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wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.
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Redaktion: Mechthilde Vahsen, Düsseldorf
Satz: Arnold & Domnick, Leipzig
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ISBN 978-3-8062-4127-3
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4152-5
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4153-2
Vorwort
1. Teil Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)
Ein Bild von einem Vater
Waldkind und Jäger
Von der Schreibkraft zum Dichter
Verbotene Liebschaften, vorübergehende Leidenschaften
Der Revolutionär von 1830
Der »kühnste« der romantischen Dichter
Die Affäre um den Turm von Nesle
Romantische Reisebilder: Von Bärensteaks und Ex-Königinnen
2. Teil Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)
Auf dem Weg zum historischen Roman
Superstar und Don Juan
Ehemann und Vater
Rückzug nach Florenz
Die Musketiere erobern Frankreich
Schlag auf Schlag: Der Graf von Monte-Christo
Ein Pamphlet und seine Folgen
Märchenschloss und Traumtheater
3. Teil Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870)
Der Zusammenbruch
Schattenjahre
Sternstunden in Neapel
Auf Abschiedstournee
Epilog: Schlemmen mit Dumas
Zeittafel
Werkverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Werkregister
Danksagung
Abbildungsnachweis
Sein Leben ist immer noch sein bestes und unterhaltsamstes Werk, und der interessanteste Roman, der von ihm bleibt, sind seine Abenteuer«, urteilte der Literaturkritiker Ferdinand Brunetière 1885 über Alexandre Dumas. In der Tat verging zu Lebzeiten Dumas’ kaum ein Tag, an dem in der Presse nicht über ihn berichtet wurde. Er war einer der ersten Superstars der entstehenden Massenöffentlichkeit des 19. Jahrhunderts, der mit spektakulären Erfolgen, Duellen, waghalsigen Einsätzen in der Revolution von 1830, außergewöhnlichen Reisen, zahlreichen Liebschaften, Prozessen und Skandalen den Pariser Zeitungslesern über Jahrzehnte schmackhafte Nahrung bot. Bekannt und befreundet mit allen namhaften Persönlichkeiten seiner Zeit – Théophile Gautier spottete, Dumas habe um die vierzigtausend enge Freunde, Frauen und Kinder nicht mitgezählt –, stand er zugleich im Zentrum der Gesellschaft und erlebte die Umwälzungen und Wechselfälle seiner bewegten Zeit unmittelbar mit.
Und dennoch irrte sich Brunetière. Überlebt haben nicht die Kenntnisse um das ereignisreiche Leben Dumas’, sondern seine Werke, die in alle Sprachen übersetzt wurden und eine moderne Mythologie begründet haben. Figuren wie d’Artagnan oder der Graf von Monte-Christo sind bis heute jedem ein Begriff und haben Generationen von Leserinnen und Lesern inspiriert. Darunter schon Heinrich Heine, der sich schwer krank und bettlägerig 1854 in einem Brief an Dumas wandte, um ihm zu danken: »Auf dem Höhepunkt meiner Krankheit, wenn ich die größten Qualen erduldete, las mir meine Frau Ihre Romane vor, und das war das Einzige, was im Stande war, mich meine Schmerzen vergessen zu lassen. Also habe ich sie alle verschlungen, und während der Lektüre rief ich manchmal aus Was für ein einfallsreicher Dichter dieser große Junge Alexandre Dumas doch ist! Gewiss sind Sie nach Don Miguel Cervantes und … Scheherazade der unterhaltsamste Erzähler, den ich kenne.«
Was könnte man einem Schriftsteller Schöneres sagen? Dumas gehört zu jenen Autoren, die Lust auf Lesen machen und von allen Gesellschaftsschichten gelesen wurden. Das hat man ihm lange nicht verziehen. Sein historisch beispielloser Erfolg zog schon zu Lebzeiten Neider an, die ihn als Literaturunternehmer mit Phantomschreibern brandmarkten. Aber auch die Literaturgeschichte hat ihm über 100 Jahre den Status verwehrt, der ihm zukommt. Denn Dumas bietet keineswegs reine Unterhaltung im Sinne aufregender Episoden. Seine großen historischen Romane sind vielmehr deshalb unterhaltsam, weil sie Geschichte und Drama, Analyse und Spannung miteinander verbinden.
Provoziert hat an Dumas seine ungeheure Produktivität, die ihn wohl zu dem Schriftsteller mit der längsten Publikationsliste seines an Literatur so reichen Jahrhunderts macht. Nur wer eine solche Gabe und eine solche Arbeitskraft neidlos anerkannte, konnte sie wie der Historiker Jules Michelet in einem Brief an Dumas von 1851 rückhaltlos bewundern: »Seit langem schon wollte ich Ihnen schreiben, um Ihnen mein Erstaunen mitzuteilen, in das mich Ihr unerschöpfliches Genie und der unermessliche Strom Ihrer Einfallsgabe versetzt. Sie sind mehr als ein Schriftsteller. Sie sind eine Naturgewalt, und ich hege für Sie dieselbe tiefe Sympathie wie für jene.«
Waren es am Ende 300 oder 500 Bände? Das wusste Dumas selbst nicht mehr. Das Geheimnis seines Genies liegt in dieser unglaublichen Schaffenskraft, die bis kurz vor seinem Tod angehalten hat. Begabt mit einem phänomenalen Gedächtnis konnte er an mehreren Projekten zugleich arbeiten. Wenn er sich an den Schreibtisch setzte und seine Feder über die unlinierten blauen Papierbögen gleiten ließ, die er stets verwendete, dann schrieb er »an guten wie an schlechten Tagen um die 24 000 Buchstaben«, wie er behauptete. Seine Konzentrationsfähigkeit war so hoch, dass er in jeder Lebenslage schreiben und sich trotz der vielen Unterbrechungen, die sein mondänes Leben mit sich brachte, sogleich wieder unbeirrt an die Arbeit setzen und dort fortfahren konnte, wo er aufgehört hatte. Seine fast kalligrafische Schrift machte es den Setzern leicht und ersparte ihm die mühselige Korrektur der Druckfahnen. Dumas besaß das seltene Talent, stets in einem Guss zu schreiben und täglich liefern zu können.
Doch damit nicht genug. Denn es gibt nicht nur einen Alexandre Dumas, sondern gleich drei: neben ihm, der traditionell als Dumas der Ältere bezeichnet wird, noch seinen Vater Alexandre, der auf Haiti als Sohn einer Sklavin und eines Marquis aufgewachsen ist, sowie seinen eigenen Sohn Alexandre, der ab Anfang der 1850er Jahre als einer der erfolgreichsten Schriftsteller des Zweiten Kaiserreichs den Ruhm des Vaters fortführte.
