S. Picollo
Schattenwelten: Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Impressum neobooks
Maximilian-Werner Junker parkte den grünen Traktor auf dem Parkplatz des Bauernhofes ein und stieg aus. Es war ein heißer Tag, die Sonne knallte auf seine Haut und wohl war ihm nicht. Er mochte wie immer nicht nach Hause gehen, weil ihn dort jeden Tag die Schattenseite seines Lebens begrüßte und die Probleme immer wieder anfingen, als wenn jemand den Schalter betätigte.
Maximilian verzog deshalb sein Gesicht und stempelte sich mit der Karte aus. Er war zwar froh, dass er hier eine sichere Arbeit hatte, aber außerhalb des Betriebs begann für Maximilian eine andere Welt. Sie hatte keine Farbe, war trostlos und voller Probleme. Er freute sich keineswegs auf sein kleines Häuschen am Rand des Dorfes und hatte auch nicht vor, jetzt dort hin zu gehen. Gemütlicher und entspannender erschien ihm die Kneipe, knapp fünf Gehminuten von hier entfernt. Nur dort konnte er die Sonne in sein Leben lassen, die trotz des schönen Sommertages, Maximilian nicht zu treffen schien. Er bekam es nicht mit und blickte in eine verdunkelte Welt, die nur er wahrnahm. Sie war nicht die, die jeder andere wahrgenommen hätte, eine Welt mit bunten Geschäften, gefüllten Straßen, hektischem Verkehr und gut gelaunten Leuten, die lächelnd das Leben genossen, in den Cafes und Bars. Für Maximilian gab es nur den Tunnelblick, der ihm keine Sicht nach rechts und links verschaffte. Er kannte nur noch die Kneipe, sein Zuhause und die Arbeit. Schon seit über einem halben Jahr war er nirgendwo mehr woanders gewesen. Und ihm machte es nichts aus. Er spürte keinen Drang mehr, die Welt und ihr Leben zu sehen, zu genießen und mal den Alltag zu vergessen. Ihm fehlte die Freude und das gute innerliche Gefühl. Nur in der Kneipe fand er es. Warum an etwas anderes denken, wenn das Trinken ihm Erfüllung und eine innere Geborgenheit gab? Maximilian stellte eben keine hohen Ansprüche mehr an sein Leben und so war es gut für ihn. Mochten die anderen doch sagen, was sie wollten. Er hatte nichts zu beklagen, denn es würde ja sowieso nicht mehr anders laufen. Die anderen Leute waren glücklich, gut, aber Maximilian konnte nicht glücklich sein, denn er hatte nichts, was ihm dieses Gefühl gab. Er hatte alles verloren und sein einziger wirklicher Zufluchtsort war die Kneipe.
Als er sie erreichte und die Tür aufmachte, über deren idyllischen alten Holzfenstern die Schrift ››Zur Rose‹‹ stand, kam ihm der Geruch von frisch gezapften Bier, Zigarettenqualm, das Geräusch der quatschenden Leute und das Dudeln der Spielautomaten entgegen. Hier merkte er sofort, dass er sich wohler fühlte. Sein Tunnelblick verschwand allmählich und er setzte sich an den Tresen. Der ältere Mann hinter dem Tresen, mit dem langen Bart, dem Bierbauch und den grauen Haaren, Alfred Knaus, war der Besitzer der ››Rose‹‹ und begrüßte ihn herzlich. Maximilian war hier Stammkunde und seit mehr als sechs Monaten fast jeden Tag hier gewesen.
››Und wie geht es dir Maximilian?‹‹
››Immer noch beschissen.‹‹
››Du kommst wohl nie über die Trennung hinweg, oder?‹‹
››Ich glaube, dass werde ich auch nie.‹‹
››Dann brauchst du eine Stärkung für deine Seele. Ein Pils und ein Wodka wie immer?‹‹
››Genau Alfred.‹‹
Alfred machte sich an die Arbeit, während Maximilian an seine Frau Waltraud Junker und seine beiden Kinder Peter und Jochen dachte. Er vermisste sie und wollte sie unbedingt wiedersehen, auch wenn Waltraud und er sich vielleicht nichts mehr zu sagen hatten. Aber momentan sah es ganz und gar nicht danach aus. Er war dem Alkohol verfallen und aus Hoffnung auf einen großen Gewinn, nahm er sich auch heute vor, das Glück an einem Spielautomaten in der Kneipe herauszufordern.
Maximilian wusste, dass man dort nicht viel gewinnen konnte, doch schon des Öfteren war das Glück auf seiner Seite gewesen und er konnte mit beträchtlichen Summen nach Hause gehen. In letzter Zeit aber verließ ihn das Glück zunehmend und er versoff und verspielte das gesamte Ersparte seiner Familie. Es war eine Summe von über einhunderttausend Euro, von dem er eigentlich das Haus sanieren lassen wollte. Es kam heraus, als Waltraud schon die Firma bestellt hatte. Als sie zahlen wollte, sah sie die unzähligen Abhebungen vom Sparbuch und konfrontierte Maximilian damit. Sie war außer sich und er hatte keine andere Wahl gehabt, als die Wahrheit zu sagen. Doch das war das Ende der Ehe und auch der Liebe zueinander. Ab jenem Tag stritten sie sich nur noch wegen jeder Kleinigkeit und immer wieder drohte Waltraud damit, ihn zusammen mit den Kindern zu verlassen. Die vergeblichen Versuche und Versprechen von Maximilian, das Saufen und das Spielen aufzugeben, ja sogar eine Therapie zu machen, ignorierte sie, da sie ihn als einen unheilbaren, hoffnungslosen Versager bezeichnete. Eines Tages legte sie ihm einen Abschiedsbrief vor, in dem sie mitteilte, dass sie ihn nie wieder sehen wollte. Dann waren sie weg! Verschwunden! Sie begann ein ganz neues Leben, änderte ihre Telefonnummer und vielleicht sogar ihren Namen und seit jeher hatte Maximilian nie wieder etwas von ihnen gehört.
