Über das Buch:
Endlich ist der Mann ihrer Träume nach Gobbler’s Knob zurückgekehrt – in Leahs Nähe! Sollte nach all den Jahren doch noch alles gut werden für sie beide? Leah wagt es kaum zu hoffen. Zu vieles gibt es, das ihrem Glück gefährlich werden könnte. Nicht zuletzt das dunkle Geheimnis, dessen Enthüllung das Schicksal der Ebersol-Schwestern auf den Kopf stellen würde. Reißt der Sturm der Veränderungen die Schleier mit sich, die Leah und Sadie über die Sache gebreitet haben?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

„Was können wir tun?“, fragte Sadie bestürzt und schaute mit aschfahlem Gesicht unter ihrer Quiltdecke hervor.

Leah war nach nebenan ins Großvaterhaus gegangen, die Stufen hinaufgeeilt und hatte sich leise auf die Bettkante ihrer Schwester gesetzt, aber ein paar Minuten gewartet, ehe sie ihr alles anvertraut hatte. Sie brauchte einfach einen Menschen, mit dem sie über das Dilemma, in dem sie sich befanden, sprechen konnte. Und das alles nach viel zu wenig Schlaf, da Jonas fröhlich unbekümmert vergessen hatte, dass sie nicht mehr sechzehn waren, und sie erst wenige Stunden vor Tagesanbruch nach Hause gebracht hatte, auch wenn sie sich darüber kein bisschen beklagte.

„Ich habe mir das Gehirn zermartert, und mir fällt wirklich nichts anderes ein, als dass wir Lydiann alles über Jake anvertrauen müssen“, gab Leah zu.

Sadie seufzte und legte die Stirn in tiefe Falten. „Furchtbar riskant ... es sei denn, dass sie es wirklich für sich behält.“ Mit einem etwas unsicheren Blick flüsterte sie: „Ich muss dir etwas beichten.“

„Was denn, Schwester?“

Sadie holte tief Luft und zog die Decke bis zu ihrem Hals hoch. „Wahrscheinlich bist du nicht glücklich darüber, aber manchmal bete ich dafür, dass Jake nach Hause kommt. Vielleicht zieht etwas in mir ihn hierher zurück.“ Sadies schläfrige blaue Augen verrieten ihre gemischten Gefühle, die in einer schuldbewussten Hoffnung zu münden schienen. Leah wusste, dass sie, wenn sie an der Stelle ihrer Schwester wäre, wahrscheinlich genauso empfinden würde.

„Ich kann dir daraus wirklich keinen Vorwurf machen“, antwortete Leah. „Ich wünschte nur, Jake wäre nicht mehr in unsere Lydiann verliebt. Das macht alles so kompliziert.“

„Ja, und sie ist auch Hals über Kopf in ihn verliebt.“ Sadie erzählte, dass sie erst gestern Lydiann oben im Wald getroffen hatte. „Sie saß unter einem Baum und weinte sich die Augen aus. Sie hatte einen Stift und Papier dabei und sah aus, als würde sie einen Brief schreiben ... zweifellos an Jake.“ Sadie warf in einer einzigen schnellen Bewegung die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Sie ging zu den Holzhaken an der Wand hinüber und nahm ihren Bademantel. Schnell schlüpfte sie hinein und band den Gürtel langsam zu einem Knoten. Als sie in dem langen Mantel vor Leah stand, sah sie einsam und verloren aus. „Manche Dinge gehen mir einfach nicht aus dem Kopf.“

Leah blieb ruhig auf dem Bett sitzen und wagte es nicht, sie zu trösten, obwohl Sadie so wirkte, als belaste sie noch mehr als nur die Nachricht über ihren Sohn.

Sadie drehte sich zum Fenster um und schaute hinaus. Leah wusste nicht, worauf ihr Blick gerichtet war, vielleicht auf den Wald oder das gemütliche Blockhaus am Waldrand. Sadie atmete schwer und seufzte.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Leah und trat neben sie.

„Dir muss nichts leid tun.“ Sadie vergrub den Kopf an Leahs Schulter. „Nichts von alledem ist deine Schuld.“

„Aber trotzdem trage ich mit daran.“ Sie wollte Sadie an all die guten Dinge erinnern, die der Herr ihnen geschenkt hatte – den Segen, der unübersehbar von der Hand ihres himmlischen Vaters gekommen war –, aber sie war klug genug, diese Gedanken für sich zu behalten. Es ist besser, wenn Sadie einfach weinen darf ...

Einige Augenblicke später zog Sadie ein Taschentuch aus der Tasche ihres Bademantels. „Wir hätten es Lyddie von Anfang an sagen sollen“, überlegte sie schluchzend. „Sobald wir wussten, dass Jake sich mit ihr traf. Dann würden wir jetzt nicht in diesem Dilemma stecken.“

Leah nickte und fühlte sich furchtbar hilflos und ratlos. „Was in aller Welt haben wir uns nur dabei gedacht?“

Sadie zuckte die Achseln. „Wir dachten, Lyddie hätte ihn bald vergessen ... und sie würde inzwischen schnell einen neuen Freund finden. Schließlich war Jake ihr erster Freund. Sieht so aus, als hätten wir uns furchtbar geirrt.“

Ja, so sieht es aus, dachte Leah und stellte sich die Katastrophe vor, die die Nachricht, dass Sadies „Baby“ von den Toten auferstanden war, für die gesamte Amischgemeinschaft bedeuten würde. Papa und Peter Mast würden toben. Oh, ich kann das richtig kommen sehen.

Zwischen den Masts und den Ebersols herrschte tiefes Schweigen, obwohl Mama, wenn sie noch leben würde, diesem Gedanken strikt widersprechen würde. Wir müssen ihnen weiterhin mit Freundlichkeit begegnen, ob sie unsere Liebe annehmen oder nicht, hatte sie oft gesagt. Sie hatte die verwandtschaftlichen Beziehungen nie belasten wollen. Nach diesen vielen Jahren des schmerzlichen Schweigens zwischen Gobbler’s Knob und Grasshopper Level wusste niemand, was Mama zu tun bereit wäre, um dieser Eiszeit ein Ende zu setzen.

