es beim Unterrichten wirklich an? Am Exemplarischen kann sichtbar werden, worum es beim Unterrichten in der Tiefe geht. Die Essenzen meiner Erfahrungen sollen gerade jungen Lehrern Mut machen. Daher werde ich versuchen, all die persönlichen Erfahrungen und konkreten Unterrichtssituationen immer wieder dem Ganzen zuzuordnen: Schule – quo vadis? Lehrer – quo vadis? Schüler – quo vadis?

 

 

(1) Warum ich Lehrer wurde

 

Schüler auf dem Land

 

Geboren bin ich 1954 in einem kleinen Marktflecken in Ostbayern mit damals ca. 800 Einwohnern. Mein Vater hatte sich zum Ziel gesetzt, praktisch aus dem Nichts einen großen Bauernhof zu schaffen und damit den lange gehegten Wunsch einer Reihe von Vorfahren zu erfüllen. Mein Leben schien damit vorgezeichnet zu sein: Als Erstgeborener sollte ich einmal diesen Hof übernehmen, der aus Sicht meines Vaters einen nicht zu überbietenden archaischen Wert darstellte. Mit Feld und Vieh war man jemand, man wurde im Dorf anerkannt, man hatte eine vermeintlich sichere Existenz, man konnte zu Wohlstand und Ansehen kommen.

Daher fuhr mir der Schreck ziemlich in die Glieder, als mich mein Volksschullehrer an einem Vormittag im Mai 1965 unvermittelt fragte, ob ich im kommenden Schuljahr auf das Gymnasium gehen wolle. Denn der Anmeldetermin laufe bereits in drei Tagen ab. Gymnasium? Das nächste lag 31 Kilometer entfernt in der Kreisstadt des Nachbarlandkreises – eine völlig fremde und ferne Welt für mich, der noch nie wirklich aus seinem Dorf hinausgekommen war. Nie hatte ich auch nur im Traum daran gedacht, auf eine höhere Schule zu gehen. Ich wollte doch Landwirt werden wie mein Vater. Wieso sollte ich eine höhere Schule besuchen? Ich war vollkommen mit dem Bauer-Sein identifiziert. Und ich wollte natürlich immer zu Hause bleiben – bei Hof, Vieh und Äckern.

Da ich die Frage des Lehrers nicht beantworten konnte, schickte der mich sogleich während des Unterrichts nach Hause, um meinen Vater zu fragen. Dieser hatte, wie ich erst jetzt erfuhr, einige Tage zuvor bei einem zufälligen Treffen mit meinem Lehrer auf der Straße den Wunsch geäußert, mich aufs Gymnasium zu schicken. Davon hatte ich aber selbst als der eigentlich Betroffene nichts mitbekommen. Mein Vater hatte mir nichts von seinem Ansinnen gesagt.

Zufällig war mein Vater zu Hause. Er fragte mich Elfjährigen, was ich denn in drei Jahren nach der Schulentlassung beruflich werden wolle – Maurer, Metzger, Bäcker, Zimmermann oder Schreiner?55 Ich war entsetzt. Wieso sollte ich solch einen Handwerksberuf erlernen, wenn ich doch der zukünftige Hoferbe sein würde? Da erst rückte mein Vater mit seiner Wahrheit heraus, die mir Angst machte: Er fühle sich noch viel zu jung und vital und wolle den Hof möglichst lange nicht an einen Nachfolger übergeben. Daher habe er vor, ihn einmal an meinen um fast vier Jahre jüngeren Bruder zu vererben. Damit war ich nach den Plänen meines Vaters aus der Erblinie des Hofes bereits ausgeschieden, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, hineinzukommen. Vehement lehnte ich alle Handwerksberufe ab, weil ich mich nicht als zukünftigen Hoferbe so einfach „rauskegeln“ lassen wollte. Daraufhin meinte mein Vater: „Ja wenn du keinen solchen Handwerksberuf ergreifen willst, kannst du ja gleich aufs Gymnasium gehen.“

Mit dieser Botschaft im Gepäck fuhr ich wieder zur Schule zurück. Daraufhin meldete mich der Lehrer als einzigen meiner Klasse am benachbarten Landkreis-Gymnasium an und vier Wochen später saß ich mit vielen anderen, mir völlig fremden Jungen und Mädchen, in der Aufnahmeprüfung. Drei Tage lang mussten wir jungen Kandidaten die schriftlichen Tests in Mathematik, Deutsch und Sachkunde bestehen und wurden danach auch noch mündlich auf Herz und Nieren geprüft.

 

Ich beherrschte nur einen bayerischen Dialekt

 

Ich schaffte die Prüfungen und konnte im September 1965 mit der höheren Schule beginnen. Neun Jahre lang war ich nun täglich 62 Kilometer auf der Strecke – je 31 Kilometer hin und zurück mit Fahrrad, Bummelzug und zu Fuß. In meiner Klasse waren zunächst 44 Kinder. Davon waren zwei Drittel Fahrschüler wie ich, nur ein Drittel der Klassenkameraden stammten aus dem Schulort selbst. Diese fühlten sich sicherer, einige von ihnen waren sogar richtig arrogant und begannen uns Jungen aus den entfernteren Bauerndörfern zu mobben. Zudem musste ich feststellen, dass mich der Deutschlehrer beständig kritisierte, weil ich nur Dialekt sprechen konnte – Oberpfälzer Dialekt.56 Der Lehrer, der mich in der fünften Volksschulklasse in meinem Dorf unterrichtet hatte, hatte viel Wert auf Mathematik und Sachkunde, weniger auf das Schriftdeutsch gelegt. Daher hatten wir nie Schriftdeutsch zu sprechen und auch nicht wirklich zu schreiben gelernt. Das rächte sich jetzt furchtbar am Gymnasium und da begann meine große Not...

