Heilige Maria,
ohne Sünden empfangen,
bete für uns,
die wir uns an dich wenden.
Amen.
Sie sprachen aber: Herr,
sieh, hier sind zwei Schwerter.
Er aber sprach zu ihnen:
Es ist genug.
Lukas, 22:38
Als ich vor zehn Jahren in ein kleines Haus in Saint-Jean-Pied-de-Port trat, war ich sicher, dass ich nur meine Zeit vergeudete. Damals war meine spirituelle Suche mit der Vorstellung verbunden, dass es Geheimnisse, mysteriöse Wege und Menschen gab, die fähig waren, Dinge zu verstehen und zu kontrollieren, die den meisten Sterblichen versagt waren. Daher erschien mir der Gedanke reizlos, den ›Weg der gewöhnlichen Menschen‹ zu gehen.
Viele aus meiner Generation – und auch ich zähle mich dazu – sind von Geheimnissen und Geheimgesellschaften fasziniert und gaukeln sich vor, dass nur was schwierig und kompliziert ist, uns am Ende das Mysterium des Lebens begreifen lässt. 1974 habe ich diesen Aberglauben teuer bezahlt. Dennoch hat sich, nachdem die Angst verflogen war, die Faszination für das Okkulte einen Platz in meinem Leben erobert. Als mein Meister mir vom Jakobsweg erzählte, erschien mir daher diese Pilgerreise nur mühsam und nutzlos. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, die R.A.M. zu verlassen, diese kleine, unbedeutende Bruderschaft, die aus der mündlichen Weitergabe der symbolischen Sprache entstanden war.
Als mich schließlich äußere Umstände dazu brachten, zu tun, was mein Meister von mir verlangte, beschloss ich, dass ich es auf meine Weise tun würde. Am Anfang der Pilgerreise versuchte ich, aus Petrus, meinem Führer, den indianischen Medizinmann Don Juan zu machen, die Figur, auf die der Schriftsteller Carlos Castañeda zurückgreift, um seine Berührung mit dem Außergewöhnlichen zu erklären. Ich glaubte, dass ich mit ein wenig Phantasie die Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg zu einer angenehmen Erfahrung und das, was enthüllt werden würde, zu etwas Okkultem, das Einfache zu etwas Komplexem, das Strahlende zu etwas Mysteriösem machen könnte.
Doch Petrus hat allen meinen Versuchen widerstanden, ihn zu einem Helden zu stilisieren. Das hat unsere Beziehung sehr belastet, und wir haben uns schließlich getrennt, weil wir beide fühlten, dass diese Nähe uns nirgendwohin führte.
Es musste nach dieser Trennung erst geraume Zeit vergehen, bis ich begriff, was diese Erfahrung mir gebracht hatte. Sie gehört heute zu meinem kostbarsten Besitz: Das Außergewöhnliche findet sich auf dem Weg der gewöhnlichen Menschen. Sie erlaubt mir, alle Gefahren auf mich zu nehmen, um dem auf den Grund zu gehen, an das ich glaube. Sie hat mir den Mut verliehen, mein erstes Buch zu schreiben, Auf dem Jakobsweg. Sie hat mir die Kraft gegeben, dafür zu kämpfen, auch wenn mir immer wieder gesagt wurde, dass es unmöglich für einen Brasilianer sei, allein von der Literatur zu leben. Sie hat mir geholfen, würdig und beharrlich den guten Kampf zu führen, den ich tagtäglich mit mir selber austragen muss, wenn ich weiterhin den ›Weg der gewöhnlichen Menschen‹ gehe.
Ich habe meinen Führer nie wiedergesehen. Als das Buch in Brasilien herauskam, versuchte ich, Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch er hat nicht geantwortet. Als die englische Übersetzung erschien, freute mich der Gedanke, dass er nun endlich meine Version dessen lesen könnte, was wir gemeinsam erlebt hatten. Ich habe wieder versucht, ihn zu erreichen, doch er hatte inzwischen eine neue Telefonnummer.