Aber da ihre Mutter schon lange von ihnen gegangen war, war es an ihnen, sich zu versöhnen. Natürlich konnte jetzt, da Jonas wieder zu Hause war und seine Prüfungszeit bestehen wollte, niemand sagen, was aus der zerrütteten Beziehung zwischen den Masts und den Ebersols werden würde – besonders da Jonas plante, Leah zu heiraten.

Jetzt ist kein günstiger Zeitpunkt, um Peter und Fannie wissen zu lassen, dass Jake in Wirklichkeit zu uns gehört, dachte Leah und verzog über die Ironie dieser Situation das Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. Wenn es überhaupt jemand erfahren musste, dann sollte das Lydiann sein, fand sie, aber nur unter der Voraussetzung, dass ihr Mädchen versprach, absolutes Stillschweigen zu wahren.

* * *

Am Montagvormittag wartete Leah, bis Hannah gemütlich im Wagen saß, bevor sie die Zügel ergriff. „Dir wird ein Besuch bei Mary Ruth und der kleinen Ruthie bestimmt gut tun“, versuchte sie ihre betrübt dreinschauende Schwester aufzumuntern, und sie hoffte, dieser Ausflug würde ihnen beiden gut gefallen.

„Du darfst nicht vergessen, dass ich nicht so wild darauf bin, mit Fremden zusammen zu sein“, entgegnete Hannah und verschränkte abwehrend die Arme vor ihrer Brust.

„Es ist doch nicht schlimm, wenn du im Beisein von Mary Ruths Quiltfrauen schüchtern bist. So bist du eben.“

„Sie sind alle Mennoniten, oder?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, dass ein paar Nachbarinnen und ein paar andere Frauen kommen, die lernen wollen, wie man eine Quiltdecke näht.“

Hannah gab ein hörbares Schnauben von sich und benahm sich immer noch wie ein störrisches Kind.

„Was ist denn mit dir? Du wirkst so verärgert“, fragte Leah mit einem Blick auf ihre Schwester, die mit einem beleidigten Gesichtsausdruck neben ihr saß.

„Ich werde dir jetzt sagen, was mich stört“, fauchte Hannah. Es war, als hätte sie verzweifelt auf eine Gelegenheit gewartet, um ihrem aufgestauten Ärger Luft zu machen. „Ich bin es müde, dass meine Familie mich nicht ernst nimmt.“ Ohne Leah Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, fügte sie hinzu: „Und das alles nur wegen meines Interesses an der überlieferten Volksmedizin.“

Leah war überrascht, dass Hannah so gereizt war. „Es ist nichts Falsches daran, Hausmittel und dergleichen zu verwenden. Tante Lizzie und ich haben daran nie etwas Schlimmes gesehen, und Mama auch nie ... wie du sicher weißt.“ Sie schwieg einen Moment und sprach dann weiter, als sie sah, dass Hannah die Arme noch höher vor ihrer Brust verschränkte als vorher. „Einige Amisch beunruhigt es nur, wenn man seine Nase in Dinge steckt, von denen man besser die Finger lässt.“

„Ja, Gid sagt, in Bezug auf Weiße Magie sind die Amisch mittendurch gespalten. Einige sagen, sie käme direkt aus der Hölle – obwohl ich nicht einsehe, wie sie darauf kommen, wenn sie doch Menschen hilft, denen es nicht gut geht.“

„Mama hat immer gesagt, dass es nicht gut ist, so nahe wie möglich an die falsche Seite heranzugehen“, erinnerte Leah sie. „Deshalb muss ich sagen, dass wir uns so weit wie möglich von Dingen fern halten sollten, die unserem Geist nicht gut tun.“

„Jetzt redest du wie Mary Ruth. Sie hat damals, als Gid sie aufforderte, mich nicht mehr zu besuchen, immer Bibelstellen und so etwas zitiert.“

„Aber stimmst du mir nicht zu, dass an der Art der Hexendoktoren etwas Gespenstisches ist, wenn sie ihre Zaubergesänge anstimmen und tote Hühner begraben und was weiß ich noch alles?“

Hannah stöhnte und schüttelte den Kopf. „Nein ... du weißt nicht, was du da redest, Leah. Das hat alles mit der irdischen Natur der Dinge zu tun. Nimm zum Beispiel Leute, die keine Armbanduhr tragen können, weil eine besondere Energie durch ihren Körper fließt.“

„Ich kenne niemanden, der so ist.“

„Die Alte Frau Henner konnte nie eine Armbanduhr tragen.“

Leah hatte keine Lust, auch nur noch ein Wort von Hannahs dürftiger Argumentation für ihre offensichtliche Neugier an den dunklen, geheimen Praktiken der Wunderheiler zu hören. „Das klingt für mich nach Altweibergeschwätz.“

Sie fuhren weiter, ohne noch viel zu reden, obwohl gelegentlich eine Bemerkung über die verschiedenen Bäume oder den gepflegten Garten von diesem und jenem zu hören war. Als sie vor Mary Ruths Haus ankamen und Hannah die vielen Autos davor parken sah, stieß sie verächtlich aus: „Sieht ganz nach einem Haufen eitler Leute aus.“

Leah sprang aus dem Wagen und begann, das Pferd an den Pfosten zu binden. „Ich bin sicher, dass wir alle eine wunderbare Zeit miteinander erleben werden.“

Hannah zuckte die Achseln und stieg auf der anderen Seite aus dem Wagen. Sie bewegte sich so langsam, als wäre sie fast achtzig Jahre alt und nicht erst dreißig.

Es war für Leah ein sehr schöner Anblick, die acht Frauen um den Küchentisch in Mary Ruths bescheidener Küche sitzen zu sehen und sie alle über die kunstvollen Stickstiche und die kreativen Kombinationen aus Mustern und Farben plaudern zu hören.

Mehrere schauten von ihrer Arbeit auf. Sie hatten Scheren in den Händen und lächelten sie fröhlich an, als Mary Ruth Leah und Hannah als „meine zwei lieben Schwestern“ vorstellte. Als sie alle begrüßt hatten, setzten sich Leah und Hannah auch an den Tisch und schnitten Quadrate für das Projekt aus, das sich die Frauen vorgenommen hatten: eine Neunerquiltdecke.