Er fragte sich, was sie machte und ob die Kinder gut in der Schule waren. Aber jedes mal wenn er darüber nachdachte, brach er in Trauer aus und soff und spielte wieder. Die Gedanken daran und sein schlechtes Gewissen machten ihn wahnsinnig. Maximilian hatte nie gewollt, dass seine Kinder ohne einen Vater aufwuchsen und nun war er selbst einer von vielen Vätern, mit denen er dieses Gefühl teilen musste.
››Hier ein Bier und ein Wodka‹‹, sagte Alfred und überreichte ihm die Gläser.
››Habe vielen Dank‹‹, antwortete Maximilian und trank beide Gläser sofort hinter.
››Mach mal noch zwei.‹‹
››Kommt sofort.‹‹
Der Alkohol war seine Rettung für den heutigen Tag. Er spürte die einsetzte Beruhigung und das angenehme Gefühl, benebelt zu sein. So ließ es sich leben und alles Unangenehme ertragen. Er trank immer mehr und fühlte die innere Wärme. Sie gab ihm das alte Gefühl von Freude, Unbeschwertheit und Glück zurück und das jedes Mal aufs Neue. Er wurde immer betrunkener und wandte seinen Blick dem Spielautomaten zu. Wie viel hatte er da schon investiert und vergeblich auf sein Glück gehofft? Tausende von Euro waren dort drin gelandet und fast jedes Mal musste er eine weitere Trinkrunde starten, um das verspielte Geld zu vergessen. Er spürte die Schmerzen in sich und überlegte.
››Na willst du es wieder versuchen‹‹, fragte Alfred.
››Ich glaube heute mal nicht. Ich habe schon so viel dort verzockt.‹‹
››Vielleicht hast du heute aber Glück. Jedenfalls wünsche ich es dir.‹‹
››Nein, heute ist es so wie an den anderen Tagen. Lass mal sein Alfred.‹‹
››Wenn du meinst.‹‹
››Mach mir mal noch zwei Pils und einen Wodka und dann werde ich nach Hause.‹‹
››Geht klar.‹‹
››Hier hast du schon mal einhundert Euro, stimmt so.‹‹
››Danke.‹‹
Alfred nahm das Geld entgegen und überreichte Maximilian die Getränke. Das musste bis Zuhause reichen, dann würde er weiter trinken. Sich wie jeden Abend vor den Fernseher setzen und hoffen, dass ihn die Gedanken an sein beschissenes Leben nicht wieder einholten. Maximilian trank aus und klopfte auf den Tresen.
››Mach's gut Alfred, bis morgen auf jeden Fall.‹‹
››Schönen Abend dir noch und passe auf dich auf.‹‹
››Geht schon, wenn ich umfalle ist es wenigstens vorbei.‹‹
Er verließ die Kneipe und torkelte den Gehweg entlang. Aber ihm ging es gut. Er sah die Sonne und die freudigen Menschen. Sein Tunnelblick war verschwunden und er erfreute sich an dem bunten Leben im Dorf. Es war Sommer und somit auch Touristenzeit. Viele saßen auch abends noch und tranken, feierten und genossen ihr Leben. So etwas wollte Maximilian auch mal wieder tun, doch er wusste bereits, dass er solche Gedanken nur im Suff hatte. Dort war die Welt wunderschön und farbenfroh, genauso wie früher. Ach wenn er doch die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde er alles anders machen.
Er seufzte und ihm stach das Tabak-Geschäft in die Augen. Maximilian war Nichtraucher, aber das Wort ››Lotto‹‹, machte ihn neugierig. Wie wäre es, das ersparte Geld, das er nicht in den Spielautomaten geworfen hatte, für das Lotto auszugeben?
Maximilian blieb stehen und kramte in seinem Portmonee. Fünfzig Euro hatte er noch. Sollte er sie dafür investieren? Würde es ihm etwas bringen, oder war es verschwendetes Geld und auch Zeit?
››Scheiß drauf, heute probiere ich es‹‹, sagte er zu sich selbst und lief in das Geschäft. Das Geld war sowieso futsch und auch wenn seine Chancen geringer standen, als von einem Blitz erschlagen zu werden, wagte er es. Einmal Millionär sein, sich um nichts mehr kümmern zu müssen, einen professionellen Alkoholentzug machen und richtig schön Urlaub machen! Der Gedanke war es Wert, auch wenn es nicht klappte. Außerdem hatte er schon lange kein Lotto mehr gespielt. Das letzte Mal zusammen mit seiner Frau. Damals hatte es nicht geklappt und es war naiv, jetzt überhaupt darüber nachzudenken. Der gute Wille stand aber im Vordergrund und das war es ihm Wert. Maximilian betrachtete die Lottoscheine und entschied sich, einen komplett ausgefüllten zu nehmen und einen kompletten, den er selbst ausfüllen musste. So waren die Chancen höher, denn auf sein Glück konnte er kein Vertrauen mehr setzten. Er füllte den Schein aus und gab beide der Kassiererin.
››Neunundvierzig Euro macht das bitte‹‹, sagte sie.
››Das passt ja‹‹, lachte Maximilian und gab ihr das Geld. Er hatte für Samstag und nächste Woche Mittwoch getippt.
››Viel Glück.‹‹
››Das habe ich sowieso nicht. Glück können sie vergessen bei mir.‹‹
››Lassen sie den Kopf nicht hängen mein Herr.‹‹
››Ist ja auch egal‹‹, sagte Maximilian und verließ den Laden. Die Scheine beachtete er gar nicht, da er überhaupt keine Hoffnung sah. Im Gegenteil – Vielleicht war es wirklich verschwendete Zeit und er hatte fünfzig Euro in den Sand gesetzt.