Zehn Jahre später wurde Auf dem Jakobsweg in dem Land veröffentlicht, in dem ich meine Reise angetreten hatte, war ich Petrus doch auf französischem Boden zuerst begegnet. Ich hoffe, ihn eines Tages zu treffen, um ihm sagen zu können: »Danke, ich widme dir dies Buch.«
Paulo Coelho
»Und mögest du im heiligen Angesicht der R.A.M. das Wort des Lebens mit deinen Händen berühren und so viel Kraft daraus gewinnen, dass du bis ans Ende der Welt Zeugnis dafür ablegst.«
Der Meister hielt mein neues Schwert erhoben, ohne es aus der Scheide zu ziehen. Die Flammen knisterten in der Feuerstelle. Dies war ein gutes Vorzeichen, denn es bedeutete, dass mit dem Ritual fortgefahren werden sollte. Da kniete ich nieder und begann mit nackten Händen in die Erde vor mir eine Vertiefung zu graben.
Es war in der Nacht des 2. Februar 1986, und wir befanden uns auf dem Gipfel des Gebirges Serra do Mar in der Nähe einer Felsformation mit dem Namen Agulhas Negras/Schwarze Nadeln. Außer meinem Meister und mir waren noch meine Frau, einer meiner Schüler, ein Bergführer aus dem Ort und ein Vertreter der großen, unter dem Namen ›Tradition‹ bekannten Bruderschaft anwesend. Alle fünf, auch der Bergführer, der zuvor von dem in Kenntnis gesetzt worden war, was hier geschehen sollte, nahmen an meiner Ordination als Meister des R.A.M.-Ordens teil, einer alten christlichen, im Jahre 1492 gegründeten Bruderschaft.
Ich hatte eine lange, flache Kuhle in die Erde gegraben. Während ich die Worte des Rituals sprach, schlug ich feierlich mit den Händen auf die Erde. Dann trat meine Frau zu mir. Sie überreichte mir das Schwert, dessen ich mich über zehn Jahre lang bedient hatte und das in dieser Zeit mein Helfer gewesen war. Ich legte das Schwert in die Kuhle, bedeckte es mit Erde und klopfte sie fest. Dabei stieg die Erinnerung an die Prüfungen, die ich durchlaufen hatte, an die Dinge, die ich gelernt hatte, und an die Phänomene in mir auf, die ich hervorzurufen imstande war, denn damals hatte ich stets dieses uralte Schwert, meinen großen Freund, bei mir gehabt. Nun würde die Erde es verschlingen, das Eisen seiner Klinge und das Holz seines Griffes würden den Ort wieder nähren, aus dem es so viel Macht geschöpft hatte.
Der Meister trat auf mich zu und legte mein neues Schwert vor mich auf die Stelle, an der ich das alte vergraben hatte. Da breiteten alle ihre Arme aus, und der Meister ließ um uns ein seltsames Licht entstehen, das zwar keine Helligkeit spendete, jedoch unsere Umrisse in eine andere Farbe als den gelben Schein tauchte, der vom Feuer ausging. Dann zog der Meister sein eigenes Schwert aus der Scheide und berührte damit meine Schultern und meinen Kopf und sagte:
»Aus der Macht und der Liebe der R.A.M. heraus ernenne ich dich zum Meister und Ritter des Ordens, heute und für alle Tage bis an dein Lebensende. R steht für Rigor, die Strenge, A steht für Amor, die Liebe, M steht für Misericordia, die Barmherzigkeit, R steht für Regnum, das Reich, A steht für Agnus, das Lamm, M steht für Mundus, die Welt. Wenn das Schwert dein ist, lass es nie lange in seiner Scheide, denn es könnte rosten. Doch wenn es seine Scheide verlässt, soll es niemals dorthin zurückkehren, ohne zuvor Gutes getan oder einen Weg gebahnt zu haben.«
Mit der Spitze seines Schwertes hatte er mich am Kopf leicht verletzt. Nun musste ich nicht mehr schweigen. Ich musste nunmehr weder verstecken, wozu ich fähig war, noch die Wunder verbergen, die ich auf dem Weg der ›Tradition‹ zu vollbringen gelernt hatte. Von diesem Augenblick an war ich ein Mitbruder.