Leah entging nicht, wie ungewöhnlich ausdrucksstark Mary Ruths blaue Augen waren, als sie einer interessierten Schülerin nach der anderen das Quilten erklärte. Ihre Schwester hatte offenbar eine Möglichkeit gefunden, ihre Gabe, anderen etwas beizubringen, hier in ihrer gemütlichen Küche umzusetzen. Jede der anwesenden Frauen – von denen drei offensichtlich sehr englisch waren, denn sie trugen goldene Nadeln an ihren Blusenkragen, und eine hatte sogar große, runde, rote Ohrringe – schien die Techniken gierig aufzusaugen, genauso wie ein Kätzchen frische Milch schlabberte.

Inmitten der zufriedenen Stimmen der geschäftigen Frauen, deren fleißige Hände eifrig Stücke für die hübsche Decke ausschnitten und mit kleinen Stichen zusammennähten, schlief die kleine Ruthie friedlich in ihrer Wiege.

Als es Zeit für das Mittagessen war, öffnete jede der Frauen eine Tüte, aus der sie belegte Brötchen und Obst holten. Sie teilten das Essen miteinander, und Mary Ruth sprach das Tischgebet.

Mary Ruth gibt auf ihre Weise Gottes Liebe weiter, dachte Leah, die nicht nur von Mary Ruths Freundlichkeit, sondern auch von ihrer Begeisterung, solche Kurse abzuhalten, angerührt war. Obwohl für den wöchentlichen Unterricht eine kleine Gebühr erhoben wurde, war der Andrang groß. Leah fand, dass dies eine herrliche Gelegenheit für Mary Ruth war, eine angenehme und sinnvolle Aufgabe zu haben, nachdem sie es jahrelang gewohnt gewesen war, den ganzen Tag zu unterrichten und die Gesellschaft von Kindern zu genießen. Meine Güte, sie wusste, wie isoliert man sein konnte, wenn man sich um ein neugeborenes Baby kümmerte. Sie hätte es nicht geschafft, Lydiann und Abe aufzuziehen, wenn sie nicht von Tante Lizzie und damals auch von Hannah so viel Unterstützung erfahren hätte. In jenen Tagen hatte sie sich sogar darauf gefreut, für Dr. Schwartz und seine Frau Lorraine Hausarbeiten zu verrichten.

Leah seufzte und ertappte sich dabei, wie ihr Blick über den langen Tisch wanderte, als die Pause vorbei war, und wie sie die Geräusche und den Anblick der Quilterinnen aufsaugte, die den Rand der vielen Quadrate einsäumten.

Nachdem die letzte Quilterin sich bei Mary Ruth an der Hintertür bedankt hatte und zu ihrem Auto gegangen war, gingen Leah und ihre Schwestern ins Wohnzimmer und hielten abwechselnd Ruthie auf dem Arm. Hannah konnte es überhaupt nicht fassen, wie klein die Finger ihrer Nichte waren und wie „furchtbar winzig ihre Fingernägel sind“. Darauf bemerkte Mary Ruth, dass sie Ruthie nachts kleine Handschuhe anzog. „Damit sie sich nicht das Gesicht zerkratzt.“

Hannah erzählte, dass sie bei Mimi das Gleiche gemacht hatte. „Sie hat im Schlaf immer wie wild um sich geschlagen ... aber nur so lange, bis ich sie zur Wunderheilerin brachte.“

Leah stockte der Atem.

„Warum in aller Welt hast du deine kleine Tochter denn zu einer Zauberdoktorin gebracht?“ Mary Ruth konnte ihren erstaunten Blick nicht verbergen.

Hannah hielt es nicht für nötig, ihr eine Antwort zu geben. „Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Wird es nicht allmählich Zeit, dass wir eine neue Wunderheilerin bekommen?“

„Du meinst so jemanden wie eine amische Hebamme?“, fragte Mary Ruth.

„Nein, jemand, der die Heilungskräfte weitergibt, wie die Alte Frau Henner.“

Mary Ruth stand abrupt auf, ging zu Hannah hinüber und nahm ihr die schlafende Ruthie aus den Armen. „Es ist mir lieber, wenn du nicht im Beisein meiner Tochter über solche Dinge sprichst.“ Mary Ruth ging auf und ab und warf immer wieder einen Blick auf Hannah, die nun mit verwirrter Miene im Schaukelstuhl saß und schwieg.

„Warum seid ihr eigentlich so gegen unsere Doktoren?“, fragte Hannah schließlich.

Obwohl sich Leah innerlich verkrampfte, hoffte sie, Mary Ruth würde das Wort ergreifen und erklären, was sie über diese Dinge gelernt hatte. Sie war insgeheim froh, als Mary Ruth Ruthie in die Küche trug und mit einer Bibel zurückkehrte. „Hier steht, warum wir den Namen des Herrn anrufen müssen, wenn wir Heilung suchen, und nicht die Mächte von gewissen Leuten suchen sollen.“

Noch während Mary Ruth in den dünnen Seiten ihrer Bibel blätterte, ergriff Hannah wieder das Wort. „Gibt der Herr seinen Kindern nicht gute Gaben? Schaut euch nur Leute an, die schnell herausfinden können, warum ein Tier störrisch oder krank ist. Wollt ihr etwa sagen, solche Dingen wären nicht von Gott?“

„Die Art von Heilung, die Wunderheiler praktizieren, geschieht hauptsächlich durch Gesänge und Zaubersprüche“, argumentierte Mary Ruth. „Robert hat nach einer Diskussion darüber in unserer Gemeinde vor zwei Jahren einige Untersuchungen dazu angestellt und herausgefunden, dass die Wunderheiler Gesänge und Formeln aus einem Zauberbuch verwenden, das aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt. Einiges daraus ist sogar noch älter.“

Hannah runzelte die Stirn. „Von so etwas habe ich noch nie gehört. Die Alte Frau Henner brauchte nie ein Buch. Sie wusste genau, was sie sagen und tun musste, um einem kranken Menschen zu helfen ... oder einem Tier.“

„Aber sie hat geheime Dinge getan, nicht wahr?“, ließ Mary Ruth nicht locker. Die Bibel lag immer noch auf ihrem Schoß.

