1
Einzusehen im Film & Television Archive der UCLA (302 East Melnitz, Box 951323, Los Angeles, CA 90095, http://www.cinema.ucla.edu), Konvolut Saunders Estate P.
2
Kleiner gesetzte Abschnitte oder Satzteile in den Texten von Samuel Saunders sind im Manuskript mit einer roten Wellenlinie gekennzeichnet. Meistens handelt es sich dabei um zu persönliche oder zu emotionale Ausführungen. Wahrscheinlich wurden sie für die nicht erhaltene Endfassung gestrichen oder umformuliert.
3
Siehe das Schreiben auf S. 209ff.
4
1909, Regie D.W. Griffith, Hauptdarsteller Mack Sennett.
5
From Berlin To Hollywood: An Actor’s Journey, New York 1984.
6
Eine Liste der wichtigsten Filme, in denen Arnie Walton mitgewirkt hat, findet sich im Anhang A. Alle drei Listen im Anhang stammen aus den Saunders-Papieren.
7
From Berlin To Hollywood, S. 24. Es war leider nicht möglich, von seinem Verlag eine Abdruckgenehmigung für diese oder eine andere Stelle zu bekommen.
8
Eine Liste der wichtigsten UFA-Filme von Walter Arnold findet sich im Anhang B.
9
In den Papieren im Archiv FTA/UCLA befindet sie sich nicht.
10
Die deutschen Sprachkenntnisse von Samuel Saunders lassen sich anhand des Briefes auf S. 252ff. beurteilen.
11
1945, Regie Wolfgang Staudte, Hauptdarsteller Axel von Ambesser. Die hier von Saunders angedachte Rekonstruktion hat zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt tatsächlich stattgefunden. Die wiederhergestellte Fassung von Der Mann, dem man dem Namen stahl wurde am 21.6.1996 in Berlin uraufgeführt.
12
Die Tonaufnahmen, die Samuel Saunders von seinen Interviews mit Tiziana Adam gemacht hat, sind leider nicht von professioneller technischer Qualität. Vor allem sind die Fragen und Zwischenbemerkungen des Interviewers nicht hörbar, lassen sich aber meist aus dem Zusammenhang herleiten. Die Gespräche werden hier zum ersten Mal transkribiert.
13
Eine vollständige Liste dieser Filme findet sich im Anhang C.
14
Die einzige Drehbuchseite dieser Fassung, die sich in den Papieren von Samuel A. Saunders findet. Sie blieb erhalten, weil ihre Rückseite für einen Briefentwurf benutzt wurde. (Siehe auch die Anmerkung auf Seite 129.)
15
Endet hier.
16
Wagenknechts Tagebucheinträge sind nicht datiert. Da es sich um lose Blätter handelt, ist auch die Einordnung in eine Reihenfolge problematisch. Die angegebenen Datierungen sind aus dem Zusammenhang abgeleitete Approximationen.
17
Luis (eigentlich Alois Franz) Trenker (1892–1990), Bergsteiger, Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller, bekannt für seine Filme über die Alpen.
18
Zum Realitätsbezug des folgenden Textes siehe die Ausführungen von Samuel A. Saunders auf Seite 73f.
19
Regie Helmut Käutner; Hauptdarsteller Hannelore Schroth, Gustav Knuth, Carl Raddatz. Der Film wurde 1945 von der Zensur nicht freigegeben und kam erst 1946 zur Uraufführung.
20
Weitere Beiträge in dieser Wochenschau: Im Generalgouvernement heben Bergarbeiter Gräben für Panzersperren aus./Junge lettische Kriegsfreiwillige werden als Luftwaffenhelfer in die Wehrmacht aufgenommen./Flugzeuge des Typs Focke-Wulf 190 bombardieren feindliche Stellungen an der Westfront./Panzergrenadiere im Angriff auf sowjetische Truppen in Kurland./Niederschlagung des Volksaufstands in Warschau./Kämpfe um Lunéville./Goebbels besucht die Westfront und hält eine Durchhalterede bei einer Kundgebung in Köln.
21
Getrud Scholtz-Klink (1902–1999), Reichsfrauenführerin, wurde oft wegen ihrer »Schneckenfrisur« verspottet.
22
From Berlin To Hollywood, S. 84.
23
Emmy (eigentlich Emma Johanna Henny) Sonnemann (1893–1973), Schauspielerin, zweite Frau von Hermann Göring.
24
From Berlin To Hollywood, S. 104ff.
25
From Berlin To Hollywood, S. 119f.
26
Siehe dazu auch die Anmerkungen von Samuel A. Saunders auf S. 73f.
27
Der handschriftliche Entwurf zu einem Schreiben in dieser Sache findet sich auf der Rückseite der einzigen erhaltenen Drehbuchseite der ersten Fassung von Lied der Freiheit (siehe Seiten 42f.).
28
Der von Samuel A. Saunders verfasste Fragebogen ist in seinen Papieren nicht erhalten. Die Fragen, auf die sich die einzelnen Antworten von Markus Heckenbichler beziehen, lassen sich aber durch die Nummerierung der Antworten und ihren inhaltlichen Zusammenhang leicht rekonstruieren.
29
Seite 42f. Siehe dazu auch die Anmerkung auf S. 129.
30
Eberhard Wolfgang Möller (1906–1972), Theaterreferent im Propagandaministerium, war unter anderem Mitverfasser des Drehbuchs zum antisemitischen Hetzfilm Jud Süß. Das Frankenburger Würfelspiel war ein Thingspiel, das er anlässlich der Olympiade 1936 verfasste.
31
Christl Cranz (1914–2004), Skiläuferin, zwölffache Weltmeisterin sowie Olympiasiegerin 1936.
32
Erik Jan Hanussen (eigentlich Hermann Chajim Steinschneider, 1889–1933), Trickkünstler und »Hellseher«.
33
AUSSERHALB DES BILDES.
34
Die Person des Absenders ließ sich nicht eruieren.
35
Auch bei diesem Text ist nicht klar, wie weit er auf Fakten beruht, die Werner Wagenknecht im Gespräch mit Nikolaus Melchior erfahren haben könnte. (Siehe dazu auch die Ausführungen von Samuel Saunders auf S. 73f.)
36
Dieser Brief ist im Original in deutscher Sprache verfasst. Um dem Leser einen Eindruck von Samuel Saunders Deutschkenntnissen zu vermitteln, habe ich Grammatik- und Orthographie-fehler nicht korrigiert.