Ich hielt meine Hand ausgestreckt, um mein neues Schwert mit seinem schwarzroten Griff und seiner schwarzen Scheide zu ergreifen, das aus dem unzerstörbaren Stahl und aus dem Holz gemacht war, von denen die Erde sich nicht genährt hatte. Doch als ich das Schwert an mich nehmen wollte und ich die Scheide berührte, machte der Meister einen Schritt nach vorn und trat mir so heftig auf die Finger, dass ich vor Schmerz aufschrie und meine Hände zurückzog.
Ich sah ihn an und wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Das seltsame Licht war verschwunden, und die Flammen ließen sein Gesicht wie eine Geistererscheinung wirken.
Er warf mir einen kalten Blick zu, rief meine Frau zu sich heran und übergab ihr das neue Schwert. Dann wandte er sich mit den folgenden Worten an mich:
»Zieh deine Hand zurück, denn sie klagt dich an! Der Weg der ›Tradition‹ ist nicht der Weg weniger Erwählter, sondern der Weg aller Menschen! Und die Macht, die du zu besitzen glaubst, wird wertlos, wenn du sie nicht mit anderen Menschen teilst! Du hättest das neue Schwert verweigern sollen. Wäre dein Herz rein gewesen, hättest du es erhalten. Doch wie ich schon befürchtet hatte, bist du im entscheidenden Augenblick gestrauchelt und gefallen. Wegen deiner Begehrlichkeit musst du dich nun erneut auf die Suche nach deinem Schwert begeben. Wegen deines Hochmuts musst du es nun unter den einfachen Menschen suchen. Und wegen deiner Verblendung durch die Wunder wirst du jetzt hart kämpfen müssen, um das wiederzuerlangen, was dir großzügig gegeben worden wäre.«
Mir war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich kniete noch immer da, sprachlos. Jetzt, wo ich mein altes Schwert der Erde übergeben hatte, konnte ich es nicht mehr zurückbekommen. Und da mir das neue verweigert worden war, stand ich nun wieder da wie am Anfang, macht- und schutzlos. Der Tag meiner himmlischen Weihe, die Gewalttätigkeit meines Meisters, der mir die Finger zertreten hatte, schickte mich zurück in die Welt des Hasses und der Erde.
Der Bergführer löschte das Feuer, und meine Frau kam zu mir, um mir beim Aufstehen zu helfen. Sie trug nun mein neues Schwert; nach den Regeln der ›Tradition‹ durfte ich es ohne Erlaubnis meines Meisters nicht berühren. Wir gingen hinter der Laterne unseres Bergführers schweigend durch den Wald hinunter und gelangten schließlich zu dem Trampelpfad, an dem die Wagen geparkt waren.
Niemand hat sich von mir verabschiedet. Meine Frau legte das Schwert in den Kofferraum und warf den Motor an. Wir schwiegen eine geraume Weile, während sie langsam fuhr, um den Schlaglöchern und Buckeln auf dem Weg auszuweichen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie, um mir ein wenig Mut zu machen. »Ich bin sicher, dass du es wiederfinden wirst.«
Ich fragte sie, was der Meister zu ihr gesagt habe.
