Die Jagd

ist eine Gattung der Instrumentalmusik

sowie eine musikalische Form,

genannt Sonatenhauptsatzform.

Sie wird für kammermusikalische Besetzungen

oder Klavier komponiert.

Am Nachmittag spielen sie im Garten ein Quiz. Als Thema geben die Nachhilfelehrer Russland vor, neunzehntes, zwanzigstes Jahrhundert. Begleitet von Zikaden erklingen Mussorgski, Tschaikowski und Cui. Die höchste Punktezahl erreicht Lisa. Sie hat nur Die Toteninsel mit den Sinfonischen Tänzen verwechselt. »Rachmaninow hätte es durchgehen lassen«, scherzt der Pädagoge, den sie über den Sommer ins Ausland geholt haben. Silber geht an Pawel. Er hat den Bojarenchor und Die Liebe zu den drei Orangen nicht erkannt. Der Älteste und der Jüngste, Alexander und Anatoli, geben ihre Blätter leer ab. Sascha kommt gerade erst vom Training, Tolja kann sich nicht vom Handy losreißen.

Gegen acht setzen sie sich zum Abendessen. Aus den Boxen plätschern die Moskauer Nächte. Der Störkoch serviert Meeresfrüchte. Pawel rühmt sich, er sei in Antibes gewesen und habe Monsieur Guillaume drei Flaschen zu je sechstausend abgeschwatzt. Alexander schweigt. Tolja spielt. Mama

Nach dem Essen setzen sie sich vor den Fernseher. Der große Flachbildschirm steht gleich hier draußen. Die Kabel schlingen sich um den Gartenschlauch. Über dem Bildschirm kreist eine Biene.

Sie hören dem Vater schweigend zu, aufmerksam wie sonst nie. Papa prognostiziert den unvermeidlichen Zusammenbruch der Konsumgesellschaft, konstatiert die Ineffizienz der Demokratie und besteht auf der Notwendigkeit, die Welt auf Basis orthodoxer Prinzipien zu verändern. Auf eine Frage der Journalistin (einer äußerst hübschen und fatal dummen Interimsgeliebten eines Ministers) verkündet Papa, er fürchte keine Sanktionen, verfüge über keinerlei Immobilien im Ausland, sein einziger Reichtum sei das heilige Russland. Die Kinder lachen. Mamas Miene verdüstert sich.

 

Den nächsten Tag verbringen sie auf dem Meer. Dunkelblaue Wellen, zum Horizont hin verblassend. Mal hier, mal da, als drückten sie Paste aus einer Tube, hinterlassen Jachten lange weiße Bänder. Lisa und Pawel liegen auf dem Deck und

»Weißt du, warum sich der Papst jedes Mal bekreuzigt, wenn er aus einem Flugzeug steigt?«

»Nein, warum?«

»Na, müsstest du mit Alitalia fliegen, würdest du dich auch bekreuzigen!«

 

Mama und Alexander chillen auf dem Hubschrauberlandeplatz der Jacht. Der kleine Tolja kämpft gegen Computermonster. Drei Liegen durchkreuzen das gelbe H. Mama trägt einen Hut, dessen Krempe Saturn alle Ehre gemacht hätte, Sascha eine Radsportkappe mit aufgestelltem Schirm.

Auf der benachbarten Jacht bemüht sich ein neofaschistischer Abgeordneter um Bräune und lässt sich dabei von einem berühmten Schriftsteller bespaßen. Die Kinder des Literaten und ihre Nannys laufen auf der Jacht hin und her. Der Schriftsteller bemüht sich um Geld. Der Abgeordnete hat im Grunde nichts dagegen, zieht aber ein gewisses Vergnügen aus dem linguistischen Gezappel des Autors. Das Meer trägt den Schall gut weiter.

 

»Mein Gott, wenn er nicht gleich was springen lässt, geb ich ihm was!«

»Ja …«

 

Alexander meint einen Text, der erst vor wenigen Stunden im Netz erschienen ist. Nach dem superpatriotischen Auf‌tritt des Vaters hat ein bekannter Journalist einen Blogbeitrag mit Informationen zu einigen (wenn auch unbedeutenden) Konten und küstennahen Häusern online gestellt. Zudem sind die aktuellen Ausbildungsplätze von Lisa, Pawel und Anatoli angeführt, mit korrekter Nennung der zwei Lycées und der Schule in Paris. Dass Alexander in der untersten Fußballdivision Frankreichs spielt, verschweigt der Autor aus irgendeinem Grund.

 

»Glaubst du, Vater wird für seine Worte bezahlen müssen?«

»Eher wird der drankommen, aus dessen Feder das stammt.«