Mittwoch, 1. Dezember 1965. Elternsprechtag. Wir hatten schulfrei. Mein Vater hatte sich diesen Tag Zeit genommen, um die Lehrer der Kernfächer zu besuchen. Der Mathematiklehrer berichtete ihm, dass ich in seinem Fach gut mitarbeiten würde. Dann kam mein Vater zum Deutschlehrer. Dieser bat meinen Vater sofort eindringlich, mich umgehend, am besten noch heute, wieder vom Gymnasium zu nehmen, da ich keine Chance hätte. Als Beweis legte der Lehrer meinem Vater die soeben korrigierte erste Deutschschulaufgabe vor – einen Aufsatz, genauer gesagt einen Erlebnisbericht. Darin gab es auf den vier kleinen Seiten keine einzige Zeile, in der nicht mehrere Wörter rot angestrichen waren. 40 (!) Rechtschreibfehler und zusätzlich 20 (!) sogenannte „Ausdrucksfehler“ wies meine Arbeit auf.

Nach diesen Ausführungen war mein Vater ziemlich betroffen und ich, der während des Besuchs beim Deutschlehrer vor der Türe gewartet hatte, war richtig entsetzt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Denn mutig war ich das Thema „Ein unvergessliches Erlebnis“ angegangen und hatte voll Freude und Spontanität von den Erlebnissen bei der aufregenden Kartoffelernte mit dem Bulldog, dem neuesten Kartoffelroder und all den Taglöhnern berichtet, die kürzlich bei uns gearbeitet hatten. Dabei hatte ich so geschrieben, wie ich die Wörter und Ausdrücke eben von meinem Dialekt her im Ohr hatte – der einzigen mir damals bekannten Sprache. Hier ein Beispiel: „Da die Erdäpfel zeidi waren, wurden sie mit dem Erdäpfelroder aus dem Boden geholt“. Mir waren bis dahin die Wörter „reif“ statt „zeitig“ („zeidi“) und „Kartoffel“ statt „Erdäpfel“ einfach völlig unbekannt. Also hatte der Lehrer diese Wörter als „Ausdrucksfehler“ angestrichen. Für meinen Vater und vor allem für mich brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen. Große Unsicherheit und Angst fuhren in mein Gemüt. Sollte denn das geforderte Hoch- oder Schriftdeutsch etwa eine ganz andere Sprache als meine Muttersprache sein, in der ich mich doch bis jetzt sehr sicher gefühlt hatte?

Mein Vater wollte mich daraufhin gleich beim Direktor von der Schule abmelden. Der Vollständigkeit halber wollte er aber vorher noch zum Englischlehrer gehen. Vielleicht konnte der etwas Besseres über mich berichten – einfach um den Gesamteindruck an meinem letzten Schultag zumindest moralisch ein bisschen aufbessern zu können. Der Englischlehrer war jedoch an diesem Tage krank. Der Schuldirektor selbst vertrat den Englischlehrer und hatte auch die aktuelle Note der vor kurzem geschriebenen und bereits korrigierten ersten Englisch-Schulaufgabe vor sich liegen. Da ich dafür sehr viel gelernt hatte, hatte ich die Note Eins bekommen. Diese Note und der Umstand, dass der Englischlehrer fehlte, retteten an diesem Tag meine Schulkarriere.

Denn der Direktor hatte ein großes Herz für Landschüler wie mich, die damals eben oft nur Dialekt sprechen konnten. Aufgrund der guten Englischnote erkannte er sofort das Potential, das wahrscheinlich in mir steckte. Er setzte sich vehement für mein Bleiben an der Schule ein und konnte meinen Vater davon überzeugen, mich trotz der schlechten Deutschnote hier zu behalten. Zudem versprach er, mit dem Deutschlehrer zu reden. Da ich in allen folgenden fünf Klassenarbeiten in Deutsch jeweils „Ausreichend“ mit einem beinahe unendlich langen Minus-Balken hinter der Note Vier bekam, obwohl fast genau so viel wie in der ersten Arbeit rot angestrichen war, vermute ich heute, dass der Deutschlehrer nicht frei in seiner Notengebung war: Wahrscheinlich gegen seinen Willen und gegen seine ehrliche und tiefe Überzeugung durfte er mir „Land-Bub“ aufgrund der ausdrücklichen Vorgabe des Direktors während des ganzen ersten Schuljahres offensichtlich höchstens die Note Vier verpassen. Ich glaube, ich hätte damals tatsächlich in allen Deutsch-Schulaufgaben jeweils die Note sechs verdient gehabt.

In der folgenden Klasse bekam ich einen anderen Deutschlehrer und meine Noten in diesem Fach wurden – auch ohne die vermutete Intervention durch die Schulleitung – deutlich besser. Dennoch wusste ich noch nicht wirklich, wie ich meine Deutschkenntnisse verbessern könnte. Vor allem fühlte ich mich völlig allein mit dem Problem, wie ich – ausgehend von der Muttersprache „Oberpfälzer Dialekt“ – das Hochdeutsch oder zumindest das Schriftdeutsch völlig neu erlernen sollte. In der siebten Klasse musste ich mir daher endlich eingestehen, dass ich neben Englisch und Latein auch noch Deutsch als schwerste dritte Fremdsprache zu bewältigen hatte, die völlig von meiner Muttersprache „Oberpfälzisch“ abwich. Zu Hause konnte ich keine Hilfe bekommen, da meine Eltern ausschließlich Dialekt sprachen. Mit meinen besten Freunden redete ich ebenfalls nur Dialekt.

Als ich zu Beginn der siebten Klasse in einer Klassenarbeit in Erdkunde nur Note Drei bekommen hatte, packte mich plötzlich die Wut. Ich wollte es allen zeigen, was in mir steckte – den Lehrern, meinem Vater und vor allem den arroganten Stadtkindern in meiner Klasse. Ich lernte nun wie ein Verrückter und bekam dafür bald die Rechnung serviert: überall gute Noten, außer im Fach Deutsch. Als einziger in der Klasse begann ich daher, Deutschregeln aus einem Buch zu pauken, das mir mein Vater beschafft hatte. So wurden die Rechtschreibfehler und die sogenannten Ausdrucksfehler immer weniger. Dann bekamen wir in der 11. Klasse einen neuen Deutsch- und Geschichtslehrer. Er wurde mein großes Vorbild. Von ihm sog ich alles auf, was ich erfahren konnte. Die Konsequenzen ließ nicht lange auf sich warten.