37
Vermutlich handelt es sich um eine Stelle aus dem letzten Akt von Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg: »Der Tod wäscht jetzt von jeder Schuld mich rein./Lass meinem Herzen, das versöhnt und heiter/Sich deinem Rechtsspruch unterwirft, den Trost,/Dass deine Brust auch jedem Groll entsagt.«
38
Bernhard Stredele (1911–1981), Kreisleiter von Berchtesgaden.
39
Das Sirenensignal »Entwarnung« nach einem Fliegeralarm.
40
From Berlin To Hollywood, S. 278ff.
41
Hitlerjunge Quex (1933), nationalsozialistischer Propagandafilm, Regie: Hans Steinhoff.
42
Ab hier handschriftlich.
43
Dies ist die letzte Tagebucheintragung von Werner Wagenknecht, geschrieben am Tag seines Todes.
44
Handschriftlich.
45
Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force.
46
Browning M2 HB, ein schweres Maschinengewehr.
47
Aus: Joachim Ringelnatz (1883–1934): Ich habe dich so lieb.
48
Christopher Vogler: The Writer’s Journey (deutsche Fassung Die Odyssee des Drehbuchschreibers), ein populärer Leitfaden für Drehbuchautoren.
49
Der Titel, den Samuel A. Saunders für sein Buch gewählt hatte, lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. »Killing Time« kann sowohl »die Zeit totschlagen« wie auch »Zeit zum Töten« bedeuten.
50
1915, Regie D.W. Griffith.
51
Es ist mir nicht gelungen, die Bank ausfindig zu machen, in der Samuel A. Saunders das Filmmaterial deponiert hatte. Als nach seinem Tod die Gebühren nicht mehr bezahlt wurden, hat man das Schließfach wahrscheinlich geöffnet und den Inhalt entsorgt.
Für meinen Sohn Micha,
der die Filmleute kennt
»Toto, I’ve got a feeling we’re not in Kansas anymore.«
Judy Garland in The Wizard Of Oz
In der Nacht vom 26. auf den 27. Juni 2011, kurz nach ein Uhr, fiel Automobilisten auf dem Hollywood Boulevard in Los Angeles ein Mann auf, der mit einer Spitzhacke über der Schulter mitten auf der Straße in östlicher Richtung unterwegs war. Eine herbeigerufene Polizeipatrouille entdeckte den Mann auf dem nördlichen Bürgersteig, nahe der Kreuzung mit der Sycamore Avenue, wo er mit seinem Werkzeug auf einen der in den Boden eingelassenen Sterne des Walk Of Fame einschlug. Auf die Aufforderung, seine Tätigkeit einzustellen, reagierte er nicht. Als die Beamten ihre Anweisung wiederholten, hob er die Hacke in bedrohlicher Weise gegen sie, worauf ihn Police Officer Milton D. Harlander jun. durch gezielten Einsatz seiner Dienstwaffe außer Gefecht setzte. Der Mann wurde mit einem Beindurchschuss ins Hollywood Community Hospital eingeliefert, wo er trotz intensiver ärztlicher Bemühungen in den frühen Morgenstunden verstarb. Bei der Obduktion wurde ein von der Schussverletzung unabhängiger Herzinfarkt als Todesursache festgestellt. Eine interne Untersuchung des LAPD bescheinigte Officer Harlander ein in jeder Hinsicht korrektes Vorgehen.
Bei dem Mann handelte es sich um einen gewissen Samuel A. Saunders, 49 Jahre alt, Besitzer der Videothek Movies Forever, 14th Street, Santa Monica. Der von ihm beschädigte Stern war dem Schauspieler Arnie Walton (1914–1991) gewidmet. Ob Saunders das Ziel seines Vandalenakts zufällig ausgewählt hatte oder ob es sich um eine gezielte Attacke handelte, konnte nicht festgestellt werden. Aufgrund des Ablebens des Täters wurden die Ermittlungen wegen Sachbeschädigung eingestellt.
Samuel A. Saunders hinterließ keine Verwandten. Eine letztwillige Verfügung wurde nicht gefunden. Die Bestände seiner Videothek wurden dem Film & Television Archive der UCLA übergeben. Es handelt sich dabei um historische Filme und Filmausschnitte auf verschiedenen Bildträgern sowie um persönliche Papiere und Aufzeichnungen. Die Materialien wurden bisher noch nicht archivarisch erfasst.
Die von Samuel Anthony Saunders hinterlassenen Unterlagen1 bestehen aus Briefen, Listen, Notizen, Ausdrucken von Internetseiten, Tonbändern und verschiedenen Ansätzen zu einer literarischen oder wissenschaftlichen Arbeit. Zusammen ergeben sie eine Geschichte, deren Wahrheitsgehalt sich aus heutiger Sicht nur schwer überprüfen lässt.
Weder das Manuskript, von dem immer wieder die Rede ist, noch die Dissertation, auf der es basierte, haben sich in den Papieren erhalten. Im Sinne einer Rekonstruktion habe ich aus den Texten und Textfragmenten eine Auswahl getroffen und versucht, sie in eine logische Reihenfolge zu bringen. Die Abfolge der einzelnen Teile entspricht dabei nicht notwendigerweise der Chronologie ihrer Entstehung, soweit sich diese überhaupt feststellen lässt. Daten sind nur notiert, wo sie (wie bei den exakt dokumentierten Tonbandaufnahmen) feststehen oder sich mit großer Wahrscheinlichkeit rekonstruieren ließen.
Soweit nicht anders angegeben, sind die schriftlichen Dokumente mit Schreibmaschine oder Computer verfasst. Innerhalb der Texte habe ich – abgesehen von der Übersetzung ins Deutsche – keine Änderungen vorgenommen. Mehrfache Darstellungen desselben Sachverhalts wurden weggelassen. Wo es mir angebracht schien, habe ich in Fußnoten erklärende Anmerkungen hinzugefügt.
C.L.
Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Noch aus dem Grab heraus macht er sich über mich lustig, freut sich grinsend über meine Enttäuschung und wendet sich dann mit einem Schulterzucken ab, so wie er sich in Real Men abwendet, nachdem er den Viehdieb erschossen hat. Dreht dem Besiegten den Rücken zu und schaut nicht zurück.