Maximilian merkte, dass er wieder Alkohol brauchte, da der Pessimismus zurückkehrte. Er lief ein wenig schneller und sah sein Haus schon. Er merkte gar nicht, was es für eine Bruchbude war. Im Laufe der Zeit hatte Maximilian es ausgeblendet, da er kein Geld hatte, um es zu sanieren und seine ehemaligen Freunde, ihn wegen des Trinkens verlassen hatten. Er war ganz alleine und sah es nicht ein, unnötiges Geld auszugeben, weil er ja überhaupt nicht wusste, ob er das Spiel des Lebens weiterspielen konnte. Ein Selbstmord war zwar die letzte Möglichkeit, doch angesichts des angehäuften Pechs in den letzten Monaten, war dieser Weg nicht mehr undenkbar. Es gab ja nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Einzig und allein die Arbeit als Landwirt und das gute Gehalt, mit dem er trinken konnte, waren sein Antrieb, überhaupt noch etwas zu machen. Der Rest konnte ihm getrost gestohlen bleiben und die Menschen auch. Er mochte keinen mehr um sich haben und wollte nur noch seine Ruhe. Nicht einmal Anstalten, sein Fahrrad zu reparieren, machte er, denn er konnte auch alles gut zu Fuß ablaufen. Dennoch wusste er nicht, warum er sein Haus noch nicht verkauft hatte, obwohl es doch noch so viel Wert war. Es sah zwar schäbig aus, doch es war ein altes Fachwerkhaus, das den einen oder anderen Liebhaber gefunden hätte. Auch kam die Lage des Grundstücks dazu. In dieser ruhigen Wohngegend in Erlendorf und den Geschäften und Supermärkten, die nicht weiter als fünf Autominuten entfernt waren, gaben die Menschen auch mal das Doppelte für ein Haus aus. Maximilian hatte also das Glück auf seiner Seite, doch etwas hinderte ihn daran, es zu verkaufen. Es hatte eine lange Familiengeschichte hinter sich und wurde immer weiter vererbt.
Nachdem sein Vater Erwin Junker starb, vererbte er es in seinem Testament an Maximilian. Und auch zuvor erbte Erwin es von seinem Vater und so weiter, bis drei Generationen davor. Er konnte es nicht verkaufen. Maximilian war stark religiös. Er gehörte den Katholiken an und war fast eine Ausnahme im Norden Deutschlands, wo das Christentum verbreitet war. Aber er gab sich zufrieden, jeden Sonntag in die kleine Kirche am Dorfrand zu gehen, um zu beten. Außerdem war er abergläubisch und dachte daran, dass die Geister seiner Vorväter immer noch das Haus bewohnten und ihm somit noch mehr Unglück brachten, wenn er dem Teufel gehorchte, nur ans Geld dachte und es tatsächlich verkaufte. So war es gut für ihn und er hatte ein reines Gewissen. Und vererbt wurde es auch nur an seine Söhne, wenn er denn eines Tages starb, wie auch immer. Niemand anders sollte dieses Haus haben, denn dann würde alles den Bach runtergehen, da war er sich sicher.
Maximilian zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete die Holztür, die schon einige Jahre auf dem Buckel hatte und nur so von Holzwurmlöchern durchzogen war. Eines Tages würde sie wahrscheinlich den Geist aufgeben und in tausende Splitter zerfallen. Sie knarrte laut, als er sie aufschloss.
Wie immer, wurde Maximilian an seine Kindheit erinnert, als ihm der Geruch des Holzfußbodens und der alten Möbeln in die Nase zog. Das Haus war innen verziert mit alten Bildern, Vasen und sonstigen Antiquitäten, die seit Erbauung des Hauses hier ihren Platz hatten und schon die Jahre überdauert hatten. Riesige Holzbalken waren an den Wänden und Decken zu sehen und unterbrachen die weiße Tapete mit ihrem kräftigen Braun. Insgesamt machte das Haus einen idyllischen Eindruck und jeder Liebhaber von alten Häusern und speziell Fachwerkhäusern, wäre hier in Ohnmacht gefallen, wäre vor Neid zerplatzt oder hätte ihm sämtliches Vermögen angeboten, um das Haus zu kaufen. Der Eindruck war einfach überwältigend und selbst Maximilian spürte ihn, trotz seiner abgestumpften Gefühle durch den Alkohol. Hier lagen Erinnerungen an seine sonst friedliche Kindheit, die trotz des streng katholischen Vaters, wirklich ein Traum war. Er hatte immer genug zu essen gehabt, konnte behütet aufwachsen und hatte Erlendorf nie wirklich verlassen. Mit fünfzehn Jahren begann er eine Lehre bei ››Ernst Graf‹‹ und war seitdem dort beschäftigt. Zwar hatte er mal im Dorfzentrum eine kleine Wohnung gehabt, doch nach dem Tod seine Vaters, zog er mit Waltraud und den Kindern hier ein. Alles schien wunderschön, doch das Haus strahlte nur auf den ersten Blick eine gewisse Idylle aus. Wenn man genauer hinsah, erkannte man die leeren Flaschen Bier, Wein, Wodka und Schnaps. Es war unordentlich und gewischt wurde auch schon lange nicht mehr. Der Fußboden war staubig und es war eindeutig, dass Maximilian das Haus vernachlässigt hatte. Er selber merkte es nicht und setzte sich auf das verstaubte Sofa. Unter dem Sofatisch holte er eine Bierflasche hervor und öffnete sie mit dem Flaschenöffner, der lieblos in einer Ecke des Tisches lag. Das Bier tat ihm gut, denn während des Weges, war er wieder nüchtern geworden. Er schaltete den Fernseher ein und irgendwie musste er wieder nachdenken. Die Erinnerungen an seine Familie kamen wieder hoch. Er kannte das schon von sich, denn so ging es jeden Tag. Manchmal konnte er sie mit viel Alkohol ersticken, doch heute schaffte er es nicht. Heute waren sie stärker als je zuvor und er begann zu weinen. Er wusste, dass Tränen nichts brachten, denn sie konnten die Zeit auch nicht zurückdrehen, aber verbergen konnte er sie auch nicht.
Die Probleme nagten an ihm, immer und immer mehr. Was war nur los mit ihm? War es der schleichende Beginn der absoluten Hoffnungslosigkeit, die das letzte Fünkchen Hoffnung im Keim erstickte? Er überlegte, ob es am Lottospiel lag und fragte sich, warum er nicht noch dreißig Euro versoffen hatte und mit einem Zwanziger den Spielautomaten herausfordert hatte. Vielleicht war es der Alkohol, die Abhängigkeit, die ihm immer mehr abverlangte, immer mehr trinken, für immer weniger schöne Gefühle. Es war teuflisch, was mit Maximilian vor sich ging. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog etwa sechs handgeschriebene Zettel aus der Schublade. Es war sein Testament, das er zur Sicherheit verfasst hatte, falls er sein Leben nicht mehr aushielt. Es war fast fertig. Maximilian spürte das Grauen in sich und beschloss, es heute noch zu beenden. Er fühlte, dass er nicht mehr lange durchhielt, dass er den Kampf des Lebens nicht ewig kämpfen konnte.