Denn als ich bald darauf in der ersten Deutsch-Schulaufgabe, einem Besinnungsaufsatz, zwölf große Seiten geschrieben und dafür als einziger die Note Eins in der Klasse erzielt hatte, wollte ich damit sofort zu dem Deutschlehrer laufen, der mich sechs Jahre zuvor fast von der Schule geworfen hätte, und ihm diese Deutsch-Arbeit zeigen. Leider musste ich feststellen, dass dieser mittlerweile als Auslandslehrer in der Türkei tätig war. Ich hätte ihm so gerne mit Wut und Genugtuung meinen Deutschaufsatz unter die Nase gehalten. Spätestens jetzt hatte ich ein Schultrauma überwunden, das mich all die Jahre nicht losgelassen hatte. Nun hatte ich den sichtbaren Beweis erbracht, dass ich auch das Schriftdeutsch gut beherrschte.

 

Rückblick

 

Wenn ich heute auf meine eigene Schulzeit zurückblicke, kann ich feststellen, dass neben meinem Vater einige Lehrer mich durch ihr Verhalten in unterschiedlicher Weise beeinflussten und so äußerst wichtig für meinen weiteren Weg waren:

 

 

Es dauerte jedoch über 40 Jahre, bis mir bewusst wurde, dass gerade dieser Pädagoge es war, der mir mein Schriftdeutsch-Trauma vollkommen genommen, meine Leistungen und Fähigkeiten anerkannt, mich letztlich in meiner Persönlichkeitsentwicklung bestärkt und mich geistig am meisten beeinflusst und gefördert hatte.

Warum aber erzähle ich diese persönliche, alte Geschichte überhaupt, die nun fast 50 Jahre zurückliegt? Heute gibt es selbst im dialektgefärbten Bayern kaum noch Schüler, die das Schriftdeutsch nicht beherrschen würden. Oder doch? Meiner Meinung nach gibt es eine sehr aktuelle Parallele zu meiner damaligen Situation von 1965: Auch am Gymnasium sind immer mehr Schüler mit Migrationshintergrund anzutreffen. Sie haben heute mit der deutschen Sprache oft ähnliche Schwierigkeiten wie ich damals als dialektsprechender Junge vom Land. Dieses Argument bekommt durch den enormen Zustrom von Flüchtlingen im Jahr 2015, die in unsere Gesellschaft integriert werden müssen, noch eine zusätzliche, sehr aktuelle Note und Brisanz.57 Und die Lehrer und Schulleitungen haben die Aufgabe zu erkennen, ob solche Schüler bei entsprechender individueller Förderung genügend Potential für eine gymnasiale Bildung haben, selbst wenn sie anfangs noch in großen Sprachschwierigkeiten stecken sollten. Hier sind Weitsicht und Fingerspitzengefühl von uns Lehrern gefragt.

Zudem haben mehrere Pisa-Studien ab 2001 ergeben, dass in Deutschland bis zu 25 (!) Prozent der Schüler deutliche Rechtschreibschwierigkeiten und Leseschwächen haben. Meine damaligen Probleme heute nur in neuer Form? Sprachschwierigkeiten nicht mehr bei Landschülern, sondern bei Kindern mit Migrationshintergrund? Und wie hängen diese Schwierigkeiten mit den sozialen Verhältnissen zusammen, aus denen die Schüler stammen? Ich jedenfalls hoffe, dass ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen immer ein offenes Herz für lernbereite Schüler habe, auch wenn sie zunächst Schwierigkeiten haben sollten. Liegt nicht gerade darin eine zentrale Aufgabe für uns Pädagogen?

 

Entscheidung für das Lehramtsstudium

 

Doch wie ging meine eigene Geschichte damals weiter? Mit guten Ergebnissen absolvierte ich 1974 mein Abitur und wurde gleich danach zu den Sanitätern bei der Bundeswehr eingezogen. Dadurch kam ich zum ersten Mal von zu Hause weg und machte an verschiedenen Standorten der Bundeswehr wichtige Schritte zu einem selbständigen Leben: in Regensburg, Amberg und in München. Dennoch ließ mich während all der Monate bei der Bundeswehr eine wichtige Frage nicht los. Da mein jüngerer Bruder studieren wollte, mein jüngster Bruder aber erst sechs Jahre alt war und soeben in die Grundschule kam, wusste mein Vater, dass er sich verkalkuliert hatte. Ich, der im Herzen immer „der“ Bauer gewesen war, war drauf und dran, von zu Hause wegzugehen und zu studieren. Durch sein eigenwilliges Manöver im Jahre 1965, mich gegen meinen Willen aufs Gymnasium zu schicken, hatte er womöglich einen potentiellen Hoferben verloren.

Daher probierte es mein Vater an den Wochenenden während meiner Bundeswehrzeit immer wieder, mich als Hoferben zurückzugewinnen. Er wollte es mir schmackhaft machen, jetzt doch bei ihm in den Betrieb einzusteigen. Denn er hatte hochfliegende Zukunftspläne. Er wollte weitere Äcker kaufen und den Hof vergrößern. Dazu brauchte er jedoch unbedingt meine Hilfe und zwar sofort.

Dieses Ansinnen meines Vaters erzeugte in mir große Schuldgefühle. Sollte ich also doch Bauer werden, was mein ursprüngliches Ziel war? Aber wozu dann die neunjährige Büffelei am Gymnasium? Noch zehn Jahre zuvor hätte ich mir ja gar nichts anderes vorstellen können. Zudem wusste ich noch nicht, was ich werden sollte, wenn ich den Bauernhof ausschlug. Ich kannte ja nur einen weiteren Beruf aus eigener Anschauung: den Lehrerberuf als echte und realistische Alternative. Diese Tätigkeit zog mich auch deshalb an, weil ich ja neun Jahre lang in meiner eigenen Klasse hautnah viele verschiedene Lehrer erlebt hatte. Einige von ihnen, besonders der Deutschlehrer der Oberstufe, hatten mich durch ihre Fachkenntnisse, ihr Engagement und durch ihre Integrität völlig überzeugt. Das Berufsbild „Gymnasiallehrer“ wurde mir so immer mehr vertraut und stellte nun eine wirkliche Alternative zum Berufsbild des Landwirts dar. Welche Fächer aber sollte ich studieren? Fragen über Fragen.

