Cornelius Hartz wurde in Hamburg in Klassischer Philologie promoviert. Er ist freier Autor, Übersetzer und Lektor und hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht, die sich u. a. mit den Themen Tod und Verbrechen beschäftigen.
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2., überarbeitete und erweiterte Auflage
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ISBN 978-3-8062-4178-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4214-0
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4215-7
Vorwort
Mord oder Unfall: Tutanchamun (1323 v. Chr.)
Mörder im Harem: Ramses III. (1156 v. Chr.)
Ein Becher Schierling: Sokrates (399 v. Chr.)
Hetäre vor Gericht: Neaira (ca. 340 v. Chr.)
Das gewaltsame Ende einer Intrigantin: Olympias (316 v. Chr.)
Attentat auf den Kaiser von China: Qin Shihuangdi (227 v. Chr.)
Verhexter Acker: Furius Cresimus (ca. 191 v. Chr.)
459 tote Babys: der Knochenbrunnen von Athen (160 v. Chr.)
Unschuldig vor Gericht: Sextus Roscius (80 v. Chr.)
Gesprengte Ketten: Spartacus (73 v. Chr.)
Machtmissbrauch in großem Stil: Verres (70 v. Chr.)
Gescheiterter Putschversuch: Catilina (63 v. Chr.)
Frevel in Frauenkleidern: Clodius Pulcher (63 v. Chr.)
Die Iden des März: Caesar (44 v. Chr.)
Verbannung der eigenen Tochter: Augustus (2 n. Chr.)
Hände in Unschuld: Jesus (30 n. Chr.)
Mord an der Mutter: Nero (59 n. Chr.)
Tod durch Gladiatorenhand: Commodus (192 n. Chr.)
Mord für die Thronfolge: Konstantins Söhne (337 n. Chr.)
Christlicher Ketzer: Priscillian (385 n. Chr.)
Mord an der letzten Philosophin: Hypatia (415 n. Chr.)
Liste der Abkürzungen antiker Autoren und Werke
Literatur
Abbildungsnachweis
Seit es Menschen gibt, gibt es Verbrechen. Seit prähistorischer Zeit sind menschliche Gesellschaften auf Regeln angewiesen, die das Miteinander ordnen – seien es die Zehn Gebote, die Gesetze der Nomotheten im klassischen Athen, der konfuzianische Sittenkodex im alten China, die römische Zwölftafelgesetzgebung oder unser heutiges Strafgesetzbuch. Und es hat immer Menschen gegeben, die gegen diese Regeln verstoßen haben. Die hier vorgestellten Kriminalfälle des Altertums sind genau das: Verstöße gegen die grundlegenden Prinzipien unserer menschlichen Interaktion. Dabei geht es um Mord, Diebstahl und Raub, um Attentate, falsche Zeugenaussagen und gewiefte Ermittler.
Und doch besteht ein großer Unterschied all dieser „Fälle“ zu unserer heutigen Zeit: In der gesamten klassischen Antike, sei es in Ägypten, Griechenland oder im Römischen Reich, gibt es keinen funktionierenden Polizeiapparat. Gerade für Rom überrascht dies, wird uns doch das Imperium Romanum immer öfter als prä-industrialisierte Moderne vorgestellt. Doch vom alten Rom trennt uns mehr als nur das „dunkle“ Mittelalter, das viele zivilisatorische Errungenschaften wieder in Vergessenheit geraten lässt. Zwar ist unser Wort „Polizei“ vom altgriechischen pólis („Stadtstaat“) bzw. politeía („Staat“) abgeleitet, doch ein staatliches Organ, das für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sorgt und als investigative Kraft bei der Verbrechensbekämpfung und -aufklärung hilft, existiert im Altertum noch nicht. Immerhin besitzt Athen in klassischer Zeit das Beamtenkollegium der Elfmänner, das unter anderem das Staatsgefängnis betreut und bei der Tat überraschte Täter aburteilt (vgl. Krause 2004, 13). In Rom gibt es eine ähnliche Einrichtung (tresviri capitales), und in der Kaiserzeit kommen die vigiles dazu: Soldaten, die in der dicht besiedelten Stadt für den Feuerschutz zuständig sind und deren Präfekt „Brandstifter, Hauseinbrecher, Diebe und Hehler“ aburteilt (ebd., 45). Daneben werden in allen antiken Kulturen Strafmaßnahmen für verurteilte Verbrecher angewandt, die heute mehr als skurril erscheinen und sich doch z. T. über Jahrhunderte halten – von der Aporhaphanidosis in Griechenland, bei der dem Delinquenten rektal ein Rettich eingeführt wird, bis zur Säckung in Rom, bei der der Verurteilte mit Schlangen und anderen Tieren in einen Sack eingenäht ins Meer geworfen wird. Und doch: Einen Polizeiapparat, wie wir ihn heute kennen, gibt es noch nicht.