Waltraud Junker stand im Wohnzimmer und bügelte die Wäsche. Vor fünf Minuten war sie von der Arbeit zurückgekommen und ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Ihr junges Gesicht und die langen braunen Haare, wirkten blass und farblos an jenem Tag, da man ihr ansah, dass sie acht stunden gearbeitet hatte. Sie war Kassiererin in einem Supermarkt und musste heute ausnahmsweise Regale bepacken.
Waltraud war fertig mit den Nerven und die Trennung von Maximilian steckte ihr immer noch in den Knochen. Ihr einziges Glück, das sie vor der Arbeitslosigkeit bewahrt hatte, war ihre Arbeit an sich, da die bekannte Supermarktkette natürlich auch in Hannover vertreten war und sie problemlos die Arbeitsstelle wechseln konnte.
Doch dass sie in eine neue Stadt und somit in ein neues Umfeld kam, merkte man ihr und den Kindern an. Sie selber hatte keine Kontakte in der Zeit knüpfen können und die Kinder wurden in der Schule gehänselt und gemobbt, da sie vom Land kamen, ››Dorfkinder‹‹, wie die anderen Kinder sie beschimpften. Peter und Jochen waren in ihrer schulischen Leistung so abgefallen, dass Waltraud sie gar nicht mehr wiedererkannte. Verzweifelt versuchten sie sich dem asozialen Jargon anzupassen, nur um dazuzugehören, doch häufig machte der Versuch noch mehr Probleme. Peter war in der ersten Klasse und Jochen in der zweiten, aber auch schon dort war die Disziplinlosigkeit eingekehrt. Sie hatte auch keine Hoffnung mehr, dass die beiden es auf die Realschule, geschweige denn auf das Gymnasium schafften, wo der Umgangston und die soziale Kompetenz der Schüler und Lehrer etwas höher war. Aber so wie es aussah, mussten beide auf der Hauptschule bleiben und sich entweder versuchen anzupassen, oder in der Gewalt unter den Schülern untergehen, vielleicht früher oder später wegen der Verzweiflung Drogen nehmen, kriminell werden, und schließlich in einer Entzugsklinik landen, oder sich gar umbringen.
Waltraud bekam ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl, wenn sie nur daran dachte. Sie wollte nie etwas so Schlimmes für ihre Kinder, doch sie hatte auch nicht die finanziellen Mittel, um sie aus diesem verkorksten Umfeld herauszunehmen. Die Schulpflicht bestand und Peter und Jochen waren körperlich und geistig gesund. Sie litten ausschließlich an dem neuen Umfeld.
Waltraud ärgerte sich, dass sie kein Abitur gemacht hatte, um beiden Kindern den nötigen Antrieb zum Lernen zu geben. Sie hatte damals einfach keine Lust gehabt, das Abitur zu machen und fing gleich nach Abschluss der zehnten Klasse eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau an. Heute bereute sie es, dass sie damals so faul war.
Nun musste sie in einer kleinen Vier-Zimmer-Wohnung mit sechzig Quadratmetern, in einem halbwegs vernünftigen Altbau-Mehrfamilienhaus in der Hannoveraner Südstadt leben. Sie lag im dritten und obersten Stock eines Dreißiger-Jahre-Baus, hatte eine Zentralheizung, Parkettfußboden, ein Bad mit Dusche und WC, in dem man problemlos eine Waschmaschine platzieren konnte und eine Küche, in der sie zu dritt essen konnten. Überall waren die Wände mit einer weißen Tapete verziert, bis auf Jochens Zimmer, das auf seinen Wunsch und viel Hin und Her mit Waltraud, in blau gestrichen wurde. Die Wohnung war mit ihrer knapp siebenhundert Euro teuren Warmmiete relativ günstig und Waltraud musste nicht auf jeden Cent schauen, da sie durch den Kinderzuschlag und der niedrigen Lohnsteuerklasse, knapp zweitausend Euro für die Miete und zum Leben hatte. Sie war nicht besonders glücklich damit, aber für ein Leben als alleinerziehende Mutter war es ausreichend.
Waltraud war zudem stolz auf ihre Wohnungseinrichtung, denn sie bot eine Mischung zwischen Alt und Neu. Sie hatte sie bei einem Online-Möbelhaus gekauft, des knappen Geldes halber auf Raten in achtundvierzig Monaten. Sie konnte aufgrund ihrer Flucht von Maximilian so gut wie nichts mitnehmen, da sie es mit ihm nicht mehr aushielt. Eine einzige Ausnahme bildete der große Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer, den sie heimlich auseinandergebaut hatte und in die neue Wohnung nach Hannover geschickt hatte. Er hatte vorher ihrer Mutter gehört. Dort waren alte Erinnerungsstücke und Fotos von Waltrauds Kindheit drinnen, die sie auf keinen Fall hergab, wenn dann nur über ihre Leiche.