„Ich glaube schon.“

Leah konnte nicht länger schweigen. „Wir wissen, dass sie das getan hat.“

Hannah sah aus, als fühle sie sich in die Enge getrieben, und sagte: „Wirst du jetzt etwas aus der Bibel vorlesen, Mary Ruth?“ Sie warf Leah einen verärgerten Blick zu.

„Wirst du dir ... dieses Mal Gottes Wort zu diesem Thema anhören?“

Hannah nickte langsam und seufzte. „Ich bin immer noch hier, nicht wahr?“

„Also gut. Ich lese aus dem achtzehnten Kapitel des fünften Buches Mose, Verse zehn bis zwölf. ‚Dass nicht jemand unter dir gefunden werde, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt oder Wahrsagerei, Hellseherei, geheime Künste oder Zauberei treibt oder Bannungen oder Geisterbeschwörungen oder Zeichendeuterei vornimmt oder die Toten befragt. Denn wer das tut, der ist dem Herrn ein Gräuel, und um solcher Gräuel willen vertreibt der Herr, dein Gott, die Völker vor dir.‘“

Hannah schaute sie entsetzt an. Sie sah aus, als bekäme sie keine Luft mehr zum Atmen. Ein langes und befangenes Schweigen legte sich über die drei Schwestern.

Leise, aber voll Selbstvertrauen fügte Mary Ruth etwas hinzu, das Leah noch nie gehört hatte. „Ob du es glaubst oder nicht“, sagte sie, „aber ich habe gehört, dass einige der Krankheiten angeblich zum Zeitpunkt der Heilung übertragen werden.“ Ihre Schultern hoben und senkten sich, und sie sprach weiter. „Nach einer solchen Behandlung muss der Wunderheiler sich ausruhen, um sich davon zu erholen, dass er den giftigen Teil des Kranken auf sich genommen hat.“

Leah zögerte nicht, auszusprechen, was sie dachte. „Meine Güte, das klingt aber überhaupt nicht nach Gottes Wirken, oder?“

Hannah blieb still.

Leah stand auf und schaute nach Mary Ruths schlafendem Baby. Sie kniete auf dem Küchenboden nieder, schaukelte die Wiege und betete im Stillen, dass Hannah über die Güte und Gnade des Herrn nachdenken und sich die Bibelstelle, die Mary Ruth soeben vorgelesen hatte, zu Herzen nehmen würde, statt sich nach den Kräften der Hexendoktoren zu sehnen.

Bitte, Herr, hilf Mary Ruth, endlich Hannahs Dickköpfigkeit in dieser Angelegenheit zu brechen.

* * *

Auf der Heimfahrt fasste Leah Mut, als sie Hannahs entspannteres Verhalten bemerkte. Da sie hoffte, dass an diesem Tag ein guter Same bei Hannah gesät worden war, begann Leah leise zu summen.

„Du musst ja sehr glücklich sein“, bemerkte ihre Schwester.

„Ja, das bin ich auch.“ Leah konnte nicht so weit gehen und sagen warum, aber ein weiterer Blick auf Hannahs ernstes Gesicht weckte in ihr die Frage, was wirklich im Kopf ihrer Schwester vorging.

„Mary Ruth wirkt richtig zufrieden, findest du nicht? Sie hat so ein gemütliches Haus ... und ihr erstes Baby.“

„Ruthie ist so süß und lieb.“ Sie weckt in mir den Wunsch nach einem eigenen Kind, dachte Leah.

Sie fuhren weiter. Leah lehnte sich auf dem Sitz zurück, ließ die wunderschöne Landschaft auf sich wirken und sprach nicht viel.

Wird sie über die Bibelverse nachdenken, die Mary Ruth ihr vorgelesen hat?, fragte sie sich. Immerhin hatte es schon unzählige andere Gelegenheiten gegeben, bei denen Hannahs Zwillingsschwester versucht hatte, sie zu ermutigen, die Lösung für ihre Sorgen in Gottes heiligem Wort zu suchen.

Leah übergab diese Angelegenheit erneut Gott und versuchte, sich nicht über alles Mögliche Sorgen zu machen, als ein offener Einspänner mit einem Liebespaar genau auf sie zufuhr. Am helllichten Tag!

Als der Wagen näher kam, schaute sie zu dem jungen Paar hinüber und stellte sich darauf ein, vielleicht zu winken und bekannte Gesichter zu begrüßen. Stattdessen zog sie scharf die Luft ein.

Jake?

Hannah setzte sich schnell auf. „War das nicht unsere Lyddie?“

Leah war sprachlos. Jake hatte mit seiner plötzlichen Heimkehr alle überrascht. Wahrscheinlich sogar auch Lydiann. Als Leah wieder mit eigenen Augen sehen musste, wie verliebt Sadies Sohn in Lydiann war – er hatte den Arm fest um sie gelegt –, schien ihr der Boden unter den Füßen weggezogen zu werden. Dieser beängstigende Anblick stachelte ihre Fantasie an, und sie malte sich aus, was passieren würde, wenn der Tag in die Nacht überging ... und Jake und Lydiann ganz allein in seinem Wagen unterwegs waren.

7

Ich muss den Wagen wenden! Leah geriet in Panik und schaute nach, ob von hinten jemand kam. Einem inneren Impuls folgend, lenkte sie das Pferd abrupt nach links.

Hannah keuchte. „Was ist denn in dich gefahren, Schwester? Du wirfst uns ja in den Graben!“

Hannah hatte recht. So eng, wie Leah es versucht hatte, konnte man nicht wenden. Außerdem war das arme Pferd völlig durcheinander. Es stapfte auf den Boden und wieherte aufgeregt. „Leah? Ist mit dir alles in Ordnung?“

Nichts war in Ordnung! Leah war völlig aufgebracht und fest entschlossen, Jakes unerträglicher Arroganz ein Ende zu bereiten. Was für ein junger Mann tauchte einfach unangemeldet auf? Er hatte nicht einmal bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet, um Lyddie zu besuchen, wie es üblich war!