Vor allem die bewegte Lebensgeschichte von Dumas’ Vater, der nach der Revolution eine steile militärische Karriere machte und der erste dunkelhäutige General der französischen Armee wurde, hat einen maßgeblichen Einfluss auf ihn und sein Werk gehabt. Als Sohn eines Mulatten war Dumas sensibilisiert für Fragen der Diskriminierung und Stigmatisierung, so dass sich in seinem Werk kaum Spuren jener eurozentristischen und rassistischen Theorien finden, die im 19. Jahrhundert aufkeimten und das Lesevergnügen bei manch anderen Autoren trüben.
So beglückend ein so bewegtes Leben für einen Biografen auch ist, so schwer fällt es zugleich, sich nicht in der schieren Menge zu verlieren und Schwerpunkte zu setzen. Im Vordergrund des vorliegenden Bandes stehen die frühe Schaffenszeit, in der Dumas neben Victor Hugo der Vorreiter der Romantik in Frankreich gewesen ist und die Theaterwelt mit seinen Dramen eroberte, und seine intellektuelle Entwicklung hin zum historischen Roman, der ihn weltberühmt gemacht hat.
Als Quellen dienten in erster Linie seine Memoiren, die Korrespondenz, die Reiseberichte und die zahlreichen Zeugnisse aus der Presse und seiner Bekannten und Freunde. Da im vorliegenden Format keine Fuß- oder Endnoten vorgesehen sind, habe ich mich bemüht, die Quellen stets so auszuweisen, dass Interessierte sie bei Bedarf auffinden können. Sämtliche Zitate wurde eigens für die vorliegende Biografie neu übersetzt. Um den Text nicht zu überfrachten, wurde auf eine systematische Übersetzung der Werktitel verzichtet. Die Titel werden nur dann übersetzt, wenn dies zum Verständnis nötig ist. In diesem Fall werden bei der ersten Erwähnung der französische Titel und die deutsche Übersetzung in Klammern angeboten; in Anschluss daran wird nur noch der deutsche Titel verwendet. Die bekanntesten Texte wiederum werden gleich mit ihrem deutschen Titel genannt. Zum Verständnis der Hinweise auf finanzielle Fragen ist zu beachten, dass ein Franc aus dem Jahre 1850 ca. 3,30 Euro entspricht.
Ein letztes Wort zum Untertitel der Biografie. Manch einer mag sich fragen, warum Dumas als der vierte Musketier bezeichnet wird, da es schon im Roman vier davon gibt und er eigentlich der fünfte sein müsste. Als der Herausgeber der Zeitung Le Siècle, in welcher der Roman zuerst erschien, vorschlug, ihm den Titel Die drei Musketiere zu geben, fand Dumas dies absurd, eben weil es eigentlich vier seien, aber zugleich umso besser, weil absurde Titel größeren Erfolg hätten. Von daher darf man hoffen, dass er zufrieden damit gewesen wäre, der vierte Musketier genannt zu werden, nicht zuletzt, weil der junge d’Artagnan zum Teil autobiografische Züge hat.
Es ist Dienstag, der 25. Februar 1806, in Villers-Cotterêts, einer Kleinstadt gut achtzig Kilometer nordöstlich von Paris. General Alexandre Dumas, der Herkules von den Antillen, der erste dunkelhäutige General im französischen Heer, der Schrecken der Österreicher und Kriegsheld von Kairo, spürt mit nur 43 Jahren, dass es zu Ende geht. Was seine pausenlosen Kriegseinsätze nicht vermochten, schafft jetzt der Magenkrebs, der wahrscheinlich von Arsenvergiftungen während seiner Gefangenschaft in Neapel ausgelöst wurde.
»Mein Gott, mein Gott, was habe ich bloß getan, dass du mich so jung dazu verurteilst, meine Frau und meine Kinder zu verlassen?«, ruft er verzweifelt und blickt auf seine Gattin Marie-Louise. Vor zwei Tagen war er noch einmal auf sein Pferd gestiegen, hatte sich aber schon nach einer halben Stunde so kraftlos gefühlt, dass er sich ins Bett legen und Marie-Louise den Arzt holen musste. Es sah ganz danach aus, dass er den Mittwoch nicht mehr überstehen würde. Am späten Nachmittag schon hatte Marie-Louise ihren dreieinhalbjährigen Sohn Alexandre vorsorglich zu ihrem Bruder gebracht. Die ältere Tochter Marie befindet sich in einer Pension in Paris.
Jetzt wachen nur seine Frau und eine Nachbarin bei dem General. Marie-Louise kann den Blick nicht von ihm abwenden, so wie damals zur Revolutionszeit im August 1789, als er mit einem Dragonerregiment in ihr Städtchen eingeritten war. Weil man Plünderungen und Unruhen befürchtete, hatte ihr Vater, Claude Labouret, ein angesehener Gastwirt, das Militär zur Hilfe gerufen. Der damals 27-jährige Dumas hatte einiges Aufsehen bei den Leuten erregt, denn er war, wie sein Sohn später schreiben sollte, »einer der attraktivsten jungen Männer, denen man begegnen konnte. Er hatte einen dunklen Teint, samtbraune Augen und jene gerade Nase, die der Mischung von amerikanischen und europäischen Rassen zu eigen ist. Seine Zähne waren weiß, seine Lippen anziehend, sein Hals thronte fest auf den mächtigen Schultern, und er besaß trotz seiner Größe von über 1,80 Meter die Hände und Füße einer Frau.« Solch zierliche Füße und Hände galten als Zeichen edler Herkunft, und seine Kameraden munkelten in der Tat, dass der imposante Mulatte mit den feinen Händen und der guten Erziehung der Sohn eines Marquis sei.
Und welchen Eindruck musste er erst auf die damals 19-jährige Marie-Louise gemacht haben! Er, der Hüne aus Übersee, der die Welt gesehen hatte, während sie als einziges Kind ihrer Eltern in der Provinz aufgewachsen war. Wie aufregend, dass der schöne Dragoner ausgerechnet in ihrem Haus einquartiert wurde! Und welch ein Glücksfall, dass er sich ebenfalls zu der jungen Schönheit hingezogen fühlte!
Vier Monate sollte Dumas im Hause der Labourets verbringen. Was im August mit scheuen und bewundernden Blicken anfing, wurde durch den täglichen Umgang bald vertraut und ebenso schnell zu einer Liebesbeziehung, die am 6. Dezember in der Verlobung gipfelte. Ihre Verbindung scheint nicht lange platonisch geblieben zu sein, denn schon wenig später schrieb Vater Claude an einen Freund, dass er den Moment der Hochzeit kaum erwarten könne: »Den Grund dafür kannst du dir wohl denken.«
Der zukünftige Schwiegersohn sollte nicht nur sein Versprechen halten und Marie-Louise im November 1792 heiraten, sondern auch eine jener rasanten Karrieren machen, die in Umbruchzeiten möglich sind. Nach der Hochzeit war er zwei Wochen bei ihr geblieben und ließ sie schwanger zurück, als er wieder zu seiner Truppe musste. Ab diesem Moment bestand ihre Ehe aus einem Wechsel aus langen Trennungen und kurzem Wiedersehen.