Waltraud hatte eine ganz gute Kindheit gehabt, aber sie war die jüngste unter vier Schwestern. Sie war in Buxtehude aufgewachsen und hatte es immer schwer gehabt, sich gegen ihre Schwestern durchzusetzen. Sie führte einen ständigen Kampf. Sie lernte aber dadurch, sich durchzusetzen und das half ihr in ihrem späteren Berufsweg. Trotzdem genoss sie die Zeit, als sie mit ihrer Mutter allein war. Eigentlich hatte sie nichts von ihr gehabt, als ihre Schwestern noch zu Hause waren. Dann war sie aber die Nummer Eins. Sie hatte so eine enge Bindung zu ihrer Mutter, dass es ihr wehtat, als sie das erste Mal allein wohnte. Sie wollte immer in ihrer Nähe sein. Nun war sie aber schon seit über einem halben Jahr nicht mehr bei ihr gewesen. Der Stress mit der Trennung hatte ihr sehr stark zugesetzt und sie hatte den Kopf voll. Sie nahm sich aber ganz stark von Herzen vor, irgendwann in der nächsten Zeit mal mit den Kindern dort hinzufahren. Ihre Mutter würde bestimmt nach Maximilian fragen, und versuchen, die beiden wieder zusammenzubringen, mit gutem Zureden. Waltraud wollte es aber nicht, da sie ihm das mit dem Geld nicht verzeihen konnte und auch seinen Anblick und das heruntergekommene Haus nicht ertragen konnte. Erst wenn Maximilian einen Alkoholentzug machte, würde sie ihn wiedersehen wollen. Vorher war daran nicht zu denken. Sie konnte es nicht ertragen wenn er trank und war immer noch sauer auf ihn, wegen dem ganzen verlorenen Geld. Außerdem sollten Peter und Jochen ihren Vater nicht so sehen. Es hatte ja schon genügt, dass sie das damals alles mitbekommen hatten. Ein zweites Mal wollte sie es ihren Kindern nicht antun. Zwar war das Leben grundsätzlich angenehmer, da Waltraud ihren Arbeitsplatz hatte, bei dem sie alle kannte, und auch Peter und Jochen hatten ihre Freunde und die Schule, aber das Elend um Maximilian war zu groß. Er war ein schlechter Einfluss für die Kinder, denn vielleicht hätten sie dann eines Tages auch mit dem Trinken angefangen. Er kümmerte sich kurz vor der Trennung auch nicht mehr um sie, sondern saß nur auf dem Sofa und trank eine Flasche Bier nach der anderen. Das ging nicht mehr!
Waltraud bügelte weiter und vernahm ein Klingeln an der Tür. Das mussten Peter und Jochen sein, die von der Schule kamen. Sie lief aus dem Wohnzimmer heraus, in Richtung der Wohnungstür und nahm den Hörer ab.
››Hallo.‹‹
››Wir sind es, Mama.‹‹
››Okay.‹‹
Waltraud drückte den Knopf und öffnete die Tür. Unten hörte sie die Schritte der Kinder auf den rauen Steinstufen und erwartete sie voller Freude. Diesmal kamen sie aber langsam die Treppe hoch und Waltraud lief aus der Tür raus, um nachzusehen. Sie erkannte Peter und Jochen schon und sah, dass Peter sein Gesicht völlig entstellt war. Auf dem Gesicht sah sie blaue Flecken und blutende Wunden. Seine Jacke war ganz zerrissen. Sie lief besorgt zu ihm.
››Um Gottes Willen, was ist passiert Peter?‹‹
››Ich wurde verprügelt von zwei Kindern, Jochen auch.‹‹
Waltraud nahm ihn besorgt in den Arm.
››Dann müssen wir eine Anzeige stellen und dich von dieser scheiß Schule nehmen.‹‹
››Sie haben aber gesagt, dass wenn wir etwas erzählen, sie uns nochmal verprügeln‹‹, sagte Peter.
››Das stimmt Mama, wir haben jetzt furchtbare Angst‹‹, sagte Jochen zu ihr.
››Das sollen sie mal versuchen‹‹, fluchte Waltraud, ››meine Kinder verprügelt niemand. Kommt rein, ich werde euch verarzten, wenn es nicht besser wird, müssen wir Montag zum Arzt.‹‹
Sie gingen in die Wohnung. Waltraud schloss die Tür und lief zur Abstellkammer neben dem Bad und holte Verbands-Zeug und Desinfektionsmittel heraus.
››Peter, gehe schon mal in dein Zimmer, ich komme gleich.‹‹
››Darf ich mit zusehen‹‹, fragte Jochen.
››Ich habe auch noch ein paar Fragen an euch, also ja.‹‹
››Ich gehe schon mal zu Peter.‹‹
Waltraud nahm die Sachen und lief in Peters Zimmer. Er saß schon auf dem Bett. Trotz des bunten Zimmers, das mit Postern von Actionfiguren verziert war und das nur so von Spielzeug wimmelte, war Peter genau der Gegensatz an diesem Tag. Er sah vollkommen fertig aus und sein Gesicht war übel zugerichtet. Er war erst sieben Jahre alt, doch hatte heute schon seine erste schlechte Erfahrung mit Gewalt gehabt. Er hatte Angst, das spürte er, furchtbare Angst.
››So dann lass mal sehen‹‹, sagte Waltraud und fuhr mit Einweghandschuhen über seine Wunden, ››aber deine Nase tut nicht weh, oder?‹‹
››Nein.‹‹
››Aber dein Gesicht sieht furchtbar aus. Was haben die nur mit dir gemacht?‹‹
››Sie mögen uns nicht Mama‹‹, sagte Jochen, ››wir sind vom Dorf, nicht so cool wie sie und Weicheier.‹‹
››Glaubt den Quatsch nicht, ihr seid zwei einzigartige Kinder, und wenn ich die erwische, dann können sie was erleben.‹‹
Waltraud nahm das Desinfektionsmittel in die Hand.
››Das könnte jetzt brennen.‹‹
Peter schrie auf und fing an zu weinen.
››Ich vermisse Papa so und in Erlendorf hätten sie uns nie geschlagen. Ich vermisse Papa und meine alten Freunde. Können wir nicht wieder zu Papa zurück.‹‹
››Ich weiß, wie sehr ihr es euch wünscht. Aber es geht nicht. Ihr wisst doch, dass Papa wahrscheinlich immer noch so viel trinkt. Und das geht nicht. Er hat unser ganzes Geld ausgegeben.‹‹
››Aber er tut doch niemanden etwas‹‹, sagte Jochen, ››lass ihn doch trinken, Mama. Ich würde alles geben, um wieder in Erlendorf wohnen zu können. Hier sind die Kinder so böse.‹‹
››Ich will sofort zurück, Mama‹‹, sagte Peter.
››Ich habe euch sehr lieb, das wisst ihr. Und ich werde auch heute noch in der Schule anrufen, oder auf den Anrufbeantworter sprechen und ein Gespräch mit diesen Kindern verlangen. Aber zurück zu Papa können wir nicht, nie mehr.‹‹
››Aber du vermisst ihn doch auch, Mama‹‹, sagte Peter.
››Ich vermisse ihn, aber er ist nicht mehr der, den ich damals kennengelernt habe. Er hat sich verändert. Erst wenn er nachweisen kann, dass er nicht mehr trinkt, dann können wir es uns überlegen.‹‹
››Vielleicht trinkt er gar nicht mehr‹‹, sagte Jochen.