Ich kenne alle seine Gesten, das ganze Repertoire seiner schauspielerischen Mätzchen, die hochgezogene Augenbraue, der neckisch an die Wange gelegte Zeigefinger, das vorgeschobene Kinn. Ich kenne seinen Charme, der so künstlich ist wie das Erdbeeraroma in einem Milchshake. Ich kenne das Lachen, das er jetzt wahrscheinlich im Schauspielerhimmel lacht, denn aus der Hölle, die er verdient, wird er sich längst
[Handschriftlich angefügt:] NEIN!!! KEINE EMOTIONEN!!! SACHLICH BLEIBEN!!!
Soundstage Books, kein großer Verlag, aber auf Themen aus der Filmwelt spezialisiert, hatte ernsthaftes Interesse an dem Manuskript gezeigt. Der Lektor, ein Mr. Williams, war sogar regelrecht begeistert. Und trotzdem musste er mir schließlich mitteilen, sie hätten sich nun doch gegen eine Publikation entschieden. Es habe sich gezeigt, dass sich heute niemand mehr für Arnie Walton interessiere. Die meisten der Befragten hätten nicht einmal seinen Namen einordnen können. Das Risiko, mit dem Buch einen Flop zu landen, sei deshalb zu groß. Vor zwanzig Jahren, sagte er, wäre es noch etwas anderes gewesen. Er bedauerte die Absage und wünschte mir viel Glück. In einem der alten Filme, die ich so liebe, wäre in diesem Moment das Wort ENDE eingeblendet worden.
Soundstage Books waren meine letzte Hoffnung gewesen. Alle anderen Verlage, soweit sie überhaupt reagierten, hatten mich mit einem Formbrief abgewimmelt.
Vor zwanzig Jahren hätten sie zugegriffen. Aber damals hat man mich das Buch nicht publizieren lassen. Heute, wo sie mich ließen, will es niemand mehr haben.
Die Dramaturgie meines Ruins könnte aus einem Handbuch für Scriptwriting stammen. Jeder Anfänger weiß, dass man kurz vor der endgültigen Katastrophe noch einmal Hoffnung aufkeimen lässt.
Sie sah in meinem Fall so aus: Das Studio ließ mir einen Brief schreiben, mit der Mitteilung, sie hätten jetzt nichts mehr gegen das Buch. Im Gegenteil, sie würden mein Projekt sogar unterstützen und wären bereit, zweihundert Exemplare zum Ladenpreis abzunehmen.
Wahrscheinlich wollen sie seine alten Filme noch einmal auf den Markt bringen, als Blue-Ray-Special-Super-Gold-Edition oder wie man das heute nennt, wenn man alten Wein in neue Schläuche füllt. Damit sich irgendjemand für ihren vergessenen Alt-Star interessiert, brauchen sie für ihre Pressearbeit einen Skandal. Den ich ihnen liefern soll.
Zweihundert Exemplare! Hunderttausend hätte ich verkaufen können, damals.2
Als der Brief kam, habe ich gedacht, es sei die nächste Drohung. Sie hätten etwas von den neuen Beweisen erfahren – ich weiß nicht, wie das möglich gewesen wäre, aber damals, als es noch um eine Doktorarbeit ging, haben sie es auch geschafft – und wollten mich nun daran hindern, sie zu veröffentlichen. Schreiben von McIlroy & Partners haben noch nie etwas Gutes bedeutet. Aber der Brief war ganz höflich. Die Anwälte haben die Seiten gewechselt.
McIlroy & Partners. Diese ekelhaften Paragraphenroboter mit den geschniegelten Gesichtern und den geschniegelten Schriftsätzen. Einmal bin ich hingegangen, wollte mit McIlroy persönlich sprechen, ihm klarmachen, dass sie mein Leben ruinierten mit ihren Anwaltstricks. Sie haben mich nur angesehen, fast mitleidig. Niemand spricht mit McIlroy, schon gar nicht ein Würstchen wie du, sagten ihre Gesichter. Um dich fertigzumachen, reicht ein juristischer Anfänger, frisch von der Schulbank.
Ich weiß bis heute nicht, wer Arnie Walton damals das Manuskript meiner Dissertation zugespielt hat. Ich hatte sie noch nicht eingereicht, nur ein paar Leuten zum Lesen gegeben. Wollte mir Meinungen einholen, Verbesserungsvorschläge. Und dann hat mich Professor Styneberg zu sich bestellt.
Styneberg, den ich einmal so verehrt habe. Der berühmte Professor Styneberg, der Superliberale, der jedes Manifest, in dem es um die Freiheit der Kunst geht, als Erster unterzeichnete. Er gab mir in seiner väterlichen Art – seiner verlogenen väterlichen Art – den Rat, aus dem Umkreis meiner Recherchen doch besser ein anderes Thema zu wählen. Eine Arbeit über Arnie Walton sei einfach nicht opportun.
Ich konnte es nicht verstehen.
Bis ich nach Hause kam, und da lag der erste Brief von McIlroy & Partners. Rufschädigung. Verleumdung. Schadenersatz. Sie hätten mich durch die Gerichte getrieben, bis nichts von mir übrig geblieben wäre als ein Haufen Schulden.
Dabei hatte ich Belege für fast alles. Dokumente und Aussagen. Es hat mir nichts genützt.
Recht bekommt derjenige, der mehr Geld hat.
Wenn ich das Buch damals geschrieben hätte, so wie es mir ein Freund geraten hatte3, die Dissertation vergessen und mich direkt an das Buch gemacht, wenn ich das Manuskript vor dem Erscheinen niemandem gezeigt hätte, den Verlag zur Verschwiegenheit verpflichtet, wenn dieses Buch erschienen wäre und keine Klage hätte es mehr aus der Welt schaffen können – es wäre ohne Zweifel ein Bestseller geworden. Eine Sensation. In Scharen wären die Reporter am Roxbury Drive vorgefahren, mit ihren Teleobjektiven und Übertragungswagen. Den schmiedeeisernen Zaun mit den lächerlichen Messingspitzchen hätten sie ihm eingedrückt. Hätten ihm ihre Fragen per Megaphon zugebrüllt, und das ganze Land hätte sie gehört. Und er hätte sich feige in seiner Villa verbarrikadiert und sich geweigert, ihnen Antwort zu geben. No comment, no comment, no comment. Er wäre kein Held mehr gewesen von diesem Tag an. Die ganze Welt hätte sich über ihn lustig gemacht. Die Academy hätte ihm den Ehren-Oscar aberkannt.
Und ich wäre ein Star gewesen. Durch die Sender wäre ich getingelt, von Morning Show zu Morning Show. Ein Enthüllungsjournalist wie Bob Woodward. Watergate und Waltongate.