Wenn beispielswiese ein Mörder nicht in flagranti erwischt wird, ist es oft geradezu unmöglich, einen Mordfall aufzuklären. Dass Menschen dennoch für solche Taten verurteilt werden, ist in Rom unter anderem auf die Existenz berufsmäßiger Ankläger zurückzuführen, die am Prozess verdienen wollen (s. S. 64). Die Bestechlichkeit der altrömischen Gerichte ist heute geradezu legendär, und die Quote an Fehlurteilen dementsprechend hoch – später in diesem Band wird uns diese Tatsache noch öfter begegnen. Aber genau deshalb gibt es bei historischen Krimis, die in der Antike spielen, in der Regel keinen Kommissar oder sonstigen Beamten einer Strafverfolgungsbehörde als Ermittler, sondern die Verbrechen werden meist von Privatleuten aufgeklärt (am bekanntesten ist wohl heute immer noch der fiktive Magistrat Decius Caecilius Metellus, der in John Maddox Roberts’ populärer Romanreihe SPQR Kriminalfälle löst).
Insofern sind einige der in diesem Band vorgestellten Vorkommnisse weniger Kriminalfälle im Sinne eines Krimis mit Tat, Ermittlung und Aufklärung. Manche sind ganz einfach Verbrechen, über die die Nachwelt durch historische Quellen erfahren hat – und mitunter ist dies auch verständlich: Wenn zum Beispiel der römische Kaiser seine Mutter umbringt, wer wollte da der Richter sein?
Die hier vorgestellten 21 Verbrechen umspannen einen Zeitraum von über 1700 Jahren, mehr als uns heute von dem letzten dieser Kriminalfälle in der Spätantike trennt. Zugleich bieten sie ein mosaikartiges Panorama der Geschichte des Altertums von Ägypten über Griechenland, China und das alte Rom bis zur Spätantike und zum frühen Christentum – im Spiegel des Verbrechens. Dass sich die Massenmedien heute immer noch für die Antike interessieren, liegt nicht zuletzt daran, dass sie immer wieder als ein teilweise gesetzloser Ort dargestellt wird. Griechenland und vor allem Rom als Schauplatz von Intrigen und skrupellosen Politikern, ein Ort des „anything goes“ – Sex und Crime durchziehen als roter Faden moderne Darstellungen der Antike wie Gladiator (Kino, 2000), Das Schwert von Karthago (Roman, 2005), Spartacus – Blood and Sand (TV, 2010) oder God of War – Ascension (Videospiel, 2013).
Der Vorteil dieses Buchs jedoch ist, dass alles hier Dargestellte überliefert ist. Auch wenn man bei den antiken Geschichtsschreibern viele Details anzweifeln und überprüfen muss, da deren Zeugnisse meist mehr auf Hörensagen denn auf harten Fakten beruhen, so zeigt sich dennoch einmal mehr, dass die Geschichte oft auch die spannendsten Geschichten schreibt – man muss sie nur lesen.
Tutanchamun ist ein Name, der klingt wie kein zweiter. Man verbindet ihn mit wundersamen Goldschätzen, geheimnisvollen Flüchen und frühzeitigem Tod. Vor wenigen Jahren sprengte eine Ausstellung, in der lediglich Repliken der in seinem Grab gefundenen Schätze zu sehen waren, Besucher- und Eintrittspreisrekorde. Tutanchamuns Regierungszeit gehört zum sogenannten Neuen Reich, der wohl bekanntesten Epoche in der ägyptischen Geschichte, in der es viele legendäre Herrschergestalten gibt – Amenophis III., Echnaton, Nofretete und Hatschepsut. Dabei kannte zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum jemand überhaupt nur den Namen des Pharao – erst seit der Entdeckung seines Grabs mit den vielen kostbaren Grabbeigaben durch Howard Carter im Jahr 1922 ist auch Tutanchamun eine Legende.