Ich redete mit vielen Bundeswehrkameraden. Was sollte ich nach Ende des Wehrdienstes tun? Durfte ich denn überhaupt studieren? Oder hatte ich als Erstgeborener nicht eine Art von uralter „archaischer Pflicht“, den von Eltern und Großeltern als „heilig“ deklarierten Bauernhof doch zu übernehmen, obwohl ich mittlerweile sehr viel Freude an geistigem Wissen gewonnen und ein gutes Abitur hingelegt hatte.

Ein zehnwöchiger Sanitätskurs während der Bundeswehrzeit in München gab dann den Ausschlag. Die wunderbare Großstadt München mit ihrem pulsierenden internationalen Leben, neue Freunde, die ich dort kennenlernte, sowie einige Ausflüge in die traumhafte Landschaft der Alpen und der Oberbayerischen Seen brachten mich „Ländler“ in eine völlig andere, „höhere Schwingung“. Bei einem der wenigen Wochenendbesuche zu Hause während dieses Kurses fragte mich mein Vater erneut, was ich nach Ende der Bundeswehrzeit zu tun gedenke und ob ich ihm nicht doch auf dem Bauernhof helfen wolle.

Da antwortete ich ihm, für mich selbst überraschend, Folgendes: „Lieber Vater, ich möchte mich lieber mit Menschen beschäftigen und nicht mit Feld und Vieh!“ Dieser Satz war wie ein Donnerschlag für meinen Vater und auch für mich. Ich weiß bis heute nicht, woher diese Worte kamen. Aus meinem bewussten Verstand, der beständig im Grübeln und Abwägen war, kamen sie jedenfalls nicht. Sie stiegen offensichtlich aus einer bis dahin nicht geahnten, mir unbewussten tieferen Seelenschicht hoch und führten zur Entscheidung: Im November 1975 begann ich mein Studium in Regensburg für das Lehramt an Gymnasien, genauer gesagt für die Fächer Physik und Katholische Religionslehre.

 

Reflexion

 

Wieder können Sie, lieber Leser, zu Recht fragen, warum ich diese alte Geschichte von mir denn überhaupt erzähle. Sie stammt doch aus einer ganz anderen Zeit. Das stimmt sicher. Aber meine damalige Lage nach dem Abitur und während der Bundeswehrzeit kann durchaus exemplarisch auch für die Situation heutiger Abiturienten gelten: Viele von ihnen wissen nicht, was sie nach ihrem Abitur machen sollen. Und wenn sie dennoch gleich ein Studium nach dem Abitur beginnen, brechen viele von ihnen es wieder ab, weil sie sich eingestehen müssen, dass sie sich in der geschützten Atmosphäre der Schule alles anders vorgestellt hatten. Die Abbruch-Quote in den sogenannten MINT-Fächern an der Uni liegt sogar bei etwa 50 Prozent!58

Die bewusste Entscheidung für eine Ausbildung oder für ein Studium kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich beneide die jungen Leute nicht, die bisweilen unter einem großen Druck stehen, die richtige Entscheidung über ihren zukünftigen Beruf treffen zu müssen, den sie oft noch gar nicht kennen oder von dem sie höchstens vage Vorstellungen haben. Erst kürzlich habe ich einen ehemaligen Abiturienten getroffen, der seit fünf (!) Jahren rumhängt, mehrere Studiengänge angefangen und wieder abgebrochen hat und noch immer nicht weiß, was er werden will. Darum werde ich nicht müde zu betonen, dass man als junger Mensch zuerst wissen muss, wer man ist, um dann eine tragfähige Entscheidung darüber treffen zu können, was man werden oder beruflich machen will. Hier sind wir beim Thema „Initiation“ angelangt, das einen Schwerpunkt in diesem Buch darstellen wird.59

Doch nochmals kurz zurück zu meiner damaligen Situation als junger Abiturient. Die 15-monatige Bundeswehrzeit war für mich wie ein Moratorium. Während dieser Zeit konnte und musste ich nachdenken, viele Aspekte in meine Überlegungen einbeziehen und zuerst wichtige Erfahrungen machen. Dann aber kam eine Entscheidung ganz aus meinem Inneren, die sich später als tief fundiert herausstellte. Vordergründig wollte ich damals Lehrer werden, weil ich dem engen „Arbeitsreich“ meines Vaters entkommen wollte. Gleichzeitig war mir geistiges Wissen während der eigenen Gymnasialzeit viel wichtiger geworden als die Arbeit als Landwirt. Vor allem in dem Deutschlehrer in der Oberstufe hatte ich ein mit meinem Vater konkurrierendes Vorbild erhalten. Außerdem war ich sehr neugierig auf meine beiden Fächer, die ich für das Lehramtsstudium gewählt hatte: Physik und Religion – eine herausfordernde und zugleich höchst interessante Kombination.

In der Tiefe ging es bei dem ganzen damaligen Konflikt für mich jedoch noch um eine andere Frage: Zwei wirklich fundamentale und archaische Werte konkurrierten in mir miteinander: Hoferbe und Landwirt zu werden und damit eine lang gehegte Sehnsucht in meinem Familiensystem zu erfüllen; oder als Pädagoge so etwas wie ein „geistiger Bauer“ zu werden, der Wissen und Werte sät, Jugendliche begeistert und sie auf ihrem Weg durch die Pubertät und hin zum Erwachsensein begleitet. Über ein Jahr lang kämpfte „es“ in mir, ich wurde von Schuldgefühlen gequält, die mich an die Scholle binden und mich nicht in die neue, unbekannte Welt des Wissens und der Pädagogik ziehen lassen wollten.