Meine Doktorarbeit hätte ich auch noch später schreiben können, mit all den Zitaten und Verweisen, die dazugehören, und heute wäre ich kein gescheiterter Akademiker ohne Abschluss, sondern Professor für Filmgeschichte. Stynebergs Büro, das Büro, in dem meine Welt untergegangen ist, würde mir gehören, nicht Barbara Cyslevski, dieser Harvard-Tussi mit ihren Gender-Analysen.
Manchmal mache ich auf dem Weg zu meinem Laden den Umweg über die Hilgard Avenue. Nur um am Campus vorbeizufahren. Dozent an der UCLA, das würde mir zustehen. Stattdessen muss ich mich mit einer Videothek für historische Filme über Wasser halten.
Über Wasser halten? Ich werde bald ersaufen. Mein kleiner Laden läuft jeden Monat schlechter. Was ich mühsam gesammelt habe, zum Teil in Archiven ausgegraben, an die vorher nie jemand gedacht hat, das findet sich heute fast alles im Internet. Mein Businessplan funktioniert nicht mehr. Früher, wenn jemand zum Beispiel auf der Suche nach Those Awful Hats4 war, dann hat er bei mir angerufen, ich habe ihm eine Kassette gezogen oder eine DVD gebrannt und ein paar Dollars verdient. Heute googelt er sich durchs Netz und hat den Film. Gratis. Die Zeiten haben sich geändert.
Movies Forever habe ich meinen Laden genannt. Die Ewigkeit ist auch nicht mehr, was sie mal war.
Und Arnie Walton residierte bis zu seinem Tod in diesem riesigen Anwesen am Roxbury Drive. In Interviews hat er immer erzählt, der Vorbesitzer der Villa mit den pseudogotischen Türmchen sei John Barrymore gewesen. Dabei hat nur Vince Rubenbauer, Barrymores Agent, dort gewohnt. Selbst in diesem Detail musste er sich etwas zurechtlügen.
Heute ist er so gut wie vergessen. Ich habe es ihm gewünscht, und jetzt leide ich selber darunter. Man kennt ihn nicht mehr. Die Aufmerksamkeitsmaschine dreht immer schneller, und außer den paar ganz großen Ikonen kommt alles unter die Räder, was nicht jeden Tag neues Futter liefert für Facebook und Twitter. 2001, an seinem zehnten Todestag, ist kein einziger Artikel über ihn erschienen. Kein einziger. Ich habe danach gesucht. Nur ein paar Freaks kennen ihn noch, Leute wie ich, die nachts um halb drei die Reruns alter Schwarzweißfilme aufzeichnen, und sich hinterher beim Sender beschweren, weil man die Schlusstitel mit den Namen der Mitwirkenden weggelassen hat. Auf dem Walk Of Fame stehen die Touristen vor seinem Stern und versuchen sich zu erinnern, wer zum Teufel das gewesen sein kann, Arnie Walton. Fragen sich, in welchem Film sie ihn wohl gesehen haben. Vielleicht haben sie ihren alten Opa auf den Ausflug an die Westküste mitgenommen, und der sagt dann: »Ich glaube, er hat immer den Helden gespielt.«
Du hast recht, Opa. Er hat immer den Helden gespielt.
Sein Ruhm hat sich nicht gehalten, und ich gönne ihm den Abstieg in die Rubriken »Wer war doch noch …?«. Aber wenn es ihn nicht mehr gibt, gibt es auch mich nicht mehr. Über einen Prominenten von vorgestern will niemand ein Buch lesen. Jetzt, wo sie mich ließen, interessiert sich niemand mehr dafür. Wir sind beide Fossilien, Überreste einer untergegangenen Zeit. Das Kino, das wirkliche Kino, existiert nicht mehr. Die Studios verdienen ihr Geld nur noch mit Popcorn-Filmen für Teenager. Explodierende Autos und Witze über Verdauungsfunktionen. Farbige Brillen soll man sich aufsetzen für ihre lächerlichen 3D-Effekte. Kinderkram. Sie schreien immer lauter, um sich gegenseitig zu übertönen. Weil sie das kunstvolle Lügen verlernt haben.
Das Lügen, das Arnie Walton so meisterhaft beherrschte.
Wir sind uns nie persönlich begegnet. Nicht ein einziges Mal. Er hat sich immer geweigert, mit mir zu sprechen.
Nur einmal wäre es beinahe dazu gekommen. Er war auf Werbetournee für die sogenannte Autobiografie5, die zu seinem siebzigsten Geburtstag erschienen war, und sollte bei Books And Stuff, nur zwei Straßen von meiner Videothek entfernt, das Machwerk signieren. Ich wollte hingehen und Skandal machen. Ihn mit den Tatsachen konfrontieren. Den versammelten Presseleuten erklären, dass nichts von dem stimmt, was er in dem Buch so salbungsvoll über die Anfänge seiner Karriere berichtet. Aber dann wurde die Autogrammstunde im letzten Moment abgesagt. Vielleicht hatte er einfach keine Lust, oder er litt damals schon unter dem Magenkrebs, an dem er dann schließlich gestorben ist.
Er hat wohl im Leben zu viel verschluckt.
[Handschriftlich angefügt:] ICH HASSE IHN!!!
vom 10.9.1991
In Erinnerung an den jüngst verstorbenen Schauspieler und Oscar-Preisträger Arnie Walton findet am 14. September 1991 in Mann’s Chinese Theatre eine lange Nacht seiner wichtigsten Filme statt. Gezeigt werden The Other Side Of Hell, The Good Fight und No Time For Tears.6 Einführende Worte: Professor Barbara Cyslevski, UCLA. Beginn 23:00 Uhr.
Natürlich hieß er nicht wirklich Arnie Walton. Marilyn Monroe hieß auch nicht Marilyn Monroe, und John Wayne hieß nicht John Wayne. Vielleicht hat er sich den Namen nicht einmal selber ausgedacht, hat nur nicht widersprochen, als die Werbeabteilung des Studios damit ankam. Anpassungsfähig ist er immer gewesen. Arnie Walton war die Amerikanisierung des Namens, unter dem er in Nazideutschland Karriere gemacht hatte. Und auch der war schon ein Pseudonym gewesen.