Tutanchamun im Streitwagen. Vorderseite der Kriegs- und Jagdtruhe aus dem Grab des Tutanchamun, Tal der Könige, Theben. Holz, stuckiert und bemalt.
Von der sechsjährigen Suche nach dem Grab bis zur abenteuerlichen Bergung der Schätze – die „Aufzeichnungen Carters … lesen sich wie ein Detektivroman“ (Wagner, 9). Doch auch wenn wir das Innere des Grabs Tutanchamuns mit den buchstäblich Tausenden von Kunstgegenständen heute sehr genau kennen, wissen wir immer noch recht wenig über das Leben Tutanchamuns selbst. Und das wenige, das wir wissen, trägt zum Mythos noch bei, denn sicherlich liegt die Faszination für diesen Pharao zum Teil auch daran, dass er eine ebenso prachtvolle wie tragische Figur der Geschichte ist: Mit nur 19 Jahren stirbt Tutanchamun, nach knapp einem Jahrzehnt Regierungszeit. Er hinterlässt keine Nachkommen, und so endet mit ihm die 18. Dynastie der ägyptischen Pharaonen (vgl. Schlögl, 244). Doch bis heute sind die Umstände seines Todes nicht geklärt. War es ein Unfall – oder war es Mord?
1999 veröffentlicht der angesehene US-amerikanische Ägyptologe Bob Brier das Buch Der Mordfall Tutanchamun (The Murder of Tutankhamen). Brier ist von der Mordtheorie überzeugt. Sein Hauptindiz für einen gewaltsamen Tod: Eine alte Röntgenaufnahme der Mumie Tutanchamuns weist eine Absplitterung des Schädelknochens auf – ist der Pharao erschlagen worden? Falls Tutanchamun ermordet worden ist, so führt die Spur zu mehreren Personen, die für seinen Tod verantwortlich sein könnten. Die Instabilität des Umfelds Tutanchamuns könnte dabei eine wichtige Rolle spielen (vgl. Brier, 16 ff.).
Tutanchamuns Vater, Echnaton, hat das Leben und die Kultur in Ägypten verändert: Er führt anstelle des traditionellen Polytheismus die Verehrung eines einzigen Gottes (Aton) ein – eine geradezu unerhörte Neuerung. Auch wenn er die Existenz der anderen Götter nicht verleugnet, so räumt er Aton doch einen Stellenwert ein, der fast einem Monotheismus gleichkommt. Für regelrechtes Entsetzen unter den Zeitgenossen sorgt die Schließung des Tempels des Amun in Karnak, die „nicht nur die Gläubigen [verletzt], sondern vor allem auch die Priesterschaft des Gottes, die bisher von der Wirtschaftsmacht des Tempels gelebt und ihren Einfluß und ihre Pfründe daraus bezogen“ hat (Schlögl, 136). Zwar ist Echnatons „Revolution“ nicht von Dauer, und seine Neuerungen halten keine 50 Jahre. Aber sie sorgen dafür, dass das durch Priester geprägte Umfeld des Königshauses an Stabilität einbüßt. Als sein Vater stirbt, ist Tutanchamun noch ein Kind; mit etwa neun Jahren muss er den Thron besteigen. Zu diesem Zeitpunkt nennt er sich noch Tutanchaton – sein Geburtsname, in dem sich der Monolatrismus des Vaters widerspiegelt („lebendes Abbild des Aton“, des vom Vater verehrten Sonnengottes).
