Dr. Jekyll und Mr. Hyde

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Mister Utterson, der Anwalt, war ein Mann mit einem charaktervollen Gesicht, das nie von einem Lächeln erhellt wurde; er war leidenschaftslos, unzugänglich, im Gespräch verlegen und jeder Gefühlsäußerung abhold, mager, lang, verstaubt und düster, und doch war er irgendwie liebenswert. Bei freundschaftlichen Zusammenkünften und wenn der Wein seinem Geschmack entsprach, strahlte etwas wie tiefe Menschlichkeit aus seinen Augen; etwas, das nie in seinem Gespräch zum Ausdruck kam, das sich aber nicht nur in diesen schweigenden Symbolen seines After-Dinner-Gesichtes zeigte, nein öfter noch und lauter aus seiner Lebensführung sprach. Er war hart mit sich selbst. War er allein, so trank er nur Gin, um seine Neigung für erlesene Weine abzutöten; und obgleich er das Theater leidenschaftlich liebte, hatte sein Fuß seit zwanzig Jahren nicht mehr die Schwelle eines Theaters überschritten. Andern gegenüber hatte er jedoch wiederholt seine Toleranz bewiesen. Mit einer fast an Neid grenzenden Bewunderung sprach er bisweilen über die energievolle Klugheit, die sich in ihren Missetaten zu erkennen gab; und war Not am Mann, war er eher geneigt zu helfen als zu verurteilen. »Ich verstehe Kains Ketzerei«, pflegte er in seiner etwas altmodisch gezierten Art zu sagen: »Ich lasse meinen Bruder auch auf seine eigene Fasson zum Teufel gehen.« Bei dieser Charakterveranlagung

Bei einer dieser Streifereien traf es sich, daß sie ihr Weg in eine Nebenstraße eines der Londoner Geschäftsviertel führte. Die Straße war eng und was man so ruhig nennt, aber wochentags blühte in ihr ein lebhafter Handel. Die Bewohner waren anscheinend alle gut gebettet und eifrig bemüht, noch bessere Geschäfte zu machen und den Überschuß ihres Gewinnes prahlerisch zur Schau zu stellen, so daß die Schaufenster längs der Straße einladend wie zwei Reihen lächelnder Verkäuferinnen dastanden. Selbst an Sonntagen, wenn die Gasse ihre etwas aufdringlichen Reize verschleierte und vergleichsweise von Passanten entblößt war, strahlte sie im Gegensatz zu der trübseligen Nachbarschaft wie ein Feuer im dunklen Walde, und mit ihren frisch gestrichenen Fensterläden, den blitzenden Messingstäben, der allgemeinen Properkeit und betonten Lustigkeit nahm sie sofort das Auge der Spaziergänger gefangen und erfreute Herz und Sinne.

Zwei Häuser von der Ecke entfernt zur Linken, wenn man nach Osten zu ging, wurde die Straßenlinie durch einen sich hier öffnenden Hof unterbrochen, und gerade an dieser Stelle schob ein gewisser düster ausschauender Häuserblock seinen Giebel in die Straße vor. Er war zwei Stock hoch, besaß keine Fenster, nichts außer einer Tür in der unteren Etage und oben eine blinde Fassade aus verwittertem Mauerwerk. Jeder Teil des Gebäudes trug die Merkmale langer und filziger Vernachlässigung. Die Tür, die weder Klingel noch Klopfer trug, war mit Blasen und

Die beiden Herren gingen auf der anderen Seite der Nebenstraße. Als sie sich dem Hofeingang gegenüber befanden, hob Mr. Enfield seinen Stock und deutete auf das Haus.

»Hast du diese Tür je bemerkt?« erkundigte er sich, und als sein Begleiter bejahte, fügte er hinzu: »In meiner Erinnerung ist mit ihr eine sehr seltsame Geschichte verknüpft.«

»Wirklich?« sagte Mr. Utterson mit einer kaum merklichen Veränderung in seiner Stimme. »Und um was handelt es sich?«

»Nun, es war folgendermaßen«, erwiderte Mr. Enfield. »Ich befand mich auf halbem Wege von irgendeinem Ort am Ende der Welt. Ein düsterer Wintermorgen. Es mochte etwa drei Uhr sein, und mein Weg führte mich durch einen Teil der Stadt, wo tatsächlich nichts zu sehen war außer Laternen. Straße auf Straße und alle Menschen in tiefem Schlaf – Straße auf Straße, alle erleuchtet wie für eine Prozession und alle leer wie eine Kirche –, bis ich endlich in jenen Gemütszustand geraten war, da man lauscht und lauscht und sich nach dem Anblick eines Schutzmannes zu sehnen beginnt. Auf einmal erblickte ich zwei Gestalten: die eine ein kleiner Mann, der in scharfem

»Pfui, pfui!« sagte Mr. Utterson.