Sie schrieben sich regelmäßig, aber die Briefe waren Wochen, mitunter sogar Monate lang unterwegs. Es war ein Leben in ständiger Angst davor gewesen, dass er gar nicht mehr zurückkommen würde. Frankreich war seit der Revolution ununterbrochen in Kriege und Kämpfe verwickelt, und daher hatte er Marie-Louise 1791, sogar noch vor ihrer Hochzeit, als Erbin eingesetzt. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter Alexandrine Aimée verbrachte er im September 1793 vier Tage bei seiner kleinen Familie, um dann wieder lange fortzubleiben. Ende 1794 kam er für einige Monate, um sich von einer anstrengenden Operation in den Alpen zu erholen.
Sein nächster Einsatz führte ihn nach Ägypten, diesmal blieb er ganze zwei Jahre fort. Einmal hörte Marie-Louise drei Monate nichts von ihm und musste mit dem Schlimmsten rechnen. Im September 1799 erfuhr sie, dass er in Neapel in Gefangenschaft saß. Da waren Erleichterung und Sorge gleich groß gewesen. Im Juni 1801 wurden sie endlich wieder vereint und waren seitdem zusammengeblieben, viereinhalb Jahre lang, die längste Zeit in ihrer 13-jährigen Ehe. 1802 hatten sie einen Sohn bekommen, den kleinen Alexandre. Doch der General war nicht mehr derselbe. In Neapel hatte man ihn mehrmals mit Arsen vergiftet und er litt unter den Folgen. Genauso gelitten hatte auch sein Lebensmut. Er, der einst so tatkräftig gewesen war, der sich im Kampf jeder Gefahr aussetzte, konnte die Untätigkeit, zu der er verdammt war, nicht ertragen. Und jetzt lag er im Sterben. Marie-Louise war erst Mitte dreißig und mochte ahnen, dass sie ihn lange überleben würde – ganze 32 Jahre.
Gegen 22 Uhr bat er um geistlichen Beistand, und man holte eilig den befreundeten Abt Grégoire herbei. Beichten aber wollte der General nicht, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Einmal rief er nach seinem kleinen Sohn, dann winkte er ab, das arme Kind, fügte er hinzu, man solle es nicht aufwecken. Während die Glocken Mitternacht schlugen, starb er in den Armen seiner Frau.
Währenddessen schlief sein Sohn Alexandre im Zimmer einer Cousine. In eben jenem Moment, als der Vater starb, so will sich sein Sohn später erinnern, seien er und seine Cousine von einem heftigen Schlag an die Tür geweckt worden. Für den Jungen bestand kein Zweifel daran, dass sein Vater sich von ihm verabschieden wollte, eine Vorstellung, die er in seinen Memoiren zu einer rührenden Szene verarbeitete:
»Wohin gehst du, Alexandre?«, rief meine Cousine mir zu, »wohin gehst du denn?«
»Das siehst du doch«, antwortete ich ruhig, »ich mache Papa auf, der sich von uns verabschieden will.«
Das arme Mädchen sprang ganz erschrocken aus dem Bett, packte mich, als ich meine Hand auf das Schloss legte, und zog mich mit Gewalt in mein Bett zurück.
Ich wehrte mich in ihren Armen und schrie aus voller Kraft:
»Adieu, Papa! Adieu, Papa!«
Dann fuhr so etwas wie der Hauch eines Atems über mein Gesicht und beruhigte mich.
Dennoch schlief ich mit Tränen in den Augen und Schluchzen in der Kehle wieder ein.
Am nächsten Tag weckte man uns bei Tageslicht.
Mein Vater war genau zu der Stunde gestorben, als der laute Schlag, von dem ich gesprochen habe, an die Tür prallte!
Wie zuverlässig mag die Erinnerung an ein Ereignis sein, das er mit dreieinhalb Jahren erlebte und über vierzig Jahre später zu Papier bringt? Dumas selbst hat keine Zweifel daran, er fügt sogar noch eine Zeichnung in den Text ein, um zu beweisen, dass die Tür von außen unzugänglich war und niemand anklopfen konnte. Aber die Psychologie hat uns gelehrt, dass übersinnliche Ereignisse dieser Art als Wunschfantasien zu verstehen sind, die mit einer solchen Authentizität erlebt werden können, dass man sie für real hält. Und kommt in dieser Szene nicht der verständliche Wunsch zum Ausdruck, eine enge, privilegierte, ja übernatürliche Verbindung zu einem Vater zu haben, den er kaum kennenlernen konnte und dessen Vor- und Nachnamen er trug? Musste der frühe Verlust des Vaters, »das größte Unglück meines Lebens«, wie Dumas es beurteilte, diesen nicht zu einer mythischen Figur machen, um welche die Fantasie ihre Fäden spann?
»Ich betete meinen Vater an«, schreibt Dumas weiter. »Vielleicht war das Gefühl, das ich heute Liebe nenne, in jenem Alter nichts als ein naives Staunen über jene herkulische Statur und jene riesige Kraft, die er mehrmals vor mir bewiesen hatte, vielleicht war es auch nichts weiter als eine kindliche und stolze Bewunderung für seine bestickte Uniform, für seinen dreifarbigen Federbusch und für seinen großen Säbel, den ich kaum hochzuheben vermochte. Jedenfalls ist mir die Erinnerung an meinen Vater heute noch in jeder Linie seines Körpers, in jedem Zug seines Gesichts noch so gegenwärtig, als hätte ich ihn erst gestern verloren. Und so liebe ich ihn schließlich immer noch, ich liebe ihn so zärtlich, so innig und so wahrhaftig, als ob er über meine Kindheit gewacht und ich das Glück gehabt hätte, auf seinen starken Arm gestützt, von der Kindheit ins Jugendalter hinüberzugehen.«
Dieser Vater ist in der Fantasie lebendig geblieben und hat seinen Sohn dort sein Leben lang begleitet. Lag es nicht nahe, dass Dumas die Erinnerung an den mythischen Vater aus der Karibik, der in den Koalitionskriegen in kurzer Zeit vom einfachen Dragoner zum General aufgestiegen war, literarisch wachzuhalten wünschte? Dumas unterbricht den Erzählfluss seiner Memoiren und spricht den Vater mit der rhetorischen Figur der Apostrophe direkt an: »Wie du siehst, mein Vater, habe ich keine einzige jener Erinnerungen ausgelassen, die du mir zu bewahren aufgetragen hast. Denn seitdem ich das Alter der Vernunft erreicht habe, lebt die Erinnerung an dich in mir wie ein heiliges Licht weiter und erhellt alle Dinge und alle Menschen, mit denen du verbunden warst, obwohl die Zeit diese Dinge zerstört und obwohl der Tod diese Menschen mit sich genommen hat!«
Wer war jener General Alexandre Dumas, dessen Lebensgeschichte und früher Tod das Werk seines Sohnes so stark beeinflussen sollten? Seine Biografie vereinte auf faszinierende Weise die größten sozialen Gegensätze, die es in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts geben konnte: Er war Sohn eines Adligen und einer Sklavin.