In seine Regierungszeit fällt der Beginn der Aussöhnung mit dem traditionellen Glauben, von der sein neuer Name Tutanchamun („lebendes Abbild des Amun“) zeugt: Amun ist der ägyptische Gott der Fruchtbarkeit. Allerdings ist das Religionssystem, als Tutanchamun Pharao ist, noch stark erschüttert. Es ist eine Inschrift erhalten, die von den Anstrengungen des Pharao zeugt: „Der göttliche Herrscher tat dem Vater aller Götter [Amun] Gutes und baute ihm wieder auf, was an ewigen Monumenten verfallen war. […] Als seine Majestät gekrönt wurde, waren von Elephantine bis zum Marschland des Deltas die Tempel der Götter und Göttinnen der Vernachlässigung anheimgefallen, und ihre Schreine waren verwaist“ (nach Breasted, 344 f.). Und dennoch befindet sich unter den vielen Artefakten, die in Tutanchamuns Grab entdeckt wurden, ein Krummstab, der noch seinen alten Namen, Tutanchaton, trägt. Vielleicht hat er ihn zur Krö-nungszeremonie verwendet, denn die ist zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht allzu lange her: Ganze zehn Jahre nach seinem Amtsantritt (1323 v. Chr. oder, nach anderer Datierung, 1309 v. Chr.) stirbt Tutanchamun, ohne dass eine Todesursache überliefert wird (vgl. Silverman u. a., 165 ff.).
Als mein Vater in Kargamiš war, da schickte er Lupakki und Tarhuntazalma in das Land von Amka. Sie griffen daraufhin Amka an und brachten Kriegsgefangene, Rinder und Schafe von meinem Vater zurück.
Als die Ägypter aber von dem Überfall auf Amka hörten, da packte sie die Furcht, und weil darüber hinaus ihr Anführer, Piphururijas, gestorben war, schickte die Frau des Königs von Ägypten eine Botschaft zu meinem Vater, in der sie Folgendes schrieb:
„Mein Ehemann ist verstorben und ich habe selbst keinen Sohn. Man sagt aber, dass du mehrere Söhne hast. Schicke mir doch einen deiner Söhne, damit er mein Ehemann wird. Niemals werde ich einen meiner Diener heiraten!“
Als mein Vater davon hörte, rief er seine Offiziere zusammen, beriet sich mit ihnen und sagte: „Seit ich denken kann, ist so etwas noch nicht vorgekommen!“ Er ließ seinen Kammerdiener Hattuzitiš holen und sagte zu ihm: „Geh dorthin und berichte mir wahrheitsgemäß, was vor sich geht. Vielleicht versucht sie, mich zu hintergehen. Berichte mir, ob sie nicht doch einen Sohn als Königsanwärter hat.“ […]
Die ägyptische Königin schickte ihm bald einen Brief, in dem sie schrieb: „Warum sagst du: ‚Vielleicht versucht sie, mich zu hintergehen‘? Wenn ich doch einen Sohn hätte, würde ich dann an ein fremdes Land schreiben, in einer für mich erniedrigenden Art und Weise? Du vertraust mir nicht, wenn du so etwas sagst. Mein Mann ist gestorben und ich habe keine männlichen Nachkommen. Ich kann doch nicht einen meiner eigenen Diener heiraten! Ich habe allein dir geschrieben, keinem anderen König oder Land. Man sagt, dass du mehrere Söhne hast. Schicke mir einen deiner Söhne, dann wird er mein Mann und König von Ägypten.“
Taten des Šuppiluliuma (CTH 40), Tf. 7 fr. 28
(Übers. nach Assmann, 239 f.)
Einer der Hauptverdächtigen ist der Hofbeamte Eje, der nach Tutanchamun den Thron besteigt. Eines der Beweisstücke, die auf Eje hindeuten, ist ein Ring, der 1931 entdeckt wurde. Er zeigt, dass Eje kurz nach Tutanchamuns Tod Anchesenamun, eine Tochter Echnatons, heiratet. Dies macht ihn zum Pharao. Zusätzlich zu diesem Ring existieren Tafeln, die davon zeugen, dass Anchesenamun die Hethiter – mit denen Ägypten zu dieser Zeit verfeindet ist! – um Hilfe bittet; der hethitische König Šuppiluliuma solle einen Sohn nach Ägypten schicken, um sie zu heiraten – sie wolle auf keinen Fall einen ihrer eigenen Diener heiraten müssen (vgl. Steuer, 256). Ist dies ein verzweifelter letzter Versuch der Königstochter, den Thron vor dem Mörder Eje zu retten?
Ein weiterer Verdächtiger ist Haremhab, der zwar nicht direkt nach Tutanchamun, aber immerhin nach Eje, der nur vier Jahre regiert, Pharao wird. Haremhab ist der Stellvertreter, Vermögensverwalter und Oberbefehlshaber des jungen Königs. Er könne sich, so glaubt man, zum Ziel gesetzt haben, die alte religiöse Ordnung wiederherzustellen und den von Echnaton verfügten Monotheismus wieder abzuschaffen.