»Born Walter Arnold, March 23rd 1914, Neustadt, Germany.« So steht es in seinem Naturalization Certificate. Klingt exakt und zuverlässig, wie so vieles in seiner Biographie. Aber: Ich habe in Deutschland dreiundzwanzig Städte und Gemeinden mit dem Namen Neustadt gefunden (einschließlich der Stadt Wejherowo in Polen, die im Jahr 1919 noch »Neustadt in Westpreußen« hieß), und in keinem der dreiundzwanzig mit deutscher Gründlichkeit geführten Geburtsregister findet sich an diesem Datum ein Walter Arnold. Auch nicht in den Wochen davor oder danach.
Ich glaube trotzdem fündig geworden zu sein. Leider sogar doppelt, so dass keine eindeutige Zuordnung möglich ist. In Neustadt in Hessen (Landkreis Marburg-Biedenkopf) wurde am 23. März 1914 ein Walter Arnold Kreuzer geboren, und im Register von Neustadt an der Orla in Thüringen (Saale-Orla-Kreis) ist für den gleichen Tag ein Walter Arnold Blaschke vermerkt. Dafür, dass Schauspieler die eigenen Vornamen als Pseudonym wählen, gibt es viele Beispiele.
Kreuzer oder Blaschke. Eines von beiden dürfte sein wirklicher Name gewesen sein.
Der Künstlername Walter Arnold taucht zum ersten Mal im Deutschen Bühnen-Jahrbuch 1932 auf, wo er im Ensemble des Reußischen Theaters Gera als Schauspieler aufgeführt wird. Die allererste kritische Erwähnung findet sich in der Besprechung einer Neuinszenierung von Maria Stuart (Geraer Zeitung vom 11. Januar 1933), wo es heißt: »Herr Walter Arnold als Offizier der Leibwache machte seine Sache brav.«
Auch ich habe meine Arbeit brav gemacht, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Ich weiß, dass er in Gera noch keine großen Rollen gespielt hat. Er war als Anfänger wohl nicht das sofort umjubelte schauspielerische Genie, als das er sich später gern darstellte.
Im November 1933, im zweiten Jahr seines Engagements, wurde sein Vertrag mitten in der Spielzeit vorzeitig aufgelöst. In seiner Autobiographie gibt er als Grund dafür an, er habe sich öffentlich mit einem Kollegen solidarisiert, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung entlassen worden sei, habe also seiner Überzeugung halber die berufliche Karriere aufs Spiel gesetzt.7 Eine hübsche Geschichte, die gut ins Drehbuch seines Heldenepos passt. Nur entspricht sie nicht den Tatsachen.
Die lokale Presse jener Zeit berichtet ausführlich über die »Säuberung des Ensembles von volksfremden Elementen«. Während aber der Name des entlassenen Schauspielers, Siegfried Hirschberg, in allen Artikeln genannt wird, ist im gleichen Zusammenhang nirgends von Walter Arnold die Rede, auch nicht in jenen Publikationen, die sich darauf spezialisiert hatten, sogenannte »Judenlakaien« namentlich an den Pranger zu stellen.
Die wirkliche Erklärung für die abrupte Beendigung seines Vertrags fand ich im Thüringischen Staatsarchiv Greiz, wo die (nach einem Vernichtungsbefehl vom Februar 1945 sehr unvollständigen) Akten der obersten Polizeibehörde Gera aufbewahrt werden. Im handschriftlich geführten Journal vom November 1933 lässt sich unter dem 18. des Monats in der Rubrik »Festnahmen« der Name »Arnold, Walter« entziffern, mit dem Vermerk »wg. 175«. Es kann sich hier nur um den berüchtigten Paragraphen 175 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches handeln, der »die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren verübt wird« mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu vier Jahren bedrohte. Walter Arnold kam also wegen homosexueller Handlungen in Konflikt mit den Behörden. Da keine Anklage erhoben wurde, müssen sich die entsprechenden Vorwürfe entweder als gegenstandslos erwiesen haben, oder aber – im Hinblick auf sein späteres Verhalten in ähnlichen Situationen dürfte das wahrscheinlicher sein – er fand einen diskreten Weg, um die Eröffnung eines Verfahrens zu vermeiden. Vielleicht hat er den Behörden jemand anderen ans Messer geliefert, jemanden, der für sie interessanter war. Auf jeden Fall muss es einen Deal mit den Behörden gegeben haben. Vermutlich war die vorzeitige und fristlose Beendigung seines Vertrags am lokalen Theater eine damit verbundene Bedingung.
Für den weiteren Verlauf von Walter Arnolds Karriere blieb die Episode ohne negative Folgen. Bereits in der nächsten Spielzeit (1934/35) finden wir ihn als Ensemblemitglied am Hildesheimer Theater, wo er erstmals bedeutende Rollen wie den Grafen Wetter vom Strahl in Kleists Käthchen von Heilbronn spielt. Nur ein Jahr später ist er erster jugendlicher Held am privaten Leipziger Schauspielhaus (nicht zu verwechseln mit dem Städtischen Schauspiel). Seine Darstellung des Prinzen von Homburg – ebenfalls Kleist – wird in der Presse bejubelt und dürfte der Anlass für ein erstes Rollenangebot der UFA gewesen sein.
Mit Der Klassenprimus (1936) gelang ihm dann auch im Film sehr schnell der Durchbruch.8
Erklären, wie ich dazu kam. Wie ich zu ihm kam. Man darf nicht den Eindruck bekommen, ich hätte von Anfang an etwas gegen ihn gehabt.
Er war für mich ein Name auf einer Liste, mehr nicht. Alphabetisch geordnet. Die Liste muss noch irgendwo sein.9 Endlich einmal Ordnung machen. Die alten Papiere aussortieren. Das meiste wegschmeißen.
UFA-Schauspieler im Dritten Reich. Die Aufzählung begann mit Viktor Afritsch, das weiß ich noch.
Viktor Afritsch, Axel von Ambesser, Walter Arnold. Ein Name unter vielen.