Sein Vater, Alexandre Antoine Davy de la Pailleterie, stammte aus der Normandie und hatte als Erstgeborener Anspruch auf den Titel des Marquis und auf das Familiengut. Aber er war auch ein skrupelloser Taugenichts, der 1738 aus finanziellen Gründen nach Saint-Domingue (heute Haiti) ging, die ökonomisch wichtigste Kolonie Frankreichs. Dort ließ er sich zunächst von einem jüngeren Bruder aushalten, bis er nach einem heftigen Streit in Jérémie an der schwer zugänglichen Westküste untertauchte, wo er 1749 eine Kaffeeplantage gründete. Von den gut 2600 Menschen, die dort lebten, waren 2100 afrikanische Sklaven und nur knapp 400 Europäer. Bald warf Antoine ein Auge auf eine attraktive Sklavin namens Marie-Césette Dumas, die er für einen stattlichen Preis erwarb und mit ihr vier Kinder zeugte. Sein ältester Sohn, Alexandre, der spätere General Dumas, wurde am 25. März 1762 geboren und verbrachte die ersten zehn Lebensjahre mit seinen drei Geschwistern in den tropischen Landschaften der Karibik.
Antoine besaß eine Vorliebe für den Erstgeborenen und wollte über zehn Jahre später mit ihm als Stammhalter in die Heimat zurückkehren, um sein Erbe anzutreten. Allerdings fehlten ihm die Mittel, um die Reise zu finanzieren. Daher verpfändete er seinen Sohn 1775 an einen Kapitän und bezahlte davon seine Überfahrt nach Frankreich. Für den Sohn muss es ein merkwürdiges Gefühl gewesen sein, allein zurückgelassen zu werden und mit der Angst leben zu müssen, dass der Vater es sich in Frankreich anders überlegte oder überhaupt niemals dort ankam.
Alles verlief nach Plan, Antoine trat in der Normandie sein Erbe an und stieg zum Marquis auf, was den Sohn automatisch zum Grafen machte. Alexandre ging im August 1776 im Alter von vierzehn Jahren in Le Havre an Land, wo der Vater ihn wieder freikaufte. Was aus der Mutter und den Geschwistern wurde, ist nicht bekannt. Der Sohn schien zwischen beiden Eltern hin- und hergerissen zu sein. Mal unterschrieb er mit dem Nachnamen seines Vaters, also Davy de la Pailleterie, mal verband er die Nachnamen von Mutter und Vater zu Dumas-Davy. Die Namensverwirrung verweist nicht nur auf seinen prekären offiziellen Status, sondern dürfte auch Ausdruck einer instabilen Identität gewesen sein. Angesichts der Diskriminierungen von Dunkelhäutigen im Ancien Régime wurde der junge Mann ständig mit der Frage nach seiner Identität konfrontiert und schwankte zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, was er nun eigentlich war: Sklave, Graf, Franzose, Kreole oder Amerikaner, wie man die Einwohner der karibischen Kolonien damals nannte.
Im Herbst 1778 gingen Vater und Sohn nach Saint-Germain-en-Laye im Westen von Paris und lebten dort offenbar auf großem Fuße. Alexandre unterzog sich zugleich einer Ausbildung im Fechten, bei der er wie bei allen physischen Aktivitäten ein außergewöhnliches Talent bewies. Dazu fuhr er häufig ins nahe gelegene Paris und machte sich mit der mondänen Welt vertraut.
Als der Vater 1786 mit 69 Jahren auf die Idee kam, seine dreißig Jahre jüngere Haushälterin zu heiraten, brach ein heftiger Konflikt mit seinem Sohn aus. Die Gründe dafür sind nicht genau bekannt. Hegte der Sohn Groll, dass sein Vater seine Mutter nicht geheiratet hatte? Fürchtete er, dass der Marquis weitere Kinder zeugte, die dann Anspruch auf das Erbe erheben würden? Würde der Vater ihm jetzt vielleicht den Geldhahn zudrehen? Oder verstand er sich mit dessen Frau einfach nicht?
Woran es auch lag, der Konflikt war der Auslöser dafür, dass Alexandre nur zwei Wochen später zur Armee ging. Mehr noch: Am 2. Juni 1786 unterzeichnete er die Anwerbungsliste mit dem Namen Alexandre Dumas und setzte noch »Sohn von Antoine und Cecette Dumas« darunter. Angesichts seiner Namensvielfalt wirkt dies rückblickend wie ein Bekenntnis, denn er verzichtete auf den Adelsnamen und wurde nicht Offizier, sondern einfacher Soldat. Er distanzierte sich damit deutlich von seinem Vater, degradierte ihn sogar zu einem Dumas und erwies stattdessen der Mutter eine Hommage.
Es ist merkwürdig, dass die Mutter überhaupt einen Nachnamen besaß, da Sklaven eigentlich nur Vornamen trugen. Der Name Dumas ist in Frankreich bis heute weit verbreitet. Ein »mas« (von lat. mansum) bezeichnet ein Bauernhaus bzw. Landhaus der Provence, so dass der Name Dumas als Herkunftsbezeichnung mit der Bedeutung »vom Landhaus« zu verstehen ist. Verwies er darauf, dass die Mutter in einem Landhaus gearbeitet hatte? Oder war der Name vielleicht die französisierte Version eines afrikanischen Namens? Dies ist bis heute ungeklärt.
Als Soldat schien Alexandre Dumas seine Identität gefunden zu haben. Nur dreizehn Tage später verstarb der Vater, und damit brach jede Verbindung zur Aristokratie ab. Wie seine weitere Laufbahn zeigt, hatte der Sohn damit nicht nur für sich, sondern auch angesichts der politischen Entwicklungen richtig entschieden. Als kurz darauf die Revolution ausbrach und eine wahre Hexenjagd auf den Adel ausbrach, war aus ihm bereits ein überzeugter Verfechter der Republik geworden, die seine Rechte sicherte und ihn weitgehend vor der Diskriminierung als Mulatten schützte. Seine Karriere begann Dumas als einfacher Dragoner, das heißt als Kavallerist. Die Dragoner waren ziemlich harte Burschen, die als Vorhut das Gelände aufklären mussten und dabei meist als erste Feindkontakt hatten.