››Oh doch, sonst hätte er sich schon gemeldet. Wir sind ihm egal, Peter und Jochen, das müsst ihr verstehen. Der Alkohol ist ihm wichtiger als wir. Vielleicht arbeitet er schon gar nicht mehr und hat das Haus schon verkauft.‹‹
››Ohne Papa werde ich aber nie mehr glücklich werden‹‹, sagte Peter.
››Das wirst du, gib nicht auf. Wenn das Gespräch nichts bringt, dann werde ich euch von dieser Schule nehmen und dann geht ihr auf eine Privatschule. Diese Kinder haben euch nicht verdient. Niemand schlägt meine Kinder.‹‹
››Dann schlag sie doch selber Mama‹‹, schimpfte Jochen.
Waltraud war erstaunt, dass Jochen solch einen Ton benutzte, aber am liebsten hätte sie es getan. In ihr stieg die Wut hoch und sie war wirklich kurz davor, die Kinder aufzusuchen. Aber sie musste sich beherrschen und die richtigen Worte für beide finden. Es reichte ja schon, dass beide so redeten.
››Ich werde das schon regeln und ja, eine Strafe für beide wäre nicht schlecht. Sie hätten es verdient.‹‹
Waltraud verarztete Peter und verband seine Wunden. Sie nahm sich vor, am Montag alles zu klären und dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschah. Peter war so entstellt und auf jeden Fall musste die Familie der Kinder eine Anzeige bekommen. Sie wollte es eigentlich vermeiden, denn so brachte sie ein weiteres Kind auf die kriminelle Bahn, doch eine Anzeige musste sein! Vielleicht würde sie heute noch zur Polizei gehen, ja das würde sie! Die Polizisten mussten die Kinder in dem Zustand sehen, sehen, was für ein Leid ihnen angetan wurde.
››Zieht euch an, wir gehen zur Polizei‹‹, sagte Waltraud.
››Du willst sie wirklich anzeigen, dann werden sie uns erst richtig fertig machen, Mama.‹‹
››Wie schon gesagt, das sollen sie versuchen.‹‹
››Ich habe Angst‹‹, sagte Peter.
››Ich bin bei euch, und nun zieht euch an.‹‹
Peter und Jochen liefen in den Flur und zogen ihre Schuhe an. Beide waren blass im Gesicht und sahen so aus, als ob sie nicht aus dem Haus wollten.
››Wir können keine Anzeige machen‹‹, sagte Jochen, ››wenn du eine Anzeige machst, dann werden sie uns auflauern und uns schlagen, auch dich Mama.‹‹
››Die kleinen Knirpse‹‹, fragte Waltraud.
››Sie holen ihre großen Brüder und werden uns alle grün und blau hauen‹‹, sagte Jochen.
››Das haben sie gesagt‹‹, fragte Waltraud mit tiefer Wut in der Stimme.
››Ja und ich glaube nicht, dass wir eine Chance gegen sie haben‹‹, antwortete Jochen, ››sie sagen das nicht nur so Mama, sie werden Ernst machen.‹‹
››Ich will nicht, dass du verletzt wirst, Mama‹‹, sagte Peter, ››du siehst ja, was sie mit mir gemacht haben.‹‹
››Ich werde euch beschützen und jetzt kommt‹‹, sagte Waltraud entschlossen und die drei liefen die Treppen herunter, verließen das Haus und steuerten die Bushaltestelle an. Waltraud hoffte, dass sie den Kindern nochmal über den Weg lief, aber sie ahnte, dass sie sich vielleicht nicht beherrschen konnte und am Ende selber eine Anzeige bekam. Für den Schutz ihrer Kinder tat sie aber alles. So etwas kam nicht noch mal vor, das wusste sie und dafür würde sie kämpfen. Sie merkte, wie die Wut in ihr hochstieg und bei jeder Kleinigkeit sofort heraus kommen würde.
››Der Bus kommt‹‹, sagte Peter.
››Habt ihr eure Fahrkarten bereit?‹‹
››Ja.‹‹
Der Bus hielt an und Waltraud stieg mit den Kindern ein. Sie liefen zu einer Sitzreihe mit vier Plätzen und Waltraud freute sich, dass der Bus um diese Uhrzeit so leer war. Normalerweise wimmelte es nur so von Menschen. Und sie hasste Busfahren. Viel lieber hätte sie ein Auto gehabt, so wie in der alten Zeit, als sie noch mit Maximilian in Erlendorf lebte. In solchen Momenten wünschte sie sich, dass sie mehr verdiente. Nur fünfhundert Euro mehr und schon wäre ein kleines Auto, auf Ratenzahlung oder mit Leasing drinnen. Dann könnte sie Unternehmungen mit den Kindern machen, sie zur Schule fahren oder viel einfacher einkaufen gehen. So musste sie aber wie eine Arme mit dem Linienbus durch die Stadt fahren. Sie ärgerte sich darüber, dass sie es ihren Kindern nicht bieten konnte. Was hätte sie dafür gegeben, wenigsten ein Auto zu haben?
Doch die Tatsache, dass die Kinder ohne ihren Vater aufwuchsen, war noch um einiges schlimmer. Ihnen fehlte die männliche Bezugsperson, die in solchen Konflikten wie mit den anderen Kindern, eine stärkere Hand gewesen wäre. So sahen Peter und Jochen nur ihre Mutter und orientierten sich an ihr. Vielleicht wurden sie deshalb langsam zu Mobbingopfern, die von der Schule ferngehalten mussten. Die Vorstellung machte ihr Angst. Wenn sie nicht gegen die anderen Kinder ansteuerte, dann würden sie es immer wieder tun. Man musste ihnen Grenzen zeigen. Peter und Jochen waren zwei normale Kinder. Sie hatten das gleiche Recht wie die anderen. Nur weil sie vom Dorf kamen und nicht so selbstbewusst waren, hieß es nicht, dass man mit ihnen machen konnte, was man wollte.