Erst 2006 gibt es neue Erkenntnisse, die ein wenig mehr Licht ins Dunkel bringen können. Der ägyptische Radiologe Ashraf Selim untersucht Tutanchamuns Mumie mittels Computertomographie, bei der der Körper in 1900 einzelne Bilder „zerschnitten“ wird. Er kommt zu erstaunlichen Ergebnissen: Zunächst stellt man fest, dass die Schädelverletzung, die auf den Mord durch Erschlagen hinzuweisen schien, erst nach dem Tod des Pharao eingetreten ist. Vielleicht ist die Mumie beschädigt worden, als Carter und seine Helfer die Totenmaske entfernten. Dabei könnte ein Stück vom Schädelknochen abgeplatzt sein. Des Weiteren fehlt das Herz des Pharao – ein merkwürdiger Umstand. Hin und wieder wurde Bestatteten zwar auch das Herz entnommen, das bei den Ägyptern als Sitz des Verstandes galt, aber in solchen Fällen hat man es stets durch einen Skarabäus ersetzt. Dieser fehlt bei Tutanchamun. Und außerdem entdeckt man einen komplizierten Bruch des linken Oberschenkels, eine Fraktur der rechten Kniescheibe und eine des rechten Unterschenkels. An diesen Knochenbrüchen könnte der Pharao, wie Experten meinen, durchaus gestorben sein, wenn es zu inneren Blutungen oder einer Blutvergiftung gekommen ist (vgl. Hawass, 25).
Seither gibt es die Theorie, Tutanchamun sei bei einem Jagd- bzw. Reitunfall verunglückt oder von einem Wagen überrollt worden und an den Folgen gestorben – wenngleich die Forscher einräumen müssen, dass es auch an dieser Hypothese weiterhin Zweifel gibt. Denn es ist natürlich ebenso denkbar, dass Tutanchamun diese Verletzungen vorsätzlich zugefügt worden sind: Man muss jemanden nicht auf den Kopf schlagen, um ihn zu ermorden, man kann ihm auch die Beine zerschmettern – zumal in einer Zeit, die noch keine Antibiotika oder Ähnliches kennt. So könnte eben auch der Reitunfall inszeniert gewesen sein, oder jemand hat den Pharao in voller Fahrt vom Streitwagen gestoßen oder mit einem solchen Wagen überfahren. Wir müssen letztlich wohl einsehen, dass wir heute zwar die Todesursache feststellen können, aber nicht die Hintergründe – diese liegen im Dunkel der Geschichte verborgen, das in diesem Fall die Computertomographie nicht zu erhellen vermag.
Der letzte bedeutende ägyptische Pharao des Neuen Reichs ist Ramses III. Anders als der früh verstorbene Tutanchamun (und die meisten seiner Amtskollegen) übt er sein Amt über 30 Jahre lang aus. Doch im 32. Jahr seiner Regentschaft fällt er einer Intrige zum Opfer, die als „Haremsverschwörung“ in die Geschichte eingeht – und diesmal ist man nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern es sind komplette Prozessakten überliefert.
Das 12. Jahrhundert v. Chr. ist keine einfache Zeit für Ägypten. Wirtschaftlicher Niedergang und kriegerische Auseinandersetzungen bestimmen die Politik. Eine besondere Bedrohung kommt von Norden her: Fremde Völker, die sich vielleicht im Zuge der europäischen Völkerwanderung „verirrten“, haben bereits die Levante angegriffen und die Hethiter geschlagen. Die Identität dieser Völker ist bis heute ungewiss – Illyrer, Osker, Mykener oder sogar Troer? Klären lässt sich das nicht. Doch klar ist immerhin: Dem ägyptischen Pharao Ramses III. gelingt es, diesen Völkern Einhalt zu gebieten und sie abzuwehren.
Die Hoffnung, dass es unter Ramses III. nun in Ägypten nach langer Zeit auch wirtschaftlich wieder bergauf geht, erfüllt sich jedoch nicht. Es kommt zu Streiks bei den unerhört großen Bauten, die der Pharao errichten lässt, und auch das Volk wird unruhig. Dennoch ist es niemand aus dem Volk, der dem Pharao schließlich nach dem Leben trachtet – es ist sein eigener Hofstaat. Und das Motiv der Verschwörung ist auch nicht eine Verbesserung der Lebensumstände der ägyptischen Bevölkerung, sondern ganz einfach: Machtgier.