Die wichtigste Quelle für die Biografie General Dumas’ stammt aus der Feder seines Sohnes, der die ersten zwanzig Kapitel seiner Memoiren dem Vater widmet. Er rekonstruiert dessen Lebensgeschichte mangels eigener Erinnerungen anhand von Erzählungen seiner Mutter und Kameraden seines Vaters sowie von Briefen und Berichten. Auch wenn spätere Biografen wie Claude Ribbe und Tom Reiss gezeigt haben, dass der Sohn insgesamt ein zutreffendes Bild seines Vaters zeichnet, handelt es sich dabei nicht um eine objektive Biografie, sondern um einen Text, der erzähltechnisch und glorifizierend überformt wurde.
Dies lässt sich gut daran erkennen, dass aus der Chronologie einige Einzelbilder intensiv hervorstechen, in denen sich eine heroische Vorstellung vom Vater herauskristallisiert. Immer wieder spricht er von dessen herkulischem Körper und seiner geradezu übermenschlichen Kraft. So soll er in der Reithalle in der Lage gewesen sein, sich mit den Armen an einem Balken festzuhalten und das Pferd dabei mit dem bloßen Druck seiner Schenkel mit in die Luft zu heben.
Die körperliche Überlegenheit des Vaters verband sich mit einer Furchtlosigkeit und Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber, die ihm im Kampf wiederholt außergewöhnliche Erfolge ermöglichte. Er fühlte sich offenbar am wohlsten, wenn er an vorderster Front im Einsatz war und alles riskieren konnte.
Im Februar 1797 war er in den Alpen im Einsatz und trieb mit seinem Reitertrupp die Österreicher in Tirol nach Norden zurück. Dabei machte er so viele Gefangene, dass die Gegner ihn als schwarzen Teufel bezeichneten. Im März erreichte er das Städtchen Klausen, gut vierzig Kilometer nördlich von Bozen, wo sich die österreichischen Truppen verschanzt hatten. Als Dumas am 23. März dort an der Spitze von dreißig Dragonern einritt, hielt der Gegner eine strategisch wichtige Brücke über der Eisack. Dumas war seiner Einheit voraus und stürmte mit gezücktem Säbel auf die schmale Brücke. Sein Pferd wurde erschossen und brach zusammen, er verschanzte sich hinter dem Körper des Tieres, erwiderte das Feuer und hielt so einer ganzen feindlichen Schwadron stand. Sieben Löcher schossen die Österreicher angeblich in seinen Mantel, er selbst blieb auf wunderbare Weise verschont. Als der Nachschub kam, ergriffen die Österreicher die Flucht.
Von nun an wurde Dumas von den Kameraden als »Horatius Cocles von Tirol« bezeichnet, in Anspielung auf den römischen Volkshelden, der ganz allein die Brücke über den Tiber nach Rom vor den Etruskern verteidigt haben soll, um den Einmarsch der Feinde zu verhindern. Mit einer solchen mythischen Figur verglichen zu werden, war eine hohe Auszeichnung, denn was heute populäre Superhelden sind, waren nach der Revolution die Heroen der römischen Republik.
Ein zweiter denkwürdiger Einsatz ereignete sich während der Ägypten-Expedition im Jahre 1798. Am 21. Oktober brach in Kairo ein Aufstand gegen die französischen Besatzer aus, an dessen Niederschlagung Dumas einen hohen Anteil hatte. Sein Sohn liefert eine anschauliche, weil ungewöhnlich physische Beschreibung des Vaters. Denn als dieser von dem Aufstand erfahren habe, »sprang er beinahe nackt auf ein Pferd ohne Sattel, ergriff seinen Säbel und stürzte sich in die Straßen Kairos an der Spitze einiger Offiziere, die bei ihm waren. … Man weiß, welchen Eindruck die herkulische Schönheit meines Vaters auf die Araber machte. Hoch auf einem großen Dragonerpferd, das er als perfekter Reiter im Griff hatte, erschien er den Arabern als Würgeengel mit flammendem Schwerte, indem er seinen Kopf, seine Brust und seine nackten Arme allen Schlägen auslieferte und sich in die heftigsten Kampfgetümmel mit jener Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber warf, die er immer besessen hatte …«
Die Rivalität zwischen General Dumas und dem späteren Kaiser der Franzosen stellt einen weiteren zentralen Aspekt in Dumas’ Darstellung seines Vaters dar. General Dumas war gut sieben Jahre älter als Bonaparte und gehörte zu einer Gruppe eingefleischter Republikaner unter den Generalen, die mit dem 18. Brumaire untergingen. Zweifellos wusste Bonaparte die Eigenschaften Dumas’ an der Front sehr zu schätzen, und auch seine erste Frau Joséphine, selbst in der Karibik aufgewachsen, war ganz angetan von ihm. In Toulon, von wo aus die Ägypten-Expedition startete, sah es sogar einmal so aus, als würden sie sich nahestehen. Eines Morgens trat Dumas in das Zelt Bonapartes, als dieser gerade damit beschäftigt war, die weinende Joséphine zu trösten. Da auch Dumas seine Frau allein in Frankreich zurückließ, bezog Bonaparte ihn mit ein und versprach, dass beide Frauen nachkommen würden, wenn sie länger in Ägypten bleiben müssten. Und dann ging er noch einen Schritt weiter und sprach das leidige Thema der Nachkommenschaft an: Dumas habe eine Tochter, erklärte Bonaparte, und er selbst mache bisher überhaupt keine Kinder, aber wenn Joséphine erst einmal dort wäre, dann »werden wir alles tun, um jeder einen Jungen zu machen, und wenn wir einen Jungen machen, wird er mit seiner Frau der Pate sein, und wenn er einen Jungen macht, werde ich mit dir Pate sein.«
Gewiss hat Bonaparte dies auch gesagt, um seine Frau zu beruhigen. Aber Napoleon hätte durchaus der Pate des kleinen Alexandre werden können, wenn das Verhältnis zu General Dumas bis dahin nicht zerrüttet gewesen wäre. Zum Bruch kam es während des Ägypten-Feldzugs, der anders verlief als geplant und bei Soldaten und Generalen einige Frustration auslöste.
Schon nach der Eroberung Alexandrias zeigten sich die Mängel in der Planung, da es Dumas, der die gesamte Kavallerie befehligte, nicht gelang, genügend Pferde aufzutreiben, und viele seiner Leute zu Fuß in Richtung Kairo marschieren mussten. Angesichts dieser Strapazen war die Stimmung bereits in Damanhur, gerade einmal 70 Kilometer von Alexandria entfernt, völlig im Keller. Dumas beschaffte Wassermelonen und lud die Generale Lannes, Desaix und Murat in sein Zelt ein. Was als einfacher Imbiss gedacht war, wurde schon bald zu einer Debatte über Sinn und Zweck der Expedition. Weswegen waren sie eigentlich in Ägypten? Wollte sich Bonaparte etwa ein eigenes Königreich aufbauen? Dumas scheint besonders deutlich Dampf abgelassen zu haben. Es dauerte jedenfalls nicht lange, bis Bonaparte, der überall seine Informanten hatte, von dem Gespräch erfuhr und es als eine Art konspiratives Treffen einstufte. In den Denkwürdigkeiten von Sankt Helena berichtet Napoleon davon, wie er in Ägypten einen der Generale anfuhr: »Sie haben aufrührerische Reden gehalten …, passen Sie auf, dass ich nicht meine Pflicht erfülle. Ihre fünf Fuß elf Zoll werden Sie nicht davor bewahren, in zwei Stunden füsiliert zu werden.« Zwar wird hier kein Name genannt, so wie Napoleon General Dumas überhaupt in den Denkwürdigkeiten nicht namentlich erwähnt, aber für seinen Sohn besteht kein Zweifel daran, dass damit sein Vater gemeint war.