»Drei Dinge. Erstens, dass er etwas Warmes zum Anziehen hätte mitnehmen sollen, da es dort oben kälter war als vorgesehen. Zweitens, dass ihn dies alles nicht überrascht habe, weil es auch anderen schon passiert sei, die genauso weit gekommen waren wie du. Und drittens, dass dein Schwert dich an einer Stelle des Weges, den du gehen musst, erwarten werde. Ich weiß weder das Datum noch die Stunde. Er hat mir nur den Ort genannt, an dem ich es verstecken soll, damit du es findest.«
»Und welcher Weg ist das?«, fragte ich gereizt.
»Ach, das hat er nicht so genau gesagt. Er hat nur gesagt, dass du auf der Landkarte von Spanien einen Weg aus dem Mittelalter suchen sollst mit dem merkwürdigen Namen Jakobsweg.«
Der Zöllner schaute lange auf das Schwert, das meine Frau trug, und fragte uns, was wir damit vorhätten. Ich antwortete ihm, dass ein Freund von uns eine Expertise dafür erstellen sollte, bevor wir es zur Versteigerung freigaben. Die Lüge zog. Der Zöllner bescheinigte uns, dass wir mit dem Schwert auf dem Flughafen von Barajas eingereist seien, und wies uns an, das Dokument beim Zoll vorzulegen, falls es bei der Ausreise Schwierigkeiten gäbe.
Wir gingen dann zum Schalter der Autovermietungsfirma, um uns die Reservierung für zwei Wagen bestätigen zu lassen, nahmen die Tickets an uns und suchten dann eines der Flughafenrestaurants auf, um noch eine Kleinigkeit zu essen, bevor wir uns trennten.
Ich hatte im Flugzeug die ganze Nacht kein Auge zubekommen. Zum einen, weil ich Flugangst habe, zum anderen aus Furcht vor dem, was kommen würde. Trotzdem war ich aufgeregt und hellwach.
»Nimm es nicht so schwer«, sagte meine Frau zum x-ten Mal. »Du sollst nach Frankreich fahren und dort in Saint-Jean-Pied-de-Port eine Madame Savin aufsuchen. Sie wird dich mit jemandem zusammenbringen, der dich auf dem Jakobsweg führen wird.«
»Und du?«, fragte ich sie, auch zum x-ten Mal.
»Ich werde dorthin fahren, wohin ich geschickt werde, um das wieder zurückzubringen, was mir anvertraut wurde. Anschließend bleibe ich ein paar Tage in Madrid und fliege dann zurück nach Brasilien. Ich kann unsere Angelegenheiten genauso gut regeln wie du.«
»Ja, ja, ich weiß«, antwortete ich kurz angebunden, denn ich hatte keine Lust, darüber zu reden.
Der Gedanke an die Arbeit, die in Brasilien erledigt werden musste, bedrückte mich sehr. Zwei Wochen nach dem Ereignis bei den Schwarzen Nadeln hatte ich das Wichtigste über den Jakobsweg gelernt, doch dann brauchte ich noch sieben Monate, bis ich mich entscheiden konnte, alles zurückzulassen und die Reise anzutreten. Eines Morgens verkündete mir meine Frau, der Zeitpunkt sei nun gekommen, eine Entscheidung zu treffen, denn sonst könnte ich den Weg der Magie und der Bruderschaft und des R.A.M.-Ordens ein für alle Mal vergessen. Ich versuchte ihr zu beweisen, dass der Meister mir eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte, weil ich mich nicht einfach aus der Verantwortung für meine alltägliche Arbeit stehlen könne. Sie lachte und entgegnete, dass dies keine gute Entschuldigung sei, denn während der vergangenen sieben Monate hätte ich nichts Rechtes zuwege gebracht und Tag und Nacht nur damit vertan, mich zu fragen, ob ich nun die Reise machen sollte oder nicht. Und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, reichte sie mir zwei Tickets, auf denen das Flugdatum stand.