»Ich sehe, du hast das gleiche Empfinden wie ich«, sagte Mr. Enfield. »Ja, es war eine häßliche Geschichte; denn mein Mann war ein Bursche, mit dem niemand etwas zu tun haben mochte, ein hundsmiserabler Kerl; und die Persönlichkeit,

Aus seinem Nachgrübeln riß ihn Mr. Uttersons etwas unvermutete Frage: »Und du weißt nicht, ob der Aussteller des Schecks dort wohnt?«

»Das wäre ein passender Platz, nicht wahr?« entgegnete Mr. Enfield. »Aber zufällig kenne ich seine Adresse. Er wohnt in einem anderen Viertel.«

»Und du hast dich nie nach – nach dem Platz mit der Tür erkundigt?« fragte Mr. Utterson.

»Nein, Verehrtester. Ich hatte eine gewisse Scheu«, war die Antwort. »Ich stelle überhaupt sehr ungern Fragen; es schmeckt mir zu sehr nach einem Verhör. Du wirfst eine Frage auf, und es ist, als hättest du einen Stein ins Rollen gebracht. Du sitzt gemächlich auf der Spitze des Hügels, und der Stein rollt talwärts und reißt andere mit; bald wird irgendein sanfter, alter Vogel (an den du am wenigsten gedacht hättest) in seinem eigenen Garten am Kopfe getroffen, und der Familie bleibt nur übrig, ihren Namen zu ändern. Nein, Verehrtester, ich mach’ es mir zur Regel: Je mehr eine Sache nach dieser verdächtigen Straße schmeckt, desto weniger frage ich.«

»Eine sehr vernünftige Regel«, meinte der Anwalt.

Wieder schritt das Paar eine Weile still und versunken weiter, dann sagte Mr. Utterson: »Enfield, das ist eine gute Regel.«

»Ja, das meine ich auch«, erwiderte Enfield.

»Aber trotzdem«, fuhr der Anwalt fort, »gibt es einen Punkt, über den ich mich noch erkundigen möchte. Ich möchte den Namen des Mannes wissen, der das Kind niedertrampelte.«

»Schön«, entgegnete Mr. Enfield, »ich sehe nicht ein, was das schaden könnte. Es war ein Mann namens Hyde.«

»Hm«, sagte Mr. Utterson, »wie sieht der Mensch aus?«

»Er ist nicht leicht zu beschreiben. Es liegt etwas Schlimmes in seiner Erscheinung; etwas Unangenehmes, etwas geradezu Widerwärtiges. Noch nie sah ich einen Menschen, der mir so mißfiel, und dennoch weiß ich kaum, weshalb. Er muß irgendwie mißgestaltet sein. Man

Mr. Utterson ging wieder eine Weile schweigend und offenbar in tiefes Nachdenken versunken weiter.

»Bist du sicher, daß er einen Schlüssel benutzte?« erkundigte er sich endlich.

»Aber mein Lieber …«, begann Enfield vor Erstaunen außer sich.

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Utterson, »ich weiß, diese Frage muß dir seltsam vorkommen. Tatsache ist, wenn ich mich nicht nach dem Namen des anderen Partners erkundige, so hat das seinen Grund darin, daß ich ihn bereits kenne. Du siehst, Richard, deine Geschichte hat auf mich einen tiefen Eindruck gemacht. Falls du in irgendeinem Punkte unexakt gewesen bist, wäre es gut, das zu berichtigen.«

»Du hättest mich eigentlich warnen können«, erwiderte der andere mit einem Anflug von Verstimmtheit, »aber ich bin pedantisch genau gewesen, wie du zu sagen pflegst. Der Bursche hatte einen Schlüssel und, was wichtiger ist, er besitzt ihn noch. Noch keine Woche ist es her, als ich ihn den Schlüssel benutzen sah.«

Mr. Utterson seufzte tief, sprach aber kein Wort mehr, und der Jüngere fuhr nach einer Weile fort: »Das ist mir

»Von Herzen gern«, stimmte der Anwalt zu. »Hand darauf, Richard.«