Als sie endlich Kairo erobert hatten, änderte dies nur wenig an der schlechten Stimmung. Dumas verfiel bald darauf in eine Art Melancholie und wollte unbedingt zurück nach Frankreich. Aber dann kam es am 1. und 2. August 1798 zu der für die Franzosen desaströsen Seeschlacht gegen die Engländer vor Abukir, bei der sie nahezu ihre gesamte Flotte verloren. Jetzt waren nicht nur die Nachschublinien nach Frankreich gekappt, auch an eine Rückkehr war vorerst nicht zu denken. Daher konnte Dumas erst am 7. März 1799 Ägypten von Alexandria aus auf einem zivilen Schiff verlassen. Schon bald zeigte sich, dass das Schiff nur bedingt seetauglich war. Wegen Unwetters steuerten sie den nahen Hafen von Tarent an, der zur Neapolitanischen Republik gehörte, die liberale Patrioten im Geist der Französischen Revolution ausgerufen hatten. Die Franzosen konnten also darauf hoffen, freundlich empfangen zu werden. Umso größer war die Enttäuschung, als sie feststellen mussten, dass Tarent wieder in die Hände der alten Krone gefallen war. Ein französischer General stellte eine wertvolle Beute für König Ferdinand IV. von Neapel dar, und so wurde Dumas dort festgehalten.
Laut Bericht des Generals erhielt er am 16. Juni von einem Arzt mit Arsen vergiftete Kekse, die heftige Schmerzen und Erbrechen auslösten. Die Symptome, die sich in der Folgezeit einstellten, darunter Sehverlust, Gesichtslähmungen, Bauchschmerzen und der spätere Magenkrebs, dürften diese Vermutung bestätigen. Aber Dumas war hartgesotten und hielt bis Anfang 1801 durch, als die Franzosen Neapel zurückeroberten. Ende März wurde Dumas in Richtung des französischen Stützpunkts in Ancona verschickt, im Juni kam er nach Paris, wo er seine Frau in der Wohnung seines Freundes General Brune wiedersah.
Er sollte nie wieder in den Dienst zurückkehren. Als Bonaparte erfuhr, dass Dumas körperlich schwer angeschlagen war, hatte er keine Verwendung mehr für ihn. Damit begannen Geldsorgen, die der jetzige General a. D. bis zu seinem Tod nicht lösen würde. Er forderte seinen Sold für die Zeit der Gefangenschaft sowie einen Teil der Reparationszahlungen Neapels, erhielt aber nur zwei Monate ausbezahlt und bekam von den Reparationen schlichtweg gar nichts. Unglücklicherweise war Alexandre Berthier, ein enger Vertrauter Bonapartes, mit dem sich Dumas in Italien überworfen hatte, jetzt der verantwortliche Kriegsminister und nicht gewillt, ihm entgegenzukommen. Im September 1801 war die Verzweiflung so groß, dass er einen Bittbrief an Bonaparte verfasste: »Ich hoffe doch, Herr General und Konsul, dass Sie nicht zulassen werden, dass ein Mann, der Ihre Mühen und Gefahren geteilt hat, wie ein Bettler dahinsiecht, wenn es in Ihrer Macht steht, ihm über die Not hinwegzuhelfen, indem Sie ihm einen Beweis der Großzügigkeit der Nation gewähren, deren ausführende Kraft Sie sind.«
Aber es half nichts. Zur persönlichen Ungnade, in die Dumas gefallen zu sein schien, kam bald noch eine rassistische Politik hinzu, die Schwarze diskriminierte und seine Rückkehr als Offizier der Armee unmöglich machte. Für seinen Sohn steht fest, dass der Vater ein Opfer von Bonapartes Ranküne geworden ist, die sich sogar noch auf sein eigenes Leben erstreckt habe, da er niemals in eine Militär- oder eine staatliche Schule aufgenommen worden sei.
Für das Verständnis von Leben und Werk des Schriftstellers Dumas muss man sich bewusst machen, welch ein breites Reservoir an Erzählstoffen die faszinierende Biografie des Vaters lieferte. Dies lässt sich an dem Bericht des Generals vom 5. Mai 1801 über seine Gefangenschaft in Neapel veranschaulichen, den Dumas in seine Memoiren einfügte. Er übernahm ihn allerdings nicht wörtlich, sondern unterzog ihn einer gründlichen Überarbeitung. Ein Vergleich mit dem Original, das sich heute im Dumas-Museum in Villers-Cotterêts befindet, zeigt, wie Dumas vorgegangen ist, und gibt weitere Aufschlüsse darüber, wie sehr das Schicksal seines Vaters sein Schreiben beeinflusst haben dürfte.
Dass der Sohn den Bericht mit Dialogen verlebendigt, Passagen umstellt, ausschmückt und den Vater mitunter heroischer macht, gehört wohl zum Beruf des Schriftstellers. Genauso interessant ist jedoch auch, was er auslässt. Am Ende des Textes spricht der Vater nämlich davon, »Rache zu nehmen« an Ferdinand IV., den er für seine Misshandlungen während der Gefangenschaft verantwortlich macht. Sein Sohn wird diese Bemerkung tilgen und stattdessen eine Passage einfügen, die eine deutlich humanere Botschaft enthält: »Obwohl mein Leben nun nicht mehr lange dauern wird, danke ich im Übrigen dem Himmel, dass er es mir bis zu dieser Stunde bewahrt hat, denn, so nahe ich dem Tod auch sein mag, habe ich noch genügend Kraft, der Welt gegenüber die Reihe der Misshandlungen anzuklagen, für die weniger zivilisierte Völker sich schämen würden, sie ihren ärgsten Feinden anzutun.«
Für den Sohn stand damit zwar fest, wer für den Tod seines Vaters und für das größte Unglück seines eigenen Lebens verantwortlich war. Allerdings wird aus Rache bei ihm Anklage. Mit Rache sind Taten verbunden, mit Anklage Worte. Angesichts der vielen Analogien, die das Werk Dumas’ zur Biografie seines Vaters aufweist, darf man vermuten, dass sein Schreiben im Kern immer auch der Versuch war, die Erinnerung an den Vater zu beleben und jene Rache zu vollziehen, indem er schreibend anklagte. Allein im Grafen von Monte-Christo finden sich mit Gefangenschaft oder Vergiftung zentrale Motive, die einen Bezug zum Vater haben; und mit Georges hat Dumas einen ganzen Roman dem Schicksal eines Mulatten gewidmet, der sich für all das Leid rächt, das ihm zugefügt wurde. Das Rache-Motiv lässt sich somit partiell als biografisches Substrat verstehen, über das fiktiv Gerechtigkeit hergestellt wird. Wie ein Motor treibt dieses Bedürfnis den Vielschreiber bis zu seinem späten umfangreichen Roman La San Felice an, der im Königreich von Neapel zwischen 1798 und 1800, also genau in den Jahren spielt, als der Vater dort gefangen gehalten wurde.