Wie es bei altägyptischen Pharaonen üblich ist, hat Ramses III. mehrere Ehefrauen, darunter einige, die den Status der Königin innehaben, und mehrere weitere sogenannte Nebenfrauen. Alle Frauen des Pharao leben zusammen im ipet, dem königlichen Harem. Natürlich ist „Harem“ eigentlich nicht die richtige Bezeichnung für diese Einrichtung – der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert und assoziiert den Hof des Pharao so unzulässigerweise mit Motiven aus 1001 Nacht. Ein passenderer Name ist vielleicht „Frauenhaus“. Es ist auch weniger eine Verwahranstalt für des Königs Geliebte, von denen er sich zum nächtlichen Vergnügen eine oder mehrere auswählt, sondern vielmehr eine Art von Frauen betriebenes Businesscenter. Hier leben nicht nur die Gattinnen, Nebenfrauen und Geliebten des Pharao, sondern auch deren sämtliche weibliche Verwandte und Kinder, und Beamte und Verwaltungsgehilfen gehen aus und ein.
Der wehrhafte Ramses III. Relief vom Totentempel des Ramses III. in Medinet Habu, Theben.
Was nun die Situation bei Ramses III. so besonders macht, ist, dass er keiner seiner Königinnen den Status der „Großen königlichen Gemahlin“ verliehen hat – das bedeutet vor allem, dass im Prinzip unklar ist, wer nach Ramses Pharao werden wird. Wie schwer der alte König sich damit tut, eine Nachfolgeregelung zu treffen, kann man heute noch auf einer Darstellung in seinem Totentempel in Medînet Hâbu sehen – einem Relief, das als „Prinzenprozession“ bekannt ist: Eine ganze Reihe Prinzen ist darauf zu sehen, aber die Beischriften, die ihre Namen angeben, sind erst später, nach Ramses’ Tod, hinzugefügt worden.
Natürlich macht man sich am Hofe des Pharao sowie auch und gerade im Frauenhaus Gedanken, wer den alternden König ablösen und sein Erbe antreten wird. Wichtigster Anwärter auf den Thron ist zum Zeitpunkt des nunmehr einsetzenden Geschehens Ramses’ ältester Sohn. Manche Forscher meinen, dass Ramses sich schließlich sogar doch dazu durchgerungen hat, ihn öffentlich als seinen Nachfolger auszurufen. Wie dem auch sei: Es gibt verschiedene Personen, denen das überhaupt nicht passt, und eine davon ist Ramses’ Nebenfrau Teje. Sie will um jeden Preis erreichen, dass ihr eigener Sohn Ramses als Pharao ablöst. Sogar dann, wenn es den regierenden Pharao das Leben kosten wird.
Der Name des Sohnes ist nicht überliefert – wohl aber viele andere Details der Verschwörung: In Turin wird ein Papyrus aufbewahrt, der in der Regierungszeit von Ramses’ Nachfolger, Ramses IV., entstanden ist und der die kompletten Gerichtsakten enthält, die den Prozess beschreiben, bei dem die Verschwörer verurteilt worden sind (vgl. Vernus, 108 ff.). Dieser Turiner juristische Papyrus ist in großen hieratischen Buchstaben verfasst, wie es einem wichtigen Staatsdokument angemessen erscheint, und er soll aus der Tempelbibliothek von Medînet Hâbu stammen. Im Jahr 1799 ist er durch Bernardino Drovetti, einen jungen Offizier Napoleons, von Ägypten nach Italien gebracht worden. Bei dem Schriftstück handelt es sich allerdings nicht um tatsächliche, reale Protokolle eines Strafprozesses: Vielmehr ist der Papyrus nachträglich angefertigt worden, um an die darin beschriebenen Geschehnisse zu erinnern – keine ungewöhnliche Praxis damals.
In diesen Akten wird der Name des Sohnes von Teje, um den es nun geht, als „Pentawer“ wiedergegeben, das ist jedoch kein Eigenname, sondern bedeutet: „der, der eigentlich einen anderen Namen trägt“. Dies ist ein frühes Beispiel für die als damnatio memoriae bekannte Praxis, bei der nach dem Tode einer einem Herrscher unliebsamen Person sämtliche Erinnerung an sie getilgt wird, indem ihre Bildnisse zerstört werden, ihr Name aus Schriftstücken entfernt und aus Inschriften herausgemeißelt wird.