Dann setzte sich offensichtlich die stärkere Stimme in mir durch und ich begann mit dem Studium.

Unterstützung bekam ich von meinen Eltern nicht mehr. Jetzt war ich mir selbst überlassen. Ich musste meiner eigenen Kraft vertrauen, das Studium zu schaffen und danach eine Stelle als Lehrer zu bekommen – eine wirklich jahrelange existentielle Herausforderung für mich. Auch für meine damalige Situation gibt es heute genügend aktuelle Parallelen:

 

 

 

Kapitel 4: Das Lebensrad – Grundlage einer integrativen Pädagogik

 

(1) Lineares Denken und zyklisches Denken

 

Im heutigen Bildungswesen läuft etwas grundsätzlich falsch. Ein Hauptgrund dafür liegt in der Globalisierung und Digitalisierung und in der damit verbundenen erhöhten Geschwindigkeit von Informations- und Kommunikationsabläufen. Sehr leicht wird dabei geglaubt, dass etwa die Verwendung einer neuen digitalen Unterrichtstechnik allein schon eine bessere Bildung bringen würde. Das Digitale ist verführerisch. Aber es ist ohne Herz und führt zu einer Überbetonung des Rationalen. Das Digitale ist eine linkshirnige Angelegenheit und hat nur das Technische, Wirtschaftliche, Machbare im Sinn. Es fördert einseitig das lineare Denken.

Echte Bildung bedeutet viel mehr. Sie muss auch rechtshirnige Aspekte mit einbeziehen: das Künstlerische, Poetische, Spirituelle, das Intuitive, Kreative, Magische. Bildung sollte immer einen Wert an sich haben und nicht nur einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterliegen. Bei der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen, die ja Teil des Bildungsauftrags ist, sollten immer beide Seiten berücksichtigt werden – das Verstandesdenken und die Herzensbildung.

Eine nur mehr vom Digitalen und vom globalisierten Wettbewerb dominierte lineare Weltsicht wie die unsrige ist vergleichbar mit dem Auf und Ab eines Aktienkurses: eine Zickzack-Bewegung nach dem Motto „immer schneller, höher, wirtschaftlicher“. Dieser Ansatz und diese Einstellung haben unsere Welt an den Rand des Abgrunds gebracht: Sie führen zu einem irreversiblen Ressourcenverbrauch was Rohstoffe, Wasser und Böden betrifft; sie belasten das Weltklima; und sie fördern das Ego-Denken und kreieren kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen es um Ressourcen, Kontrolle und um immer mehr Macht und Einfluss geht.

Leider hat diese Einstellung nicht vor dem Schulbereich Halt gemacht. Seit dem Pisa-Schock zu Beginn dieses Jahrtausends möchte man zunehmend digitales, lineares und wirtschaftliches Denken auf die Schule übertragen und versucht, die immer neuesten technischen Erkenntnisse sofort in die Methodik und in die Ausstattung der Schulen einzubringen. Die Welt im Allgemeinen und die Schulbildung im Besonderen brauchen jedoch beides – die technische Entwicklung, die vor allem eine digitale geworden ist, und eine Bewahrung von bleibenden Werten und Erkenntnissen, die für unser Menschsein unverzichtbar sind. Dazu gehört auch die Bewahrung unserer Schöpfung. Dies muss sich in der Bildungsdiskussion widerspiegeln. Es geht also gerade auch in der Bildung um den Gedanken der Nachhaltigkeit. Das „Mega-Thema Bildung“ bedarf zudem schnellstens einer kulturellen, pädagogischen und philosophischen Unterfütterung, um nicht einseitig auf eine rein wirtschaftliche Ebene abzugleiten.

Dafür ist aber ein nur linearer Ansatz als Modell für eine fundierte Pädagogik unbrauchbar. Unsere Schüler haben es verdient, dass Sie eine Bildung erhalten können, die das Rationale ebenso fördert wie das Emotionale, den Verstand ebenso wie das Herz, das Mathematische und Physikalische ebenso wie das Poetische, Philosophische und Religiöse. Die Jugendlichen sollten genügend Zeit haben, sich innerhalb einer Allgemeinbildung orientieren und ihren Stärken und Neigungen nachgehen zu können. Eine integrative Pädagogik, die all diese Aspekte berücksichtigen und zugleich den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht werden will, braucht ein anderes Modell als die Zick-Zack-Bewegung des linearen Denkens, um es einmal sehr plakativ auszudrücken. Symbol für solch einen alternativen Ansatz kann der Kreis, also ein zyklisches Prinzip, sein. Um diesen zyklischen Entwurf in Abgrenzung zu einem rein linearen zu verdeutlichen, bedarf es zunächst eines kleinen kulturhistorischen Aufrisses.

 

Kulturhistorische Prozessbetrachtung

 

Der Ethnologe, Journalist und Autor Geseko von Lüpke hat im Vorwort des Buches „Räder des Lebens“ aufgezeigt, dass der Kreis und nicht die Gerade als Urform der menschlichen Entwicklung verstanden werden kann.117 Schwangerschaft, Geburt, Tod und Wiedergeburt, also der ganze Prozess des beständigen Werdens und Vergehens, wurden in vielen traditionellen Stammesgesellschaften ebenso als Kreislauf erlebt wie die Jahreszeiten, die sich in zyklischen Phasen beständig ablösen und wiederholen. Der Kreis wurde damit zum Symbol des Lebens schlechthin. Kein Wunder, dass dem Kreis und damit dem ganzen Naturkreislauf vielerorts göttliche Eigenschaften zugewiesen wurden: „Die Ehrfurcht vor dem Kreis auch als Symbol der Unendlichkeit, eines Prozesses und Wegs ohne Anfang und Ende, eines Symbols von ewigem Leben, von Tod und Wiedergeburt.“118