Die UFA-Filme, die in den letzten Kriegsmonaten gedreht, aber während des Dritten Reiches nicht mehr fertiggestellt und aufgeführt wurden, das war der Bereich, in dem ich das Thema für meine Dissertation finden sollte. Professor Styneberg hatte mir dazu geraten, weil ich auf dem College Deutsch belegt hatte. (Die Familie meiner Großmutter ist aus Deutschland eingewandert. Ich selber habe die Sprache nie wirklich perfekt beherrscht, aber meine Kenntnisse reichen aus, um problemlos ein Gespräch oder ein Interview zu führen.10) Ein überschaubares Gebiet mit einem politischen Aspekt, genau das, was man damals suchte. Und als Thema noch nicht übermäßig bearbeitet. Ein Bergwerk, in dem man noch auf manche filmhistorische Goldader stoßen konnte. »Arbeiten Sie sich erst mal in die Problematik ein«, sagte Styneberg, »und picken Sie sich dann einen geeigneten Aspekt für Ihre Dissertation heraus.«
Am meisten gefiel mir an dem Vorschlag, dass man dafür nach Europa fahren musste. Ich war da vorher nicht gewesen. Vor allem Prag interessierte mich. Dort hatten die Deutschen, als es in Berlin kaum mehr ging, fleißig weitergedreht. »Weil der Lärm der Flugzeuge in der Reichshauptstadt die Tonaufnahmen stört«, wie Propagandaminister Goebbels offiziell verlauten ließ. Der eigentliche Grund war wohl eher, dass seine Stars nicht in einer Stadt bleiben wollten, die fast täglich bombardiert wurde.
Meine Recherchen haben mich dann einen anderen Weg nehmen lassen, und nach Prag bin ich nie gekommen. In den deutschen Archiven fand sich viel mehr Material, als ich erwartet hatte. Schon die erste Sichtung beschäftigte mich viele Wochen. Bei der Murnau-Stiftung in Wiesbaden waren sie anfänglich sehr korrekt und manchmal ein bisschen umständlich, vor allem, wenn es um die sogenannten »Vorbehaltsfilme« ging, die wegen ihrer nationalsozialistischen Tendenzen gesperrt sind. Man wollte dort zuerst überhaupt nicht einsehen, dass eine wissenschaftliche Arbeit etwas anderes ist als eine öffentliche Aufführung. Aber da waren auch zwei jüngere Archivare, mit denen habe ich mich angefreundet.
Bei der DEFA in Ostberlin war man überraschend freundlich und hilfreich. Im Staatlichen Filmarchiv der DDR habe ich sogar eine Entdeckung gemacht. Unter den eingelagerten Filmrollen von Der Mann, dem man den Namen stahl fand ich ein vollständig abgemischtes Tonnegativ, von dem niemand etwas gewusst hatte. Das Nitro noch in brauchbarem Zustand. Auf dieser Basis hätte man aus dem vorhandenen Schnittmaterial den ganzen Film, so wie ihn der Regisseur montiert hatte, rekonstruieren können.11 Es wäre zwar nur eine Fußnote in der Filmgeschichte gewesen, aber bestimmt eine karrierefördernde Fußnote.
Ich habe keine Karriere gemacht. Es ist anders gelaufen. Und das hatte indirekt auch mit meinem Fund in Ostberlin zu tun.
Ich war so glücklich über meine Entdeckung, dass ich ein paar Tage später die beiden Archivare der Murnau-Stiftung eingeladen habe, mit mir zu feiern. Wir sind essen gegangen, bei einem Jugoslawen, das weiß ich noch, was damals als recht exotisch galt, und dann empfahlen sie eine Kneipe, die sei zwar nichts Besonderes, aber für Filmverrückte wie uns ein echter Geheimtipp, ich würde schon sehen.
Bei Titi.
Ein schäbiges Lokal, nicht in der besten Gegend. Eng und ungelüftet. An den Wänden verblichene Filmstarporträts, manche signiert und gerahmt, andere aus Zeitungen ausgeschnitten und direkt auf die Täfelung geklebt. Eine Musikbox, aus der eine Frauenstimme einen alten Schlager schmetterte.
Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn. Im Rückblick ein ironisch passender Titel.
Titi selber eine Frau, die mir uralt erschien. Rotgefärbte Haare in altmodischen Wasserwellen, aber so schütter, dass die Kopfhaut durchschimmerte. Über die tiefen Falten im Gesicht hatte sie sich ein jugendliches Lärvchen gemalt. Das dick aufgetragene Make-up konnte eine Narbe, die sich vom rechten Auge über die ganze Wange zog, nicht ganz unsichtbar machen. Titi rauchte Kette, eine Art Zigaretten, die ich vorher nie gesehen hatte, mit langen Pappmundstücken, auf denen ihre überschminkten Lippen immer neue Abdrücke hinterließen. An den Stummeln im Aschenbecher sah das aus wie Blut.
Es waren an diesem Abend nicht viele Gäste da, und sie setzte sich bald zu uns an den Tisch. Ich bilde mir ein, dass ich ihr Parfüm noch riechen kann, ein ältlicher Duft von künstlichen Blumen. Blumen und Zigarettenrauch.
Ihre Stimme so leise, dass man sie über dem Lärm der alten Schlagerplatten kaum verstand. Später, als ich sie besser kannte, wurde mir klar, dass sie nicht lauter sprach, weil ihre Stimme sonst kippte und schrill wurde. Manchmal, wenn sie sich über etwas erregte, vergaß sie das und klang dann wie eine ganz andere Frau. Wenn sie lachte – und sie lachte viel –, musste sie husten.
Meine Kollegen stellten mich als berühmten Wissenschaftler aus den USA vor. »Ein Spezialist für Filme der Dreißiger und Vierziger«, sagten sie. Worauf mich Titi einer regelrechten Prüfung unterzog. Fragte mich ab wie in der Schule. Ging mit mir von Fotografie zu Fotografie, und ich sollte die Namen nennen. Bei den großen Stars war das einfach, Willy Fritsch oder Jenny Jugo, aber bei den meisten andern versagte ich kläglich. Jedes Mal, wenn ich wieder nur hilflos die Schultern zuckte, bekam ich einen tadelnden Klaps auf die Backe. Das sollte neckisch wirken, war aber auf die Dauer ganz schön unangenehm.
Ein Bild – keine Autogrammpostkarte und kein Zeitungsausschnitt, sondern eine ganz gewöhnliche alte Fotografie, Sepia mit Büttenschnitt – zeigte eine junge, sehr blonde Frau, die mit aufgesetztem Lächeln in die Kamera strahlte. »Wer ist das?«, fragte Titi, und als ich es nicht wusste, gab es keinen Klaps, sondern eine ausgewachsene Ohrfeige.
Die Kollegen saßen hinter ihrem Bier und wollten sich ausschütten vor Lachen.
»Das bin ich«, sagte Titi.
Sie war, erzählte sie bei der nächsten Zigarette, auch einmal beim Film gewesen, nicht gerade ein Star, aber doch jemand, der ein Star hätte werden können, wenn die Zeiten anders gewesen wären, wenn der Krieg länger gedauert hätte, wenn, wenn, wenn.