»Dass wir jetzt hier sind, verdanken wir deiner Entscheidung«, meinte ich in der Flughafencafeteria. »Ich weiß nicht, ob es richtig war, jemand anderen entscheiden zu lassen, ob ich mein Schwert suchen soll oder nicht.«
Meine Frau antwortete mir, es sei wohl besser, gleich unsere Autos zu besteigen und sich zu verabschieden, bevor wir anfingen, uns weiterhin gegenseitig irgendwelchen Unsinn zu erzählen.
»Du würdest niemals zulassen, dass jemand anderes auch nur die kleinste Entscheidung in deinem Leben trifft. Nun komm, es ist schon spät.«
Sie nahm ihr Gepäck und ging zum Schalter der Autovermietung. Ich blieb sitzen und beobachtete, wie nachlässig sie mein Schwert trug, das ihr jeden Augenblick unter dem Arm hervorzurutschen drohte.
Auf halbem Wege blieb sie stehen, kam dann an den Tisch zurück, an dem ich saß, küsste mich geräuschvoll auf den Mund und blickte mich lange wortlos an. Mir wurde mit einem Mal bewusst, wie groß die Gefahr eines Scheiterns war. Doch nun hatte ich den ersten Schritt getan und konnte nicht mehr zurück. Ich umarmte sie liebevoll, mit der ganzen Liebe, die ich in diesem Augenblick fühlte, und während sie in meinen Armen lag, bat ich all das, an was ich glaubte, und alle, an die ich glaubte, mir die Kraft zu geben, mit dem Schwert zurückzukehren.
»Hübsches Schwert, was?«, meinte eine weibliche Stimme am Nebentisch, nachdem meine Frau gegangen war.
»Wenn du willst, kaufe ich dir genau so eins«, antwortete eine Männerstimme. »In den Touristenläden hier in Spanien gibt es die zu Hunderten.«
Nachdem ich eine Stunde gefahren war, begann ich, die Müdigkeit zu spüren, die sich in der vergangenen Nacht angesammelt hatte. Die Augusthitze brannte, und ich beschloss, in einer kleinen Stadt kurz anzuhalten, die auf den Straßenkarten als historischer Ort angegeben war. Während ich mit dem Wagen den steilen Hang hinaufkletterte, der dorthin führte, rief ich mir noch einmal alles ins Gedächtnis zurück, was ich über den Jakobsweg gelernt hatte.
Die muslimische Tradition verlangt von jedem Gläubigen, dass er zumindest einmal in seinem Leben nach Mekka pilgert. Das Christentum kannte im ersten Jahrtausend drei Wege, die jedem, der sie bis zu ihrem Ende beschritt, Segnungen und Ablässe versprachen. Der erste führte zum Grabe Petri nach Rom. Sein Symbol war das Kreuz. Romfahrer nannte man diese Pilger. Der zweite führte zum Heiligen Grab Christi in Jerusalem, und die Menschen, die dorthin pilgerten, wurden Palmträger genannt, denn sein Symbol waren die Palmen, die Christus bei seinem Einzug in die Stadt begrüßt hatten. Der dritte Weg führte zu den Reliquien des Apostels Jakobus, die auf der Iberischen Halbinsel an der Stelle begraben waren, an der ein Hirte eines Abends über einem Feld einen Stern leuchten sah. Der Legende zufolge sollen der heilige Jakobus und die Jungfrau Maria dort nach Christi Tod das Evangelium verkündet und die Bevölkerung aufgefordert haben, sich zum Wort Gottes zu bekehren. Der Ort erhielt den Namen Compostela, das Sternenfeld, und bald erhob sich dort eine Stadt, die Reisende aus der gesamten christlichen Welt anziehen sollte. Denjenigen, die diesen dritten heiligen Weg gingen, wurde der Name Jakobsbruder gegeben, und sie erkoren die Muschel zu ihrem Symbol.