Das Bild des Kreises wurde zur einfachsten und zugleich tiefsten Darstellung des Lebensprinzips, ja des Lebens selbst und hat sich schon früh kollektiv in die Seele der Menschen eingebrannt. Denn der Kreis hat vor allem ein Innen, man fühlt sich innerhalb des Kreises behütet, geschützt und geborgen, er ist in sich geschlossen, er ist die Form, die seelisch und geistig zentriert. Der Kreis ist aber zugleich Symbol für die universelle Lebenskraft von Mutter Erde, die in der Natur in Zyklen beständig neues Leben hervorbringt. Der Kreis bestimmte auch die Beziehung der Stammesgesellschaften zum Kosmos. Indigene Völker sahen (und sehen) das Universum als etwas Heiliges, Rundes, Großes, Mächtiges an. Zusammengefasst könnte man daher bezüglich dieser Weltsicht sagen: Rund ist die Urform des Lebens.119

Viele nordamerikanische Indianerstämme haben im sogenannten „Weg des Kreises“ die Grundlage ihrer Spiritualität, sowie eine Matrix für Gerechtigkeit und Kommunikation gesehen – Symbol für die soziale Form schlechthin. Denn ihre Zusammenkünfte fanden und finden schon rein äußerlich immer noch meist in der Kreisform statt. Es zeugt von tiefer Weisheit und vielfältiger Erfahrung, wenn etwa der „Älteste“ Manitonquat vom Stamm der Wampagoag sagt:

„'Der Kreis ist ein Symbol für die Einheit. Wenn Menschen im Kreis zusammenkommen, um sich auszutauschen, dann ist jede Aussage gleich wichtig. Im Kreis gibt es keine Hierarchien der Macht. Folgt man dem Weg des Kreises, dann versucht jeder sowohl den ganzen Kreis, als auch jeden Einzelnen zu unterstützen … Keiner sucht nach eigenen Vorteilen auf Kosten des Anderen oder auf Kosten der Erde – denn alles ist Teil des Kreises. In ihm gibt es kein Oben und Unten, kein Reicher oder Ärmer, kein Stärker oder Schwächer. Damit wird jeder nicht nur unterstützt, sondern sogar bestärkt. Der lineare Weg bringt die Menschen nicht zusammen! Der Kreis aber macht es möglich. Und das ist es, was wir heute brauchen.'“120

Vor dem Hintergrund unserer modernen globalen Weltsicht erscheint solch eine Haltung, vertreten von Angehörigen traditioneller Völker, die von Europäern und Amerikanern kolonialisiert und jahrzehnte- oder gar jahrhundertelang unterdrückt wurden, wohltuend und visionär. Denn dieses „KreisModell“ könnte als Teil eines neuen Weltverständnisses und als uralte und zugleich neue Kommunikationsform zum Symbol einer heileren Welt, einer sozialen Utopie, eines demokratischen Miteinanders und einer gerechteren und nachhaltigen globalen Gesellschaft werden. Der Kreis als Zeichen einer Welt im Gleichgewicht, in tiefer Rückverbindung mit dem Kreislauf der Natur!121

Kein Wunder also, dass der Kreis bei vielen traditionellen Völkern Pate stand für ein „Lebensrad“, das den Kosmos, den Ablauf in der Natur, das Stammesleben und das persönliche Leben deuten konnte. In manchen Stämmen wurden solche Lebensräder auch als „Medizinrad“ bezeichnet, weil es den Weg für natürliche und seelische Ausgeglichenheit und damit für Gesundheit aufzeigte.122 Das Lebensrad diente als vielfältige Orientierung, wenn es mit den vier Himmelsrichtungen und vier gleich großen Quadranten versehen wurde. Doch dazu später.

Zusammenfassend kann man mit Hilfe heutiger ethnologischer Erkenntnisse festhalten: Tausende von Jahren orientierte sich die frühe Menschheit am Kreis und damit an zirkulären Modellen, die ihr Leben am besten widerspiegeln konnten. Das Kreis-Modell brachte matriarchale Kulturen hervor, sowie – wenigstens im Idealfall – egalitäre, konsensorientierte Stammesgesellschaften, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet waren.

Vor etwa 6000 Jahren setzte dann die Dominanz einer linearen Weltsicht ein, die Geseko von Lüpke plakativ wie folgt umschreibt: Sie schuf „… die hierarchischen Strukturen des Patriarchats, des Monotheismus, des modernen Staatswesens, der Klassengesellschaft und schließlich der konkurrenzbetonten industriellen Leistungsgesellschaft. Sie führte zu enormen technischen Fortschritten, koppelte sich aber völlig ab von den sensiblen natürlichen Kreisläufen und legitimierte dies mit einem dualistischen Weltbild, was den angeblich gottgleichen Menschen über die Natur stellte. Diese Trennung von natürlichen Kreisläufen und Verteufelung alles Natürlichen führte zur Herrschaft des Geistigen über das Materielle, zur Dominanz des Männlichen über das Weibliche...“123

Diese noch immer vorherrschende lineare Methode, um die Welt zu erfassen, zu deuten, zu steuern und zu kontrollieren, dieser „lineare Kulturentwurf“ in der Menschheitsgeschichte, lässt die existentiellen Feedbackmuster und kooperativen Kreisläufe des Lebendigen völlig unberücksichtigt und hat zu einer bedrohlichen Entwicklung des Weltklimas und zu einer unverantwortlichen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen geführt.124 Im Grunde ist es diese Maschinen-Weltsicht, die unter dem Deckmantel von technisch-digitalem „Fortschritt“ eine immer größer werdende globale Zerstörung auf unserem lebendigen, zirkulär funktionierenden „Planeten Erde“ anrichtet; sie ist Ausdruck einer dominant-männlichen Haltung gegenüber der Welt. Darum meint von Lüpke: „Der Weg des linearen, konkurrenzbetonten Fortschritts hat sich als suizidales Programm erwiesen.“125

 

Kreis- und Spiral-Modell

 