»Ich war nämlich einmal hübsch«, sagte Titi. »Auch wenn man es mir nicht mehr ansieht.« Es war die Aufforderung zu einem Kompliment, das wir ihr dann auch wortreich machten.
Sie hieß Tiziana Adam, ein ungewöhnlicher Name, den ich zunächst für ein Pseudonym hielt. Später stellte sich dann heraus, dass sie tatsächlich so hieß.
Tiziana Adam, geboren am 4. April 1924 in Treuchtlingen in Bayern.
Sie hat, das habe ich im Archiv der UFA festgestellt, dort auch tatsächlich einmal einen Vertrag gehabt, wenn sie auch nur sehr wenige und kleine Rollen spielte. Sie muss neunzehn gewesen sein, als sie nach Berlin kam. Neunzehn Jahre alt und für die Karriere zu allem bereit.
(4. August 1986)12
Eine Uher, sehe ich. Habt ihr in Amerika keine moderneren Tonbandgeräte?
In der Stiftung ausgeliehen, ich verstehe. Ganz schön handlich. Die Dinger heute … Zu meiner Zeit … Es war eigentlich eine zweite Kamera. Eine für das Bild und die andere … Der Ton war immer das Problem. Dass man die beiden Filmstreifen synchron kriegte. Furchtbar umständlich. Sie wissen das natürlich. Sie sind ja Wissenschaftler.
Und die Kopfhörer … Elefantenohren. Man hat das so genannt, weil … So groß waren die Dinger. Wir hatten einen Tonmeister, der war taub. Völlig taub, können Sie sich das vorstellen? Ein Tonmeister. Das war, als wir …
Ja doch. Stellen Sie Ihre Fragen. Test, eins, zwo, drei. Test, eins, zwo, drei. Stellen Sie Ihre Fragen.
Das war eigentlich Zufall. Oder eigentlich doch nicht. Ich wollte immer zum Film. Schon als kleines Mädchen. So wie andere Prinzessin werden wollen. Tierärztin. Ich wollte zum Film, und mein kleiner Bruder … Sie wollten alle zur Eisenbahn. Treuchtlingen war ja eine Eisenbahnerstadt. Ein Knotenpunkt. Darum haben die Amerikaner dann auch 1945 … Ein Verbrechen war das, wenn Sie mich fragen. Auch wenn Sie Amerikaner sind, ich sage das einfach mal so. Ein Verbrechen. Mein Bruder ist bei dem Fliegerangriff … Fünfzehn Jahre alt. Ein Kind. Ich war damals schon in Berlin. Das heißt: Ich war schon nicht mehr in Berlin. Weil wir doch …
Sie müssen mich schon erzählen lassen, wenn ich mir die Zeit … In so einem Lokal … Die Arbeit hört nie auf. Das hätte ich mir damals auch nicht träumen lassen, dass ich einmal … Jede Nacht hinter der Theke. [Singt] »Meine Herren, heute sehn Sie mich Gläser abwaschen …« Kennen Sie das Lied? Die Seeräuberjenny. Solche Rollen hätte ich gern … Mit Tiefgang. Aber an so etwas kam ich damals natürlich noch nicht ran. Und später … Das Stück war ja auch verboten.
1943. Als Stenotypistin. Keine hundertfünfzig Silben oder so was Verrücktes, aber … Stellen waren in der Zeit leicht zu … Die Männer waren doch alle … Barras. Komisches Wort eigentlich.
Beim Militär.
Doch, doch, Ihr Deutsch ist ganz gut. Ziemlich gut.
Stenotypistin. Tippse. Außerdem sah ich damals wirklich gut aus. Das zählt immer auch etwas. Nicht nur beim Film. Ein ganz junges Mädchen. Meine Eltern waren überhaupt nicht damit einverstanden, dass ich allein nach Berlin … Meine Mutter … Machte sich Sorgen um meine Jungfräulichkeit.
[Langes Lachen, Husten]
Nehmen Sie die Kopfhörer halt so lang ab.
Damals war Berlin der Nabel der Welt. Wenig später war es der Arsch, aber damals … Wir hatten zwar schon aufgehört zu siegen, aber … Man merkt das nicht gleich. Heute ist man natürlich klüger, aber damals … Man hatte ja kein Buch, wo die Zukunft schon … Und wenn, hätte ich es nicht gelesen. Ich war so jung. »Du bist wie der Frühling«, hat jemand zu mir gesagt. Nicht irgendjemand. Reinhold Servatius. Der Regisseur. Sie werden den Namen kennen, als Wissenschaftler. »Wie der Frühling.« Das hat er gesagt. Wenn man mich heute ansieht, kann man sich das nicht mehr …
Nett, dass Sie das sagen. Ich weiß, wie ich aussehe. Nachts im Lokal geht’s ja noch. Wenn die Beleuchtung … Da sieht man nur, was man sehen soll. Aber jetzt am Tag? Wenn Sie Filmaufnahmen hätten machen wollen … Aber Sie wollen ja nur mit Ihrer Uher … Ich hätte nein gesagt. Mit einer Narbe im Gesicht gehört man nicht mehr vor die Kamera.
Zuerst in einer Kleiderfirma. Berghäuser und Co. Uniformen natürlich, das war damals das große Geschäft. Ein bisschen Mode. Für die Frauen von den Uniformierten. Und die kleinen Freundinnen, die sie sich nebenher hielten. Alle. Fast alle. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen. Von ganz bekannten Persönlichkeiten, die heimlich … Aber das ist ja nicht Ihr Thema.
Damals war es noch üblich … Heute nicht mehr, aber damals … Jede Firma hatte ihre eigenen Mannequins. Um den Kundinnen die Modelle … Und den Kunden natürlich. Die mussten ja am Ende die ganze Schönheit bezahlen. Kleidervorführerinnen. Das andere Wort war ihnen zu französisch. Bei Berghäuser sagten wir Mannequins. Ich hatte genau die richtige Figur dafür. Nicht so spindeldürr, wie sie heute … Wenn man das im Fernsehen … Modeschauen. Wo man immer das Gefühl hat, man hört die Knochen klappern. Ein bisschen was musste man schon auf den Rippen …
Das war natürlich ein interessanterer Job als bloß im Büro. Interessantere Leute. Man kam sich schnell näher, damals. Wenn so einer für gerade mal zwei Wochen auf Heimaturlaub war, dann … Sie hatten es alle eilig.