Sie konnte das Bild von Lydianns glücklichem Lächeln nicht aus dem Kopf bekommen. Ihr Mädchen hatte bis über beide Ohren verliebt neben ihrem dunkelhaarigen Freund in seinem Wagen gesessen. Diese Erinnerung stachelte Leah an, schnellstmöglich nach Hause zu fahren, aber das Pferd verhielt sich im Augenblick nicht gerade kooperativ.

„Sei lieber vorsichtiger, Leah.“ Hannah hatte ja recht, aber trotzdem war es ungewohnt, dass Hannah sie zurechtwies.

Leahs Gedanken rasten in alle Richtungen, und sie überlegte, was Jake unbedingt gesagt werden musste. Obwohl sie nicht willens war, die ganze Familie in diese unglückliche Angelegenheit mit hineinzuziehen – auch wenn ihr wahrscheinlich keine andere Wahl blieb –, spielte sie im Geiste ein Gespräch mit Lydiann durch. Möglicherweise war auch ein weiteres Gespräch mit Gid nötig. Außerdem gäbe es bestimmt die eine oder andere Frage von Papa und Tante Lizzie.

„Ach, wir haben ein furchtbares Problem“, seufzte sie.

„Was murmelst du da?“

Leah fing sich wieder und antwortete mit mühsamer Beherrschung: „Ich habe nur mit mir selbst gesprochen.“ Sie hoffte, dass Jake Mast nicht auf die verrückte Idee gekommen war, mit Lydiann durchzubrennen. Denn wenn das der Fall wäre, würde ganz Gobbler’s Knob sie, Leah, wütend erleben. Sie würde einen Suchtrupp hinter den beiden herschicken oder sogar selbst losziehen, um Jake zu suchen ... sie würde alles tun, um ihre Lyddie davor zu bewahren, in ihr Unglück zu rennen.

* * *

„Ich war erst heute Morgen oben im Wald und habe dir einen Brief geschrieben“, erzählte Lydiann Jake, als sie immer näher auf Ninepoints zurollten. „Gar nicht tief im Wald gibt es einen wunderschönen alten Baum, unter dem ich gern sitze und von dir träume.“

Er lächelte und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. „Das brauchst du jetzt nicht mehr. Dank Jonas’ Hilfe bin ich hier ... genau da, wohin ich gehöre. Bei dir.“

Ihr Herz schlug bei seinen Worten schneller. „Ich habe dich furchtbar vermisst. Jeden Brief, den du mir geschrieben hast, habe ich aufgehoben“, flüsterte sie aus Angst, sie könnte zu weinen anfangen, so glücklich war sie darüber, dass sie neben ihm in seinem Wagen sitzen konnte. „Ich habe schon geglaubt, mir würde das Herz brechen, wenn ich dich nie wieder zu Gesicht bekäme.“

Jake griff nach ihrer Hand. „Wenn Jonas nicht mit meinem Vater gesprochen hätte, wäre ich immer noch in Ohio. Es war ein richtig gemeiner Trick von meinem Vater, mich fortzuschicken. Wahrscheinlich denkt er, ich wäre nur zu Besuch hier, aber ich werde nie wieder weggehen. Wenigstens nicht freiwillig.“

„Du meinst, du könntest dazu gezwungen werden?“ Seine letzte Bemerkung bereitete ihr erneut große Sorgen.

„Darüber brauchst du dir nicht deinen hübschen Kopf zerbrechen, Lyddie.“

„Aber du hast gesagt ...“

„Ich weiß, was ich will. Deshalb bin ich ja hier.“

Lydiann schaute auf ihre und seine Finger hinab, die ineinander verschlungen waren. Sie hatte sich danach gesehnt, wieder so neben ihm zu sitzen. Die endlosen, schmerzlichen Wochen, in denen sie voneinander getrennt gewesen waren, waren wie weggeblasen.

„Was ist, Liebes?“ Er beugte sich näher zu ihr vor.

Sie hatte nicht bemerkt, dass sie etwas gesagt hatte, aber vielleicht hatte sie laut gedacht. „Ich glaube, ich liebe dich vielleicht mehr, als ich sollte“, gestand sie ihm und wischte sich die Tränen weg.

„Das geht gar nicht!“ Er drückte sie ganz fest.

Sie konnte es kaum erwarten, seine Frau zu werden. Jakes Lyddie!

* * *

Leah half Hannah das Pferd auszuspannen, und verabschiedete sich, bevor sie das Pferd eilig zum Stall hinaufführte.

Im Haus wartete Sadie mit ernster Miene auf ihre Schwester. Sie stand nervös im Türrahmen zur Küche. „Ich habe furchtbar schlechte Neuigkeiten“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. „Jake ist wieder da. Ich habe gesehen, wie er Lyddie abgeholt hat.“

„Ich weiß. Hannah und ich haben die beiden auf der Straße gesehen.“

„Was in aller Welt denken sich die zwei nur? Sie können doch nicht am helllichten Tag auf der Straße spazieren fahren!“ Sadie runzelte die Stirn. „Was kann das bedeuten?“

„Er will allen zeigen, dass er wieder da ist, würde ich sagen.“ Leah stürmte aufgebracht an ihr vorbei. „Ich werde nicht untätig hier stehen und Vermutungen anstellen, was dein Sohn im Sinn haben könnte. Ich würde sagen, wir fahren los und suchen die beiden.“

Sadie folgte Leah in die Küche. „Und wenn wir sie gefunden haben – was dann? Sollen wir ihnen geradeheraus sagen, was Sache ist?“

Leah schüttelte den Kopf. „Nein, wir reißen Lyddie von ihm los ... und sagen es ihr im Vertrauen. Das ist der einzige Ausweg aus dieser verzwickten Situation.“

„Aber wenn wir so vorgehen, machen wir eine große Szene, und Jake wird sich fragen, warum wir uns einmischen. Willst du das?“ Sadie ging zur Spüle und goss sich Wasser in ein Glas. „Das ist ein schlechter Plan.“

Leah wusste, dass es keine gute Idee war, aber was sollten sie sonst tun? „Dann, schätze ich, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie nach Hause kommt“, sagte sie langsam.