Zum Glück gibt es in unserer heutigen Zeit auf zivilgesellschaftlichem Gebiet immer mehr Ansätze etwa im ökologischen, wirtschaftlichen oder im Kommunikationsbereich, die sich entweder direkt auf das erprobte uralte Kreis-Modell von indigenen Völkern berufen oder, ausgehend von solchen zyklischen Modellen, diese weiterentwickeln und in unser heutiges Denken integrieren. Symbol für solche neuen, heilenden Ansätze könnte das Modell der Spirale sein. Denn sie könnte eine Synthese zwischen dem alten Zyklischen, das als elementare Basis des Naturkreislaufes und damit unseres ursprünglichen Lebens dient, und unserem modernen technischen Entwicklungsbedürfnis darstellen. Kreisläufe statt unberechenbarer Zick-Zack-Bewegungen! Die zirkuläre Spirale als Matrix der globalen Entwicklung, neuer Kommunikationsformen und auch der Persönlichkeitsentwicklung statt eines immer nur linearen „Fortschrittspfeils“? Ja, unbedingt! Eine Auseinandersetzung mit dem Kreis und der Spirale als neuen Modellen und als Symbole zur Deutung der Welt, des Lebens und der Kommunikation sind bitter nötig.

Denn alles qualitative Wachstum geschieht eher in Kreisen als auf einer Zick-Zack-Linie. Symbol dafür könnten die Jahresringe eines Baumes sein. Das Gerade bewegt sich immer zielorientiert, baut auf Reduktion auf das Wesentliche, um ein anvisiertes Ziel möglichst schnell zu erreichen. Gesundes Wachstum hingegen geschieht nur, wenn es an die größeren Zusammenhänge eines Gesamtsystems angebunden ist. Ein solches Wachstum ist ein Suchprozess, der möglichst viele Aspekte mit einschließt und auszubalancieren versucht. Solch ein Ansatz hat viele Parallelen zum indigenen Denken, das aus der unmittelbaren Beobachtung von Naturkreisläufen entstand.126 Die Spirale als Entwicklungsmodell für unsere heutige Zeit baut einerseits auf diesem alten zyklischen Denken auf und ist zugleich offen für eine natürliche und moderate Weiterentwicklung. Wenn man nämlich auf der Spirale eine volle Rundung durchlaufen hat, kommt man nicht an der gleichen Stelle an wie beim Kreis, sondern hat sich dabei auf ein höheres Niveau weiterentwickelt.

Dies möchte die folgende Skizze veranschaulichen: Dabei steht der horizontale Pfeil für die Ebene, in der die Kreisbewegung stattfindet. Der vertikale Pfeil hingegen deutet die lineare Bewegung an, die zugleich mit jedem Kreisumfang noch oben geschieht. Die Überlagerung beider Bewegungen ergibt dann die Spirale.

skizze1

Mit dem Kreis- und Spiral-Modell sollte unsere Sicht der Welt viel mehr hinterfragt und durchdrungen werden, um sie zu retten und zu heilen. Denn die logisch stringente, ziemlich verengende und zu vereinfachende „Wahrheit“ einer nur linearen Weltsicht hat unseren Planeten an den Rand des Abgrunds gebracht. Zugleich können diese Symbole „Kreis“ und „Spirale“ Pate dafür stehen, etwa neue adäquatere Kommunikationsformen zu entwickeln – in kleinen wie in großen Gemeinschaften und auf internationaler Bühne. Nicht umsonst veranstaltet man „Runde Tische“, wenn es darum geht, einen Kompromiss in Verhandlungen oder bei Konflikten zu finden.127

Das Spiral-Modell kann auch hervorragende Dienste leisten, wenn es darum geht, persönliche, zirkuläre Wachstumsprozesse zu deuten und zu begleiten. Daher erscheint mir das Spiral-Modell, das als Grundlage den Kreis enthält, sehr geeignet, eine integrative Pädagogik zu entwerfen, die die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen beachtet und ernst nimmt, sowie krasse Fehlentwicklungen bei den gegenwärtigen Bildungs- und Pädagogikreformen zu vermeiden sucht. Wie weiter unten aufgezeigt wird, ist eine integrative Pädagogik offen für neue Einflüsse und Entwicklungen. Doch zunächst soll im Folgenden das „alte zyklische Wissen“ indigener Völker, das auf Kreis-Modellen basiert, angezapft und mit Hilfe der Erkenntnisse heutiger Psychologie näher entfaltet werden.

 

 

(2) Die Urpsychologie von Lebensrädern

 

Kennengelernt habe ich das Lebensrad bei meinen drei eigenen Visionssuchen, einem existentiellen Naturritual zur Sinnsuche und Lebensorientierung.128 Es kann als ein sehr nützliches Werkzeug dazu dienen, die verschiedenen Lebensphasen und die Lebensübergänge dazwischen besser verstehen, deuten und einordnen zu können. Das Lebensrad hat aber noch viel mehr zu bieten. Für viele traditionelle Stammesgesellschaften war es eine Art von geistig-seelischer Ur-Medizin, weil damit das ganze Leben, die Stammeswelt und der Bezug zu den Geistern, Ahnen und Gottheiten und zum Kosmos dargestellt, ausgedrückt und erklärt werden konnte. Das Wissen, das im Lebensrad steckt, konnte den Menschen in Stammeskulturen Sicherheit, Sinn und Geborgenheit schenken.