Wollen Sie wirklich keine Zigarette? Ich komme mir doof vor, wenn ich hier so ganz allein herumhuste.
[Pause]
Wo waren wir? Mannequin, ja. Mit Frontoffizieren habe ich mich nie eingelassen. Prinzipiell. Die waren immer … Zu schnell wieder weg. Da hatte man nichts von. Die andern, die sich einen Druckposten … Wenn sie in Berlin … Die konnten einem schon sehr viel nützlicher sein. Auch beruflich.
Einer … Mit Vornamen hieß er Rainer, den Rest weiß ich nicht mehr. Etwas Wichtiges im Vorstand der UFA. Vielleicht können Sie herausfinden, wer das war. Sie als Forscher. Der Name würde mich interessieren.
Nein, eigentlich nicht mehr.
Der hat mir die erste Rolle beim Film … Bloß bessere Statisterie, aber ich war … Stolz wie Oskar. »Sehr wohl, gnädige Frau«, das war mein einziger Satz. »Sehr wohl, gnädige Frau.« Als der Film fertig war … Herausgeschnitten. Mein einziger Satz.
Ich weiß es nicht mehr. Irgendwas mit »Liebe«. Ist doch nicht wichtig, wie der Streifen … Später habe ich größere Rollen … Keine großen, aber größere.
Das hatte dann schon nichts mehr mit dem Rainer zu tun. Der war nur … Affäre ist ein guter Ausdruck. Passend. Das hat mir der Werner später mal … Der hatte es mit den Worten.
Werner Wagenknecht. Der Drehbuchautor. Den kennen Sie nicht? Ich denke, Sie sind Wissenschaftler. Wenn auch noch furchtbar jung. Aber ihr Amerikaner macht ja alles mit Tempo. Also mit dem Werner war es so …
Wie Sie meinen. Der Reihe nach. Wo waren wir stehengeblieben? Affäre, ja. Kommt aus dem Französischen, hat der Werner gesagt. Dort heißt es »Geschäft«. Passt gut zu dem, was ich mit dem Rainer hatte. Es war ein faires Geschäft. Er hat mir eine Rolle besorgt, und ich habe es ihm …
[Lachen, Husten]
Furchtbar, diese Husterei. Geben Sie mir Feuer. Früher hat man einer Dame ganz automatisch Feuer gegeben. Das waren andere Zeiten.
[Pause]
Ich hab dann einen Vertrag mit der UFA … Nichts Großes, keine eigene Garderobe oder so. Aber eben doch UFA. Nur wegen des Geldes hätte ich auch bei Berghäuser …
Das ist eine verdammt unhöfliche Frage. Warum? Weil ich Talent hatte, darum. Weil ich gut zu fotografieren war, von allen Seiten. Auch das Gesicht, damals. Nur die wirklich guten Beziehungen … Ich war ja neu in dem Geschäft.
Wenn ich zum Beispiel mit dem Walter Arnold zusammen gewesen wäre … Ich hab’s probiert. Heute kann ich das ja sagen. Eine alte Frau darf alles sagen. Es wär mir auch nicht schwergefallen. Ein attraktiver Mann. Äußerlich. Damals wusste ich noch nicht, was er … Damals war ich noch naiv.
Einmal waren wir sogar zusammen tanzen, ganz offiziell. Der Walter Arnold und ich. Ein Wohltätigkeitsball. Winterhilfe oder was man damals … Der Kleinpeter hatte das … Der Herstellungsleiter. Ein Kleid hatte ich an, davon träume ich heute noch. Allererste Sahne. Nach so was hätten sie sich bei Berghäuser … Ausgeliehen natürlich nur. Der Kleinpeter hatte überall seine Kontakte.
Der Zweck der Übung war … Man sollte uns zusammen sehen. Fotografieren. Ich kann mir heute noch in den Hintern beißen, dass ich die Zeitschrift nicht mehr habe. Für die Frau. Ein großes Foto und darunter … »Das neue Traumpaar?« Nur mit Fragezeichen, aber immerhin. Traumpaar. Walter Arnold und Tiziana Adam. Ein großes Bild. Das war die Sorte Klatsch, die sie in der Reklameabteilung …
Er war der perfekte Gentleman. Solang wir dort waren. Champagner und Pralinen und das ganze Pipapo. Küsschen. Tanzte wie ein Engel. [Summt den Anfang einer Walzermelodie] Man hätte meinen können … Man sollte ja auch meinen.
Hinterher … Nicht einmal nach Hause gebracht. Geschweige denn … Gar nichts. Hat mir eine Taxe bestellt. Die durfte ich auch noch selber … Immerhin: Der Kleinpeter hat mir das zurückerstattet. Als Dienstfahrt.
Wenn Sie mich fragen: Beim Walter Arnold war immer nur alles Fassade. Auch seine Verführungskünste. Eine Frau spürt so etwas. Eine Rolle. Solang die Kamera lief, war er … Oder wenn ein Fotograf da war. Aber sonst? Alles Fassade. Und dahinter … Ich könnte Ihnen Dinge erzählen …
Haben Sie Zigaretten? Meine sind alle.
Tiziana Adams Erinnerungen sollten in meiner Arbeit eine kleine Ergänzung zu den trockenen Fakten werden. Jemand, der die Leute noch persönlich gekannt hat.
Die großen Namen, so weit sie noch lebten, waren schon alle abgegrast. Tausendmal interviewt. Titi war noch unverbraucht. Gerade, weil sie kein Star gewesen war, noch nicht einmal ein Starlet, bestand die Chance, von ihr eine neue Sicht auf Personen und Ereignisse vermittelt zu bekommen. Nicht zuverlässig natürlich – oral history ist selten wirklich zuverlässig –, aber interessant.
Außerdem, das behaupteten zumindest die Kollegen vom Murnau-Archiv, war sie eine eifrige Sammlerin von Dingen aus jener Zeit. Es sei unglaublich, was sie alles gehortet habe, schwärmten mir die beiden vor, eine wahre Schatzgrube für filmhistorische Entdeckungen. Zuerst nahm ich das nicht ernst, war fest davon überzeugt, dass sie sich nur wieder einen Jux mit mir machten. Eine Wand voll alter Starporträts ist kein Material für wissenschaftliche Forschungsarbeit.
Bis mir Titi dann ihre Schätze zeigte. Nicht auf Anhieb, sondern erst, als sie nach mehreren Interviews Vertrauen zu mir gefasst hatte.
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