Ziel der Verschwörung ist es also, den Pharao zu ermorden und an seiner Stelle Tejes Sohn einzusetzen. Augenscheinlich ist Tejes Einfluss dabei auch außerhalb des Frauenhauses ziemlich groß. In den Prozessakten werden nicht nur Bewohner des Frauenhauses als Verschwörer genannt, sondern auch 28 männliche Personen – von den Kellermeistern über die militärischen Befehlshaber des Pharao (sogar der Oberbefehlshaber ist mit dabei) bis hin zu Priestern und Richtern. Es wird rekonstruiert, dass fast alle Beamten, die im Frauenhaus beschäftigt sind, in irgendeiner Form an der Verschwörung beteiligt sind oder wenigstens von ihr wissen – ein Indiz dafür, wie groß die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Pharao ist, aber auch dafür, dass der Plan allenthalben als erfolgversprechend angesehen wird.
Tejes Plan sieht nun aus wie folgt: Der Pharao soll während eines großen Festes in seinem Palast in Medînet Hâbu ermordet werden. Dieses Fest, das sogenannte Schöne Fest vom Wüstental, ist ursprünglich ein Nekropolenfest gewesen, aber seine Rituale haben sich im Laufe der Zeit geändert, und zur Zeit Ramses III. ist es auch als „Fest der Trunkenheit“ bekannt. Zugleich ist es ein Opferfest für die Götter Amun-Re und Hapi.
Während des Talfestes in Medînet Hâbu soll der Pharao also ermordet werden, und gleichzeitig soll eine Abteilung des in Nubien stationierten Heeres, das bereits nilaufwärts marschiert ist, den Umsturz militärisch unterstützen. Von alledem ahnt der Pharao nichts, als er mit seinen Hohepriestern auf dem heiligen Boot über den Nil setzt. Die religiösen Rituale des Festes werden zelebriert und am Ufer jubeln die Menschenmassen dem König zu. Blumen- und Weihrauchduft liegt in der Luft.
Die Verschwörer sind inzwischen schon eifrig dabei, die letzten Vorbereitungen für ihr blutiges Werk zu treffen. Man hält kleine Wachsfiguren bereit, die den Pharao schwächen sollen wie Voodoo-Puppen. Die Praxis, mittels solcher Magie böse Geister auszutreiben, zum Beispiel bei schweren Erkrankungen, ist weit verbreitet, auch unter den Priestern. Aber solcherlei gegen den Pharao zu verwenden, ist bislang beispiellos (vgl. Shaw, 306).
Leider verrät der Papyrus weder, wie der Plan genau ausgeführt werden soll, noch, wie die Verschwörung schließlich aufgedeckt wird. Will man den König erstechen oder erschlagen? Wer soll es tun? Oder sind es tatsächlich nur die kleinen Zauberfiguren, die ihm den Garaus machen sollen? Sicher ist nur: Der Plan fliegt auf, und die Attentäter sowie alle Hintermänner und -frauen werden vor Gericht gestellt und bestraft.
Quasi sofort nach dem missglückten Putsch bildet Ramses III. einen Sondergerichtshof. Dieser besteht aus mehr als einem Dutzend der Beamten, denen er noch vertrauen kann – unter anderem sind Schreiber, Kammerdiener, Schatzmeister und ein Herold dabei. Das Sondergericht genießt vollkommene Handlungsfreiheit. Einige der Verurteilten werden hingerichtet, Mitwisser werden lediglich durch das traditionelle Abschneiden von Nasen und Ohren bestraft (vgl. Vernus, 119). Tejes Sohn, dessen Namen wir nicht kennen, wird gezwungen, sich selbst zu richten.
Heute hat die Forschung Zweifel daran, dass der Anschlag gelang, auch wenn inzwischen bewiesen ist, dass der Pharao ermordet wurde – Ramses’ Tod und das Schöne Fest vom Wüstental lagen nämlich verlässlichen Rekonstruktionen zufolge drei Wochen auseinander. Dennoch starb Ramses III. eines gewaltsamen Todes: Ende 2012 ergaben radiologische und computertomographische Untersuchungen der Mumie, dass dem Pharao die Kehle durchgeschnitten wurde. Vor dem Einbalsamieren wurde in der Wunde noch ein Amulett in Form eines Horusauges platziert, das den Herrscher im Jenseits beschützen und ihm neue Kraft geben sollte.