„Und wenn sie nicht kommt?“

Entsetzen ergriff erneut von Leahs Herz Besitz. „Glaubst du, Lydiann würde so etwas Dummes tun?“

„Sie will nichts anderes als mit ihm zusammen sein, genauso wie ich damals mit Derry ... und ich wusste auch, dass es nicht richtig war.“ Sadie setzte sich auf die Bank am Tisch. „Die Liebe hat eine starke Macht. Besonders in Lyddies Alter, wenn jugendliche, unrealistische Ideen einen Menschen völlig durcheinander bringen und ihn so verwirren, dass er glaubt, das Falsche wäre richtig.“

„Jake würde es sich doch bestimmt zweimal überlegen, bevor er mit ihr einfach durchbrennt, oder?“ Vor Sorge wie gelähmt, setzte sich Leah zu Sadie an den Tisch. Sie drehte sich um und schaute zur Uhr hinauf, die hinter ihr an der Wand hing. „Ich würde sagen, wir geben ihr bis zum Abendessen Zeit. Wenn sie bis dahin nicht zu Hause ist, dann ...“ Sie wusste ehrlich nicht, was sie tun sollte. „Was für eine furchtbare Prüfung für die Geduld einer Mutter!“ Sie verdrehte den Saum ihrer Schürze, bis sie ihn ganz verknittert hatte. „Ich muss mich immer fragen, was Mama jetzt tun würde.“

Sadie beugte sich vor. „Mama hat gebetet“, erklärte sie zu Leahs Überraschung. „Manchmal fast die ganze Nacht ... sie ging auf und ab und hat mit Gott über alles gesprochen, was sie auf dem Herzen hatte und was ihr Kopfzerbrechen bereitete. Das hat sie mir erzählt.“

Mama hatte damals etwas Lebensnotwendiges getan, und Leah wollte es ihr gleichtun. Ach, aber ich wünschte, Sadie hätte nicht um Jakes Rückkehr gebetet. Es sah so aus, als hätte Gott den Herzensschrei ihrer Schwester erhört.

Leah stand auf und ging zur Treppe. „Ich bin in meinem Zimmer“, sagte sie mit einem kurzen Blick zurück.

Offenbar wollte Sadie Mamas weisem Beispiel ebenfalls folgen, denn sie hatte bereits auf dem alten Tisch ihrer Mutter die Hände gefaltet und den Kopf gebeugt.

Ein Schluchzen blieb Leah im Hals stecken. Herr Jesus, bitte beschütze Lydiann ... und bring sie ganz schnell nach Hause!

8

Im frühen Abendlicht blieben die amischen Kinder oft draußen und spielten, bis der Klang der Essensglocke oder die Stimme ihrer Mutter sie ins Haus rief, damit sie sich vor dem Essen die Hände waschen konnten. Henry Schwartz fielen an diesem Tag eine ganze Reihe solcher Kinder auf ... Kleine Jungen in weiten Hosen mit Hosenträgern, grünen Hemden und Strohhüten sowie barfüßige Mädchen, die in ihren hellblauen oder lila Kleidern mit weißen Hauben auf ihren kleinen Köpfen Fangen spielten. Sie lehnten an den weißen Hoftoren, kicherten und warfen einen Ball hoch über das Vogelhaus in die Luft und spielten neben dem Stall „Ochs am Berg, schau um“. Wahrscheinlich waren sie sich nicht bewusst, dass der Herbst sich unübersehbar seinem Ende entgegenneigte.

Henry war schon eine Weile mit dem Auto unterwegs, nachdem er einige Lebensmittel für das morgige Frühstück gekauft hatte, wie Lorraine ihm aufgetragen hatte. Die Sonne war sehr rasch untergegangen, aber er gab nicht mehr Gas, da ihm nicht viel daran lag, pünktlich zur Abendessenszeit nach Hause zu kommen, obwohl seine Frau das wahrscheinlich hoffte. Er war so entspannt, dass er gemütlich an den Straßenrand fahren und stehen bleiben wollte, als er plötzlich einen liegen gebliebenen Pferdewagen und ein einsames Pferd erblickte, von dem das Geschirr abgenommen war. Ein amischer junger Mann und ein amisches Mädchen – die beide nicht älter als höchstens sechzehn waren – winkten ihm, er solle stehen bleiben.

Als er aus seinem Auto stieg, erkannte er Jake Mast und das jüngste Mädchen der Ebersols. „Oh, hallo, junger Mann.“ Henry winkte ihnen zu, und sein Puls überschlug sich fast.

Jake nahm den Hut ab und lächelte. „Schön, Sie zu sehen, Dr. Schwartz. Es ist eine ganze Weile her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben, nicht wahr?“

Er nickte und bekam fast keine Luft, als Jake ihm begeistert seine Freundin vorstellte. „Das hier ist Lydiann. Abram Ebersols Tochter.“

„Hallo, Lydiann. Wie geht es deiner Familie?“, brachte er mühsam über die Lippen und reichte ihr die Hand, um ihre kleine Hand zu schütteln. Sie war jedoch offensichtlich nicht sonderlich daran interessiert, einen guten Eindruck zu hinterlassen, und antwortete so leise, dass er sie nicht verstehen konnte. Dann wandte sie den Blick wieder von ihm ab und hatte nur noch Augen für Jake. Sie wich Henrys fragendem Blick unübersehbar aus.

„Wären Sie so freundlich, uns mitzunehmen?“, bat Jake.

Henry nickte und fragte: „Wohin wollt ihr?“

Jake zögerte einen Augenblick und schaute Lydiann kurz an, als sei er unsicher. Dann sagte er schnell: „Nehmen Sie uns bitte mit nach Gobbler’s Knob, wenn es geht ... zu Abrams Hof.“

Lydiann wirkte fast passiv, als erwarte sie, dass Jake diese Entscheidung für sie beide treffe.

„Danke, Herr Doktor.“ Jake band das Pferd an einen Baum, bevor er Lydianns Hand ergriff und sie zum Auto führte.

Henry fühlte sich genauso elend wie an dem Tag, an dem er Leah die Wahrheit über Jakes Herkunft und seine furchtbare, eigenmächtige Lösung der Situation verraten hatte. Wie konnte es sein, dass sein Enkel sich mit der Schwester seiner leiblichen Mutter traf? Bei dem Gedanken, dass dieses junge Paar, das unübersehbar ineinander verliebt war, jetzt hinter ihm saß – und sogar leise miteinander flüsterte –, fühlte er sich wie ein unerfahrener Schwimmer ohne Schwimmweste, der sich kopfüber in einen reißenden Fluss gestürzt hat.