Verbreitet war es, wenn auch in unterschiedlicher Weise, zum Beispiel bei den Kelten in Süddeutschland, bei afrikanischen Gesellschaften und bei vielen Indianerstämmen Nordamerikas. Der US-Amerikaner Steven Foster, der als Sozialarbeiter und Psychologe bei Indianerstämmen tätig war, hat in seinem bemerkenswerten Buch „Die vier Schilde“ Lebensräder von Indianern aufgegriffen, sie psychologisch durchdrungen und sie für unsere heutige „westliche“ Gesellschaft kompatibel und höchst interessant und wertvoll gemacht.129

 

Tages- und Jahreszeiten

 

Doch zurück zum Lebensrad selbst. Was ist ein Lebensrad? Wie sieht es aus? Wie ist es entstanden und warum lebten viele traditionelle Völker nach solchen Lebens- oder Medizinrädern? Auf den ersten Blick ist ein Lebensrad ein schlichter Kreis, der durch zwei Querbalken in vier gleichmäßige Quadranten zerlegt wird. Dazu meinen die beiden Leiter von Naturritualen Holger und Gesa Heiten, die von Steven Foster beeinflusst wurden: „Augenfällig ist das Symbol eines Kreuzes mit einem Kreis darum. Das Kreuz gliedert den Kreis in vier Bereiche. Dieses Symbol gehört zu den ältesten Symbolen der Menschheitsgeschichte und geht zurück auf eine Zeit, als Menschen begannen, sich die Welt und die Gesetzmäßigkeiten des Lebens zu erklären … Was hier symbolisiert wird, ist eine zyklische Bewegung, die vier kardinale Stationen durchläuft.“130 Die heute noch benutzte Windrose geht direkt auf solch eine Vorstellung zurück.

Dieses zyklische Modell stammt, wie oben bereits geschildert, aus der Anfangszeit unserer Kulturgeschichte, in der die Menschen – ohne Kompass oder gar GPS – noch verbunden mit und gemäß den Rhythmen der Natur lebten. Sie mussten sich gemeinverständlich orientieren. Phänomene wie der Lauf der Sonne, des Mondes oder der Stand der Sterne boten sich als Orientierung an. Denn die Sonne ging und geht verlässlich in der Richtung auf, die wir Osten nennen. Zumindest in der nördlichen Hemisphäre steht sie am Mittag im Süden; zuverlässig geht sie am Ende des Tages im Westen unter. Aber auch nachts, bei sternenklarem Himmel, gab es im Polarstern eine sichere Orientierung, die die Nordrichtung festlegte und den Zyklus schloss, der dann mit dem Aufgang der Sonne am nächsten Tage wieder neu begann.

Das Lebensrad konnte also schon rein äußerlich als „Tagesrad“ eine wichtige Grundorientierung verschaffen. Dies zeigt sich auch in einem Kinderreim, der jedoch nur auf der nördlichen Halbkugel unserer Erde Sinn ergibt:

 

„Im Osten geht die Sonne auf,

im Süden steigt sie hoch hinauf.

Im Westen wird sie untergehen,

im Norden ist sie nie zu sehen.“

 

Damit konnte man mit dem Lebensrad, das auf einem „Weltbild des Augenscheins“ beruhte, neben den vier Himmelsrichtung zugleich einen ganzen Tagesablauf mit drei Sonnenständen abbilden. Der Polarstern als vierter Markierungspunkt, manchmal auch zusätzlich der Mond, wurden dabei im Norden angesetzt. Kinder erleben noch heute die Welt in diesem Sinne. Das Lebensrad bildet somit einen zyklischen Prozess ab, „… der vier kardinale Stationen durchläuft, die wir deutlich voneinander unterscheiden können.“131

Da dieses zyklische Naturprinzip in den vier Jahreszeiten ebenfalls erkennbar ist, diente das Lebensrad schon früh dazu, auch ein ganzes Jahr zu erfassen. Die vier Jahreszeiten bestimmten das Leben unserer Vorfahren ebenso wie der Tagesablauf. Um überleben zu können, mussten die Jahreszeiten unbedingt beachtet werden, etwa um für den langen Winter genügend Vorräte zu haben. Die Jahreszeiten konnten leicht auf die vier Himmelsrichtungen im Modell vom Kreuz, das den Kreis in vier getrennte Quadranten zerlegt, übertragen und die damit verbundene Assoziationskette auf die Phasen im Jahr verlängert werden – nun als „Jahresrad“.

In diesem Fall wird der Frühling im Osten, der Sommer im Süden, der Herbst im Westen und der Winter im Norden verortet. So wurde zum Beispiel der christliche Jahresfestkreis in ein bereits vorhandenes „heidnisches“ Jahresrad gelegt. Die darin enthaltenen großen Jahresfeste, die sich an besonderen Sonnen- und Mondständen orientierten, wurden als christliche Feste einer linearen, historischen Heilsgeschichte neu gedeutet, uminterpretiert und im Jahreszyklus stets neu gefeiert. Nicht zufällig wurde das Weihnachtsfest auf die Wintersonnwende, also auf den Sonnentiefststand, gelegt, um nur ein Beispiel zu nennen. Christus, unser Licht, unsere Sonne! Bei den Kelten war es das Jul-Fest, die Römer feierten an diesem Datum ihr großes Fest, das dem Gott „sol invictus“ gewidmet war – der jedes Jahr wiederkehrenden unbesiegbaren Sonne (Fest der Sonnenumkehr!).

skizze2

Lebensphasen und Lebensübergänge

 

Es war naheliegend, mit dem Lebensrad auch ein ganzes Menschenleben darzustellen und abzubilden. Daraus entstand die Assoziation von vier grundlegenden Lebensphasen – von den „Jahreszeiten des Lebens“. Da viele traditionelle Kulturen davon überzeugt waren, dass die Seele eines Stammesmitglieds nach dem Tod in eine Art Geisterwelt eingeht, um nach einer bestimmten Zeit wieder in den Stamm hineingeboren zu werden, eignete sich das Jahres-Rad dazu, Symbol für das ganze Leben eines Menschen zu werden – dann eben als wirkliches „Lebensrad“. Daher stammt wohl auch seine Bezeichnung. Hintergrund für diese Assoziation war zum Beispiel das scheinbare Absterben der Laubbäume im Spätherbst und ihre beständige Neuwerdung im Frühling.

Demnach kann man die Kindheit in den Süden, die Jugendzeit in den Westen, die lange Phase des Erwachsenseins in den Norden und das (hohe) Alter in den Osten legen. Dies möchte die nachfolgende Skizze von den Lebensphasen veranschaulichen:

skizze3