Sie gingen und verhörten sie, und die, die durch eigene Hand sterben wollten, ließen sie sterben, auch wenn ich nicht genau weiß, wen. Doch meine Anweisungen waren klar, denn ich sagte ihnen: „Achtet darauf, dass niemand bestraft wird durch Rechtsbeugung, mittels ihm nicht übergeordneten Beamten.“ Das sagte ich mehrmals zu den Richtern. […]
Angeklagt wurde Pabekkamen, der große Feind, damals Haushofmeister. Man brachte ihn her, weil er mit Tije und den Bewohnerinnen des Frauenhauses gemeinsame Sache gemacht hatte. Dies hatte er getan, und er hatte ihren Müttern und Geschwistern mitgeteilt, was die Verschwörer vorhatten, und zu diesen gesagt: „Versammelt Leute um euch und lasst Feindschaft wachsen!“ Dadurch wollte er einen Aufstand gegen ihren Herren in die Wege leiten. […] Es wurde angeklagt Irji, der große Verbrecher, damals oberster Priester der Göttin Sechmet. […]
Es wurde angeklagt Inini aus Libyen, der große Verbrecher, damals Kellermeister. Man brachte ihn her als Komplizen des Pabekkamen. Es wurde angeklagt Peluka aus Lykien, der große Verbrecher, damals Kellermeister und Schatzwärter. Man brachte ihn her als Komplizen des Pabekkamen. Es wurde angeklagt Mesedju-Ra, der große Verbrecher, damals Kellermeister. Man brachte ihn her als Komplizen des Pabekkamen, der damals Haushofmeister war, und auch als Komplizen der Frauen, die er dazu aufhetzte, gegen ihren Herren böse zu handeln. […]
Die Frauen der Wächter des Frauenhauses, die bei der Verschwörung mit den Männern gemeinsame Sache machten, brachte man ebenfalls vor den Untersuchungsgerichtshof. Man sprach sie schuldig und ließ sie bestrafen, sechs Frauen waren es. […]
Mehrere Personen wurden bestraft durch das Abschneiden von Nasen und Ohren, denn sie hatten nicht gemäß ihren guten Vorschriften gehandelt. Sie tranken zusammen mit den Angeklagten und wurden zu ihren Komplizen. Deren verbrecherisches Vorhaben infizierte sie.
Jur. P. Turin
(Übers. nach Vernus, 109 f.)
Könnte es mithin zwei verschiedene Verschwörungen gegeben haben? Immerhin taucht der Pharao im Prozesspapyrus als handelnde Person selbst auf. Das allerdings könnte man von einem Mann, der schon zu Lebzeiten als Gott verehrt worden ist, auch mindestens erwarten: dass er nach dem Tod seiner irdischen Hülle noch den Prozess überwacht, bei dem seine Attentäter zur Rechenschaft gezogen werden.
Zumindest in der Kunst lebt Ramses III. weiter, in der bildenden Kunst in erster Linie durch die wunderbaren Reliefs im Palast in Medînet Hâbu. Doch auch literarisch ist der Pharao verewigt worden: Die Haremsverschwörung wurde von Judith Mathes im Roman Tage des Seth (2010) verarbeitet. Ihr gelingt, was im Genre des historischen Romans leider nicht allzu oft zu finden ist: eine detaillierte Darstellung der historischen Ereignisse auf der Basis vorhandener archäologischer Zeugnisse – und das Ganze im Medium einer packenden Erzählung.
Sokrates ist zweifellos der größte Denker der Antike. Seine philosophischen Ansätze sind jedoch so kontrovers, dass ihn die Athener Obrigkeit schließlich anklagt, die Jugend zu verderben – und noch einiges mehr. Im Jahr 399 v. Chr. wird Sokrates zum Tode verurteilt und durch den berühmt gewordenen Schierlingsbecher hingerichtet. Ein Justizirrtum oder die Beseitigung eines unliebsamen Elements durch die Obrigkeit?