In Erlendorf wäre so etwas nicht passiert. Da hatte sie und die Kinder dutzende Freunde. Sie trafen sich fast jede Woche zu Kaffee und Kuchen, machten Unternehmungen, Ausflüge, zur Gokart-Bahn in Erlendorf, in den Heide-Park oder in den Zoo. Es war eine Zeit, die ihr immer in Erinnerung blieb und die ihr die Tränen in die Augen trieb, wenn sie daran dachte. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde sie alles wieder gutmachen, Maximilian zu einer Alkoholentwöhnung zwingen, um unter allen Umständen in Erlendorf zu bleiben.
Nun aber fristete sie ein Dasein zwischen Problemen, die, wie sie selber sagte, auch ihre Schuld waren. Sie hatte zu sehr auf ihre Gefühle geachtet, war zum impulsiv gewesen und hatte Maximilian verlassen. Vielleicht gab es sogar noch eine Chance und sie hatte sie einfach nur nicht erkannt. Wenn es so war, dann würde sie sich ein Leben lang Vorwürfe machen, vor allem wegen Peter und Jochen. Irgendetwas in ihr, eine Art Gefühl, verbot ihr auch eine neue Partnerschaft anzufangen. Dafür liebten die Kinder ihren Vater viel zu sehr und sie musste zugeben, dass sie Maximilian auch noch in ihrem Herzen hatte. Es brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten und sacken zu lassen. Sie durfte sich nicht zu sehr von ihren Gefühlen leiten lassen, denn sie halfen einem häufig nicht im wahren Leben. Sie hatten die Kraft das zu zerstören, was man sich jahrelang aufgebaut hatte. Um zu überleben, musste man als abgeklärter Mensch auf so manche Gefühlsregung verzichten, damit das Gleichgewicht eines Systems aus Abläufen, wie eine Ehe, aufrecht erhalten blieb. Sie aber war nicht abgeklärt, sondern steckte voller Emotionen.
››Wir sind gleich da, Mama‹‹, sagte Peter.
››Ja, dann steht schon mal auf.‹‹
Waltraud erhob sich und lief mit den Kindern zur Tür. Der Bus hielt an und sie stiegen aus. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Wache. Sie sah sie schon, etwa hundert Meter weiter.
››Ich habe immer noch Angst‹‹, sagte Jochen, ››die Kinder werden das nicht mögen.‹‹
››Na und. Sie sollen ruhig kommen, dann werden sie es nie wieder machen.‹‹
Peter und Jochen schwiegen. Waltraud war klar, dass sie schon wieder ihren Gefühlen freien Lauf ließ und das vor den Kindern. Sie musste sich auf jeden Fall in der Wache beherrschen, damit die Polizisten sie nicht gleich als hysterische Mutter abstempelten, die eine harmlose Prügelei mit ihren Kindern durch andere Kinder überzogen darstellte. Einfach nur beherrschen, dann war auf der sachlichen Ebene alles klar. Aber die Gefühle der menschlichen Ebene in ihr brodelten wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
››Ihr redet nur, wenn die Polizisten euch etwas fragen, klar?‹‹
››Ja‹‹, sagte Jochen.
››Okay‹‹, sagte Peter.
Waltraud öffnete die große alte Holztür der Wache und trat ein. Sie ging zum Empfang und klopfte auf den Tisch. Der Polizist, der hinter dem Empfang saß, sah nach oben.
››Bitte, die Dame.‹‹
››Ich möchte eine Anzeige erstatten, wegen Körperverletzung. Eines meiner Kinder wurde übelst verprügelt.‹‹
››Nehmen sie dort im Wartebereich Platz. Ein Kollege wird sie gleich in sein Büro rufen.‹‹
››Alles klar.‹‹
Waltraud nahm Peter und Jochen an die Hand und ging ein paar Schritte weiter, bis sie den großen Wartebereich mit den modernen Stühlen erreichte, die an der Wand festgeschraubt waren. Gott sein Dank war es leer und sie hatten ihre Ruhe. Sie setzten sich. Im hinteren Bereich ging eine Tür auf und ein breiter Polizist in Uniform, mit dunkelblonden Haaren und einem langen braunen Bart kam auf Waltraud und die Kinder zu.
››Kommen sie mit.‹‹
Sie standen auf und folgten dem Polizisten in das Büro. Es war sehr klein und hinter dem Schreibtisch sah man den Hinterhof, in dem ein großer Baum stand. Er spendete Schatten und sorgte dafür, dass es nicht ganz so heiß war. Der Polizist räusperte sich:
››Werte Dame, mein Name ist Wolfgang Groß. Ich werde mit ihnen alles klären. Dürfte ich ihren Ausweis und die Kinderausweise sehen?‹‹
››Aber natürlich.‹‹
Waltraud kramte in ihrer schwarzen Ledertasche und holte sie hervor. Sie gab sie Herrn Groß, der währenddessen schon ein paar Blätter und Formulare ausfüllte.
››Sie sind Waltraud Junker, fünfundvierzig Jahre alt, geboren in Buxtehude?‹‹
››Ja.‹‹
››Und ihre Kinder sind Peter Junker und Jochen Junker, sieben und acht Jahre alt, geboren in Erlendorf?‹‹
››Auch das ist richtig.‹‹
››Und sie wollen eine Anzeige stellen?‹‹
››Ja.‹‹
››Dann legen sie los.‹‹
Waltraud beruhigte sich, atmete tief durch und zeigte auf Peter und Jochen.
››Meine Kinder wurden verprügelt. Ich möchte gegen die Täter, die ebenfalls Kinder waren, eine Anzeige wegen Körperverletzung stellen.‹‹
››Kennen sie die Kinder?‹‹
Waltraud sah Peter und Jochen an.
››Kennt ihr sie?‹‹
››Ja sie gehen bei uns auf die Schule‹‹, sagte Peter.
››Welche Schule‹‹, fragte Herr Groß.
››Die Hundertwasser-Gesamtschule‹‹, antwortete Jochen.