Damit ist das Werk Dumas’ auch ein Denkmal für seinen Vater, dem offizielle Ehrungen verwehrt blieben und dessen Andenken offenbar der persönlichen Ungnade Napoleons und dem Rassismus seiner Zeit zum Opfer fielen. Im 19. Jahrhundert erinnerte lediglich der Triumphbogen, der 1836 fertiggestellt wurde, an General Dumas, dessen Name in der 23. Kolumne auf der Südsäule eingemeißelt ist.
Der Tod des Vaters im Jahre 1806 stellte einen harten finanziellen Einschnitt dar. Bald musste die Witwe erfahren, dass sie aufgrund eines neuen Gesetzes keinen Anspruch auf seine Pension hatte, da ihr Mann weder auf dem Felde noch innerhalb von sechs Monaten an den Folgen eines Einsatzes gestorben war. Auch die Freunde des Generals, Brune und Murat, erreichen nichts. Napoleon soll Brune sogar angefahren haben, er dürfe ihm gegenüber »nie wieder von diesem Manne sprechen«.
Dumas’ ältere Schwester Marie konnte ihre Erziehung in Paris nicht weiterführen und musste zurück nach Villers-Cotterêts. Zu dritt zogen sie in das Sterbezimmer des Vaters, wo sie ständig an den Verlust erinnert wurden. Noch vierzig Jahre später wird Dumas Napoleon für ihren sozialen Absturz verantwortlich machen und den längst verstorbenen Kaiser mit einer Apostrophe ansprechen, als sei er noch lebendig: »Majestät, Ihr möget ein Hannibal, Ihr möget ein Cäsar, Ihr möget ein Octavian sein. Das wird die Nachwelt entscheiden … Gewiss aber seid Ihr kein Augustus! Denn Augustus trat selbst für den alten Soldaten ein, der unter ihm in Actium gedient hatte, und Sie hingegen verurteilen die Witwe desjenigen zur Armut, der nicht nur unter Ihnen, sondern auch mit Ihnen gedient hatte!«
Das waren alles andere als gute Voraussetzungen. Was sollte unter diesen Umständen aus der Familie und aus Alexandre werden?
Wie eine Halbinsel lag das Städtchen Villers-Cotterêts zu Beginn des 19. Jahrhunderts inmitten des endlosen Waldes von Retz, der sich nur nach Westen hin öffnete. Seit Langem galt er mit seinen kräftigen Buchen und Eichen als einer der edelsten und gepflegtesten Wälder Frankreichs. Als Dumas geboren wurde, befand sich der Wald in Staatsbesitz. Während des Ancien Régime hingegen gehörte er dem Hause Orléans, das dort der Jagd auf Hirsche, Rehe, Wildschweine und Fasane frönte. Auch unter den Männern der ca. 2400 Einwohner des Städtchens war die Jagd und nicht selten die Wilddieberei weit verbreitet.
Auf diesem Fleck im Grünen kannte jeder jeden, und gesellschaftlich herrschte jene für kleine Ortschaften typische Mischung aus Solidarität und Kontrolle. Hier verbrachte Dumas seine ersten zwanzig Lebensjahre, hier war es, wo die Grundlagen für jenes Selbstvertrauen und jene ungeheure Schaffenskraft gelegt wurden, die ihn auszeichnen.
Seine Mutter Marie-Louise Labouret gehörte einer alteingesessenen und angesehenen Familie an. Auch ihr erfolgreicher Ehemann, der nach seinem Tod weiterhin »der General« genannt wurde, hatte die Achtung, die man der Familie zollte, noch vermehrt. Jetzt, da die staatliche Unterstützung versagte, konnte sie auf die Hilfe der Gemeinschaft zählen, und sie würde diesen Beistand benötigen, denn in den folgenden Jahren starben auch ihre Eltern. Als Vater Claude 1809 verschied, erbte sie ein Haus und ein Grundstück, das man dem Besitzer Nicolas Harlet gegen Wohnrecht und Rente zu Lebzeiten abgekauft hatte. Dieser war zwar schon achtzig Jahre alt, erfreute sich aber bester Gesundheit und sollte erst 1820 das Zeitliche segnen. Ein solches Erbe war eine finanzielle Belastung, für die Marie-Louise eine Hypothek aufnehmen musste.
Trotz all der Sorgen wurde sie Alexandre eine gute Mutter, die es verstand, den Verlust auf emotionaler Ebene abzumildern, die nachsichtig war und dem Sohn ungewöhnlich viel physische Nähe schenkte. Beide schliefen bis zu Alexandres 16. Lebensjahr in einem Zimmer.
Ohne Vater aufzuwachsen hieß im 19. Jahrhundert vor allem, ohne väterliche Autorität groß zu werden. Denn der Vater übernahm eine Schlüsselrolle in der Familie und verfügte im Vergleich zu heute über eine erstaunliche Machtfülle. Zwar blieb sein Vater immer präsent, schon allein deshalb, weil der tägliche Gang zum Friedhof ihn nicht in Vergessenheit geraten ließ. Aber Alexandre musste ihn nicht als Autorität erleben, sondern konnte das heroische Bild, das ihm mitgegeben wurde, nach Belieben ergänzen. Er wuchs somit ziemlich ungebunden auf. Nicht dass es an väterlichen Ersatzfiguren gefehlt hätte, die übrigens auch in seinen Werken immer wieder auftauchen. Was sind M. de Tréville und Athos für d’Artagnan, was ist Abt Faria für Edmond Dantès anderes als väterliche Mentoren? Aber diese Ersatzväter haben nicht dieselbe Verbindlichkeit wie der eigene Vater, denn sie sind umgehbar und austauschbar.
Eine enge Beziehung pflegte man zur Familie Deviolaine. Der autoritäre Familienvater Jean Michel Deviolaine, der Alexandre Angst einflößte, war mit einer Cousine von Marie-Louise verheiratet, mit der er vier Kinder hatte. Als staatlicher Forstinspektor war M. Deviolaine eine wichtige Person im Städtchen. In dessen englischem Garten und in dem angrenzenden Park mit seinen imposanten Bäumen verbrachten die Kinder und Alexandre viele glückliche Stunden.