Er umklammerte das Lenkrad und fuhr so vorsichtig wie noch nie in seinem Leben. Er zwang sich, durch den dichten Nebel, der sich an diesem klaren, wolkenlosen Abend um ihn legte, vorwärts zu fahren.

„Biegen Sie bitte hier ein“, hörte er Jake sagen. Mechanisch betätigte Henry den Blinker und trat auf die Bremse.

* * *

Sadie rief Leah, als sie ein Auto die Auffahrt heraufkommen hörte. Die beiden hasteten eilig die Treppe hinab. Nur ganz selten fuhr irgendjemand mit einem Auto auf ihr Grundstück, obwohl Sadie sich flüchtig an den Schneesturm erinnerte und an den freundlichen Versuch ihres Schwagers Robert, sie vor Erfrierungen zu retten. Ihr unüberlegtes Handeln an jenem Tag hatte so viel Traurigkeit nach sich gezogen und zu einer schmerzlichen Verlängerung ihrer Prüfungszeit geführt.

Sie lief zum Fenster und sah Dr. Schwartz, Lydiann und Jake aus dem Auto steigen. Wie kam es nur, dass die zwei jungen Leute ausgerechnet mit Dr. Schwartz zusammen waren?

„Jakes Einspänner muss irgendwo liegen geblieben sein“, raunte sie Leah zu, die nervös neben ihr kauerte. „Sobald wir Lydiann allein erwischen, müssen wir mit ihr einen langen Spaziergang unternehmen“, fügte sie hinzu.

„Warum gehen wir nicht einfach mit ihr nach nebenan?“, schlug Leah vor. Sadie war einverstanden.

Als sie gerade im Begriff stand, die Hintertür aufzustoßen, hörte Sadie Jakes Stimme vom Hof. Sie hatte sich gewünscht, ihren geliebten Sohn noch einmal zu sehen, ihn so lange anzuschauen, wie sie es wagen konnte. Sie atmete tief ein und zwang sich, langsam durch die Hintertür hinauszugehen, die Stufen hinabzusteigen und ohne Eile auf das Auto zuzugehen.

Papa tauchte aus dem Stall auf und winkte Dr. Schwartz zum Gruß zu. Beim Anblick seiner jüngsten Tochter, die im hellen Tageslicht die Hand ihres Freundes hielt, zog ein irritierter Ausdruck über sein Gesicht.

Sadie hörte Leah hinter sich schwer atmen. Vielleicht murmelte sie auch nur ein stilles Gebet. Was es auch war – Sadie wusste mit Gewissheit, dass sie und Leah Lydiann nicht aus den Augen lassen durften, solange sie nicht ganz offen mit ihrer Schwester gesprochen hatten. Das liebe, arme Mädchen! Sosehr Sadie Jake auch mochte, war sie doch von dem verliebten Blick entsetzt, mit dem er Lydiann unablässig anschaute und immer noch ihre Hand festhielt, während er Papa erklärte, wie die beiden dazu gekommen waren, zu Dr. Schwartz ins Auto zu steigen.

Kurz danach kam Gid über den Hof, wahrscheinlich um nachzusehen, was los war. Ohne zu zögern, bot er an, mit Jake zurückzufahren und das kaputte Geschirr zu reparieren. Er ging nur kurz in den Stall zurück, wo er einen alten, verrosteten Werkzeugkasten holte, bevor er mit Jake in Dr. Schwartz’ Auto stieg. Gott sei Dank, dass Gid Jake erst einmal fortbringt, dachte Sadie und atmete etwas leichter.

Sie schaute schweigend zu, wie Dr. Schwartz mit seinem Auto wiederholt manövrieren musste und mehrere Anläufe brauchte, bis er auf der schmalen Auffahrt gewendet hatte. Gid schaute mit hochrotem Gesicht durch die Heckscheibe, während Jake vorne saß und lächelte und fröhlich winkte wie ein Junge an Weihnachten.

Leah brach das Schweigen. „Lyddie, komm bitte mit Sadie und mir ins Großvaterhaus. Wir müssen ein paar Dinge bereden.“

Bei Leahs Aufforderung zog ein plötzliches Runzeln über Lydianns hübsches Gesicht. Sadie glaubte, die Anspannung kaum aushalten zu können. Aber sie folgte ihren Schwestern über den Gehweg, an der Hintertür zum Haupthaus vorbei und geradewegs in ihre Küche nebenan.

In Sadies friedlichem und sehr persönlichem Schlafzimmer betete Leah im Stillen um Weisheit. „Bitte hör mir zu, Lydiann“, begann sie. „Das, was ich dir jetzt sagen muss, hätte ich dir von Anfang an sagen sollen, als Jake und du anfingt, euch zu treffen.“

Sadie stand schweigend neben ihnen. Ihre ernsten blauen Augen verrieten eine tiefe Unruhe. Lydiann dagegen benahm sich wie ein Kind, das ertappt worden war, als es heimlich eine Hand voll Kekse genommen hatte. Sie hatte die Arme fest vor ihrer schmalen Brust verschränkt, genauso wie Hannah an diesem Nachmittag, als Leah und Mary Ruth sich gegen die Zauberdoktoren ausgesprochen hatten. Leah konnte an Lydianns Augen unmissverständlich ablesen, dass dies nicht das leichteste Gespräch werden würde, das sie mit dem Mädchen, das sie als ihre Tochter betrachtete, führen musste.

„Ich verstehe nicht, warum ihr euch so aufregt“, platzte Lyddie heraus. „Eure Gesichter sahen aus, als wolltet ihr uns auffressen, als wir in den Hof gefahren sind. Jake hat doch nichts Schlimmes verbrochen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Mein Freund kommt nach vielen Wochen nach Hause ... er kommt zu mir, um mich so wunderbar zu überraschen, und dann passiert das.“ Sie drehte den Kopf zur Wand.