››Schon wieder, da passiert so etwas öfters. Wie sahen denn die Kinder aus und kennt ihr sie vielleicht?‹‹
››Sie kommen aus Italien, jedenfalls sprechen sie so‹‹, antwortete Peter, ››alle haben schwarze Haare und tragen immer schöne Klamotten.‹‹
››Das hört sich an wie die Graciello-Familie.‹‹
››Ich glaube so heißen sie auch‹‹, sagte Peter, ››wir haben an der Schule zwölf Jungen, die diesen Nachnamen haben.‹‹
››Das werden sie sein. Und die haben euch verprügelt?‹‹
››Ja‹‹, antwortete Peter, ››sehen sie mich an, Herr Groß. Sie können uns nicht ausstehen, weil wir vom Dorf kommen und nicht so cool sind wie sie. Sie haben auch gesagt, dass wenn wir eine Anzeige stellen, es noch schlimmer wird und sie uns dann weiter verprügeln werden.‹‹
››Eine Anzeige zu stellen ist der richtige Weg‹‹, sagte Herr Groß, ››wir werden die Anzeige aufnehmen und sie auch so schnell wie möglich bearbeiten. Gehe vielleicht nochmal mit deiner Mutter zum Kinderarzt, wenn es mit deinem Gesicht nicht besser wird. Ihr seht ja ganz schön schlimm aus.‹‹
››Machen wir das, Mama‹‹, fragte Peter.
››Aber natürlich mein Schatz‹‹, antwortete Waltraud und streifte Peter durchs Haar.
››Ich muss sie aber nochmal alleine sprechen, Frau Junker. Eine Kollegin wird sich gleich um die Kinder kümmern.‹‹
Herr Groß rief über das Telefon seine Kollegin an und Waltraud begann nervös zu werden, da sie nicht wusste, was Herr Groß von ihr wollte. Sie zeigte es nicht, da sie Peter und Jochen nicht noch mehr verängstigen wollte.
Es klopfte an der Tür und eine große schwarzhaarige Polizistin in Uniform ging auf Peter und Jochen zu.
››Frau Herold, könnten sie sich kurz um die beiden Jungs kümmern.‹‹
››Na klar, kommt mit.‹‹
Sie verließ den Raum mit den beiden und Herr Groß sah Waltraud mit besorgtem Blick an.
››Frau Junker, es geht um die Graciello-Familie.‹‹
››Was ist mit ihr?‹‹
››Ich sage mal ganz vorsichtig, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist, noch nicht mal mit ihren Kindern. Wir vermuten, dass sie zur Mafia gehören und sehr viel Dreck am Stecken haben. Leider können wir es ihnen nicht nachweisen, aber vermutlich würde man ihnen auch unzählige Morde anlasten können. Bisher haben wir sie nur wegen ihrer Kinder bestrafen können, die durch Gewalttaten aufgefallen sind. Sie sind nicht die einzige Mutter, die schon hier her gekommen ist.‹‹
››Dann müssen sie etwas tun. Es kann doch nicht sein, dass sie einfach alle terrorisieren können, schon gar nicht kleine Kinder.‹‹
››Die Familie kümmert das nicht. Sie sind skrupellos und das wird schon an ihre eigenen Kinder weitergegeben. Eigentlich darf ich es ihnen gar nicht sagen, aber da ich selber Vater von drei Kindern bin, ich habe zwei Söhne und eine Tochter, alle in dem Alter ihrer Kinder, möchte ich sie vorwarnen.‹‹
››Hatten sie auch schon mit dieser Graciello-Familie zu tun?‹‹
››Leider ja. Meine drei Kinder waren auch auf der Hundertwasser-Schule und ich musste sie von der Schule nehmen. Sie wurden auch jeden Tag von denen drangsaliert. Verprügelt wurden sie zum Glück nicht.‹‹
››Sie sprechen also aus eigener Erfahrung.‹‹
››Und ich möchte, dass sie meine Worte ernst nehmen, Frau Junker. Die Graciello-Kinder haben keinen Skrupel, sie auch zu Hause aufzusuchen, und das sogar mit Waffen. Nehmen sie sich in Acht.‹‹
››Können sie da als Polizei gar nichts machen. Ich meine das Leben meiner Kinder und auch meins ist in Gefahr.‹‹
››Vorher leider nicht, da die Situation mit ihren Kindern wahrscheinlich im Affekt war. Glauben sie mir, dass selbst wenn sie vor Gericht gehen, die hochbezahlten Anwälte der Familie das auch so hin drehen würden. Wenn sie natürlich vor ihrer Tür stehen und sie bedrohen ist es klar, dass sie die Polizei rufen müssen.‹‹
››Das ist ja furchtbar.‹‹
››Ich habe das alles durch Frau Junker. Passen sie auf jeden Fall auf ihre Kinder auf.‹‹
››Das werde ich machen, unter allen Umständen.‹‹
››Seien sie immer wachsam Frau Junker. Ein hoffentlich schönes Wochenende ihnen noch.‹‹
››Ihnen auch, Herr Groß. Und haben sie vielen Dank.‹‹
Waltraud verließ den Raum und sah Peter und Jochen im Spielzimmer neben dem Empfang spielen. Sie lief hinein.
››Kommt ihr, wir fahren nach Hause.‹‹
››Was hat der Polizist zu dir gesagt, Mama‹‹, fragte Peter.
Waltraud atmete tief ein und merkte, dass sie die Kinder nicht mit der Wahrheit belasten konnte.
››Wir haben nur noch Formalitäten geklärt.‹‹
Maximilian wusste gar nicht, wie viele Flaschen Bier er heute schon geleert hatte, aber es waren einige. Sie lagen lieblos vor dem Sofa und unter dem Tisch. Er hatte in den letzten Tagen beschlossen, seinem Leben endgültig ein Ende zu bereiten. Von der Apotheke hatte er sich dutzende Schlaftabletten geholt und würde sie heute mit reichlich Alkohol nehmen. Eine gewaltige Dosis hatte er schon und heute würde es leicht sein zu sterben. Maximilian würde ganz in Ruhe einschlafen und bräuchte sich um nichts mehr zu kümmern, weder um sich, noch um sein Leben. Da er seine Welt in Ehre verlassen wollte, hatte er penible Vorbereitungen getroffen, um seine Nachwelt nicht zu belasten und ihr das Beste aus seinem Tod zu geben. Für das Bestattungs-Institut hatte er fünftausend Euro in einem Umschlag auf seinem Tisch hinterlassen. Er wollte verbrannt werden, denn er wollte endgüüüüüüüüööüäüü