Während ihres goldenen Zeitalters im 14. Jahrhundert pilgerten über eine Million Menschen den Jakobsweg entlang, der auch ›Milchstraße‹ genannt wurde, weil sich die Pilger nachts nach dieser Galaxis orientierten. Bis heute wandern Mystiker, Fromme und Suchende die siebenhundert Kilometer, von der französischen Stadt Saint-Jean-Pied-de-Port zur Kathedrale von Santiago de Compostela in Spanien.
Dank dem französischen Priester Aymeric Picaud, der im Jahre 1123 nach Compostela pilgerte, entspricht die heutige Route noch der, der die mittelalterlichen Pilger wie Karl der Große, Franz von Assisi, Isabella von Kastilien und, vor gar nicht langer Zeit, auch Papst Johannes XXIII. folgten. Picaud schrieb fünf Bücher über seine Erlebnisse, die als Werk von Papst Calixtus II., eines großen Verehrers des heiligen Jakobus, ausgegeben und später unter der Bezeichnung Codex Calixtinus bekannt wurden. Im V. Buch des Liber Calixtinus, dem Liber Sancti Jacobi, zählte Picaud Merkmale in der Natur, Brunnen, Hospize, Unterstände und Städte längs des Weges auf. Auf den Kommentaren von Picaud fußend, hat es sich die Gesellschaft der Freunde der Jakobsstraße (Santiago ist der spanische Name des heiligen Jakobus, auf Englisch James, italienisch Giacomo) zur Aufgabe gemacht, diese Merkmale in der Natur bis hin zum heutigen Tage zu erhalten und den Pilgern beizustehen.
Im 12. Jahrhundert begann die spanische Nation in ihrem Kampf gegen die Mauren, die die Halbinsel besetzt hatten, die Mystik des heiligen Jakobus für sich zu nutzen. Mehrere religiöse Ritterorden entwickelten sich längs des Pilgerweges, und die Asche des Apostels wurde zu einem mächtigen spirituellen Bollwerk im Kampf gegen die Muselmanen, die ihrerseits behaupteten, der Arm Mohammeds sei mit ihnen. Doch nach dem Ende der Reconquista, der Wiedereroberung der Iberischen Halbinsel, waren die Militärorden so mächtig geworden, dass der Staat sie als Bedrohung empfand und die Reyes Catolicos, die Katholischen Könige, sich zum Eingreifen gezwungen sahen, um zu verhindern, dass diese Orden sich gegen den Adel erhoben. In der Folge fiel der Jakobsweg allmählich weitgehend der Vergessenheit anheim, und würde er nicht hin und wieder einmal in der Kunst – wie im Film Die Milchstraße von Buñuel oder in Caminante von Joan Manuel Serrat – thematisiert, würde sich heutzutage kaum jemand mehr daran erinnern, dass einstmals Tausende von Menschen diesen Weg gegangen sind, von denen einige später die Neue Welt bevölkert haben.
Die kleine Stadt, in die ich gelangte, lag vollkommen verlassen da. Nach langem Suchen fand ich eine kleine Kneipe in einem mittelalterlich wirkenden Gebäude. Der Wirt, der den Blick nicht von der Nachrichtensendung im Fernsehen wandte, bedeutete mir, dass jetzt Siestazeit und ich verrückt sei, bei dieser Hitze herumzufahren.
Ich bestellte ein kaltes Getränk, war versucht, auch ein wenig fernzusehen, doch ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich dachte nur daran, dass ich in zwei Tagen, mitten im 20. Jahrhundert, ein ähnlich großes Abenteuer der Menschheit erleben würde wie jenes, das Odysseus nach Troja, Don Quichotte auf die kastilische Hochebene La Mancha, Dante und Orpheus in die Unterwelt und Christoph Kolumbus nach Amerika führte: das Abenteuer einer Reise ins Unbekannte.
Als ich wieder ins Auto stieg, hatte sich meine Unruhe etwas gelegt. Selbst wenn ich mein Schwert nicht fand, die Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg würde mir erlauben, mich selbst zu entdecken.