Sadie schaute Leah hilflos an und zuckte ratlos ihre schmächtigen Schultern. „Wir würden nicht so mit dir sprechen“, begann sie, „wenn wir es nicht für absolut notwendig hielten.“

„Wie sprechen? Was wollt ihr mir denn sagen?“ Aus Lydianns Augen funkelte Wut und Ärger.

Leah trat näher an sie heran und bemerkte Lydianns süßlich duftendes Parfüm, einen verführerischen Duft, den sie bis jetzt nicht gerochen hatte.

Sadie trat näher zur Tür, als wollte sie verhindern, dass Lydiann möglicherweise mitten während ihrer Enthüllung davonlaufen könnte.

Mit gedämpfter Stimme begann Leah: „Obwohl ich dagegen bin, Geheimnisse zu haben – ich habe in diesem Zusammenhang einige schmerzliche Lektionen gelernt –, darfst du niemandem etwas von dem verraten, was ich dir jetzt anvertrauen werde. Wirklich niemandem, keiner Menschenseele.“

„Wenn wir die Familienbibel hier hätten, würden wir dich auffordern, die Hand darauf zu legen und zu schwören“, ergänzte Sadie.

Lydiann starrte ihre beiden Schwestern immer noch mit trotzigen Augen an und setzte sich leise. Sie unternahm keine Anstalten, irgendetwas zu versprechen.

„Ach, mein liebes Mädchen“, begann Leah leise. „Es würde für dich und höchstwahrscheinlich auch für deine künftigen Kinder verheerende Folgen haben, wenn du und Jake heiratet, weil ihr keine Ahnung von dem habt, was wir wissen.“ Leah hatte das Gefühl, über ihre Worte zu stolpern ... und wünschte, es gäbe eine bessere Möglichkeit, diese entsetzliche Wahrheit auszusprechen, die Lydiann bestimmt das Herz brechen würde.

Lydianns Schultern sackten nach unten, und sie schien kleiner zu werden, als Leah davon sprach, dass sie und Jake heiraten wollten. Vielleicht reagierte sie aber auch nur auf die Bemerkung, dass sie beide keine Ahnung von etwas hätten. „Ich höre“, erklärte sie.

„Und du versprichst, nichts weiterzusagen?“

„Was es auch ist, ich werde es niemandem verraten. Ich gebe dir mein Wort.“

Tränen glänzten in Sadies Augen. „Auch nicht Jake.“

Lydiann verzog das Gesicht, als sie die Tränen ihrer ältesten Schwester sah. „Was in aller Welt ist denn los?“

„Als Sadie vor über sechzehn Jahren ihren Sohn zur Welt gebracht hat“, begann Leah, „dachte sie, er wäre gestorben ... weil er zu früh auf die Welt gekommen war.“

Mit tränennassem Gesicht verließ Sadie ihren Platz an der Tür und setzte sich neben Lydiann aufs Bett. „Aus meiner Sünde ging ein schöner, dunkelhaariger Junge hervor ... der in jener Nacht nicht in den Himmel ging, wie ich gedacht hatte.“ Sie brach ab. Ihr war anzusehen, dass sie nicht weitersprechen konnte.

Lydiann schaute zuerst Sadie und dann Leah an. Dann wanderte ihr Blick wieder zu Sadie zurück, als wollte sie fragen: Was sagst du da? Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schüttelte aber stattdessen nur ungläubig den Kopf. Schließlich überwand sie sich: „Du willst doch damit sicher nicht sagen ...“

Sadie schaute Lydiann mit Tränen in den Augen an und nickte stumm.

„Aber Jake ist Mandies Zwillingsbruder ... Peter und Fannie Masts Sohn!“, beharrte Lydiann.

Leah, die immer noch auf der anderen Seite neben Lydiann saß, griff nach ihrer Hand, aber Lydiann entzog sich ihrer Berührung. Ihr Atem kam kurz und abgehackt.

Leah erklärte, wie Dr. Schwartz Fannies totgeborenen Sohn mit Sadies zu früh geborenem Baby ausgetauscht hatte. „Er hatte fast kein Leben in sich.“

„Das hat Dr. Schwartz getan?“, fragte Lydiann ungläubig.

Leah nickte traurig.

Lydianns Unterlippe begann zu zittern, und sie vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. „Wenn das eine Lüge ist, um uns auseinander zu bringen, ist es die gemeinste Lüge, die es auf der Welt geben kann.“

„Wenn die Dinge anders stünden, kämen wir bestimmt nicht auf die Idee, dir so etwas zu erzählen“, flüsterte Sadie. „Wir lieben dich.“

„Sehr sogar“, fügte Leah hinzu. „Und wir wollen, was für dich und für Jake das Beste ist.“

„Und auch für eure künftigen Kinder.“ Sadie reichte Lydiann ein Taschentuch.

„Aber Jake liebt mich, und ich mag ihn auch. Dass ihr mir das erzählt, ändert nichts an meinen Gefühlen“, schluchzte Lydiann.

Leah wartete einen Augenblick, dann sprach sie weiter. „Wir waren dir und Jake gegenüber furchtbar unfair. Wir haben euch Unrecht getan, weil wir nicht sofort etwas sagten.“ Sie erzählte, dass sie im letzten Sommer Lydiann mit Jake gesehen hatte. „Wir dachten, wenn Jake erst einmal in Ohio ist, würde deine Liebe zu ihm mit der Zeit abnehmen.“

„Wie kann ich einfach aufhören, einen so wunderbaren Jungen zu lieben?“ Lydiann starrte Leah jetzt finster an. „Du ... du wusstest das schon so lange? Wie konntest du es mir nur verschweigen?“ Sie ließ den Kopf tief hängen. „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass meine erste Mama so etwas getan hätte!“ Damit stürmte sie geradewegs zur Tür und lief davon.

Ich kann es nicht ertragen mit anzusehen, wie ihr so grausam das Herz gebrochen wird, dachte Leah. Ich wünschte, ich könnte alles anders machen ... um Lyddies willen.

Sadie legte den Arm um sie. „Ich lasse nicht zu, dass sie dich so behandelt.“

„Nein ... nein, lass sie. Wir können jetzt nichts mehr tun.“ Leah legte den Kopf auf die Schulter ihrer Schwester und konnte ihre traurigen Tränen nicht länger zurückhalten.