Und schließlich war da noch sein Tutor Jacques Collard, der ein Schloss in Villers-Hélon besaß, wo sich an Bach und Felsen die Welt erkunden ließ. Dort bekam Alexandre eine große Bibelausgabe in die Hand, die er intensiv las. Hinzu kamen noch Robinson Crusoe, jenes einzige Buch, dessen Lektüre Rousseau jungen Lesern erlauben wollte, weil es praktisches Wissen vermittelte, und die Lettres à Emilie sur la mythologie, in denen er alles über die antiken Götter und Heroen lernte. So hatte Alexandre sich schon sehr früh autodidaktisch einen Teil der humanistischen Allgemeinbildung angeeignet, von der er als Schriftsteller zehren sollte. Alle Versuche, ihn auf eine Schule zu schicken, scheiterten zunächst. Alexandre lernte von seinem Umfeld und hatte bereits früh Interessen, in die er sich ganz vertiefen konnte.
Nach eigener Aussage war er als Kind blond, hellhäutig, mit blauen Augen, dicken Lippen und schiefen Zähnen. Erst im Jugendalter habe er phänotypisch Züge seines Vaters angenommen, indem sein Haar kraus wurde und die Haut sich verdunkelte. Seine Intelligenz und auffällig gute physische und motorische Entwicklung schenkten ihm ein ungewöhnlich hohes Selbstvertrauen, was sich an einer Episode aus seiner kurzen Schulzeit gut veranschaulichen lässt.
1810 eröffnete Abt Grégoire in Villers-Cotterêts eine Privatschule für die Söhne von Bürgern und Händlern. Als Alexandre sie ab Oktober 1811 besuchte, lockte man den Neuling am ersten Schultag in eine Falle. Als er durch das große Eingangstor trat, wurde er von oben von den anderen Jungen von Kopf bis Fuß so sehr bepinkelt, dass es an ihm heruntertropfte. Abt Grégoire bestrafte die Schuldigen mit der Zuchtrute, aber Alexandre befürchtete, dass ihm dies nur noch mehr Ärger einbringen würde. Nach dem Schlussgebet wartete er ab und verließ als Letzter das Schulgebäude in der Hoffnung, das Gewitter würde sich verziehen. Doch er hatte sich getäuscht, denn er wurde im Schulhof bereits erwartet. Der 14-jährige Bligny sollte ihn stellvertretend für alle verprügeln. Alexandre war deutlich jünger und musste eine Entscheidung fällen: Sollte er es allein ausstehen oder den Abt zu Hilfe rufen, damit er ihn bis nach Hause eskortierte?
Aber das würde den Kampf nur aufschieben, denn irgendwann würden sie ihn doch allein erwischen. Dann kam ihm die Erinnerung an seinen Vater zu Hilfe. Wie oft hatte man ihm erzählt, dass dieser am ersten Tag im Dragonerregiment ganze drei Duelle bestehen musste! Diesem Vater wollte er sich doch als würdig erweisen!
Aber als er auf den Schulhof trat, wo die Jungen sich im Halbkreis hingesetzt hatten, um zuzuschauen, wie Bligny ihn verdrosch, da rutschte ihm für einen Moment das Herz in die Hose. Als dann jedoch Gebrüll und Beleidigungen auf ihn niedergingen, stieg ein trotziger Mut in ihm auf. Er riss sich zusammen, indem er sich mit Worten selbst anstachelte:
»Aha!«, sagte ich an Bligny gewandt, »aha! So ist das also!«
»Ja, so ist das«, antwortete er.
»Du willst dich also prügeln, was?«
»Ja, das will ich.«
»Aha! Das willst du also?«
»Ja!«
»Also willst du es, oder?«
»Ja!«
»Na schön, dann warte nur!«
Jetzt war ich so weit. Ich legte meine Bücher auf den Boden, warf meine Jacke hin und dann stürzte ich mich auf meinen Gegner und rief:
»Aha! Du willst dich also prügeln? … Prügeln willst du dich? … Dann warte nur, na warte nur, warte nur!«
Der Kampf dauerte keine Minute. Alexandre war so in Fahrt und wirkte so furchtlos, dass er Bligny mit zwei Faustschlägen, die nur leicht erwidert wurden, besiegte. Das machte Eindruck. Durch das Schultor, das am Morgen noch ein Ort der Schande gewesen war, schritt er jetzt wie durch einen Triumphbogen nach Hause. Er hatte sich Respekt verschafft und zugleich erlebt, wie er sich die Kraft der Sprache zunutze machen konnte. Wie sollte man da kein Selbstvertrauen bekommen?
In der Schule lernten die Jungen Algebra, Rechnen und Latein. Alexandre tat sich nirgends hervor, schon gar nicht im Rechnen. Aber die Schulzeit blieb sowieso nur eine kurze Episode, denn schon 1813 musste Abt Grégoire seine Einrichtung wieder schließen. Marie-Louise stand erneut vor der Frage, was aus dem Sohn werden sollte. Immerhin hatte seine Schwester Marie im Juni geheiratet und war versorgt. Wie sehr sich Marie-Louise um die Ausbildung ihres Sohnes kümmerte, zeigt sich daran, dass sie ihn nun in Einzel- und Gruppenunterricht schickte. Sein bisheriger Lehrer Abt Grégoire brachte ihm weiterhin Latein bei, bei M. Mounier lernte er zu fechten, und M. Oblet lehrte neben Mathematik auch Kalligraphie, für die Alexandre ein großes Talent zeigte. Diese Fähigkeit sollte für ihn noch eine entscheidende Rolle spielen.
1814 holten die Kriege Frankreich auf eigenem Boden ein. Es stand eine Invasion der Koalitionsmächte bevor, preußische und russische Truppen näherten sich. Wie in den beiden Weltkriegen des folgenden Jahrhunderts wurde vor allem der Norden Frankreichs davon betroffen. Als Station auf dem Weg nach Paris war Villers-Cotterêts unmittelbar bedroht. Fiebrig fingen die Einwohner an, Wertgegenstände zu verstecken. Besonders gefürchtet waren die Donkosaken, über deren Grausamkeit furchtbare Geschichten erzählt wurden. Am 3. März sprengte tatsächlich ein verirrter Kosakentrupp durch die Stadt und erschoss einen neugierigen Händler. Abgesehen davon blieb man weitgehend von den Kriegshandlungen verschont. Marie-Louise wollte allerdings kein Risiko eingehen und brachte sich mit Alexandre am 20. März in Paris in Sicherheit. Aber auf dem Weg dorthin wurden sie Zeuge unmittelbarer Kampfhandlungen, bei denen vor ihren Augen mehrere Soldaten ums Leben kamen.