Limbo Donut
Krustenbraten-Casanova
Ein Bums- und Trinkroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Sechs Wochen zuvor: Von Kellerasseln und Dosenfischen
Fünf Tage zuvor, Tag eins: Cocktailkirsche
Fünf Tage zuvor, Tag eins: Rasterfahndung
Fünf Tage zuvor, immer noch Tag eins: Arriba-abajo-alcentro-paradentro
Fünf Tage zuvor, immer noch Tag eins: Staubsauger
Vier Tage zuvor, Nacht zu Tag zwei: Fischfutter
Vier Tage zuvor, Tag zwei: Punktesammler
Vier Tage zuvor, Tag zwei: José
Vier Tage zuvor, Tag zwei: Darmgrippe
Vier Tage zuvor, immer noch Tag zwei: Rapunzel, lass dein Haar herunter
Drei Tage zuvor, bereits Tag drei: Britta
Drei Tage zuvor, Tag drei: Körperbehaarung ist kein Verbrechen
Drei Tage zuvor, Tag drei: Der Hackl Schorsch von Es Canar
Drei Tage zuvor, immer noch Tag drei: Insuffiziente Neuralüberhänge in der karioepochalen Epidermis
Drei Tage zuvor, immer noch Tag drei: Buenas Dias, Eivissa
Drei Tage zuvor, immer noch Tag drei: Dingeldong-ring-ring-pling
Zwei Tage zuvor, Nacht zu Tag vier: Männer, die auf Hecken starren
Zwei Tage zuvor, Nacht zu Tag vier: Die schönste Speckschwarte der Welt
Zwei Tage zuvor, Tag vier: Schildkröte
Zwei Tage zuvor, Tag vier: Die Rückkehr der Darmgrippe
Zwei Tage zuvor, Tag vier: Rauchzeichen
Zwei Tage zuvor, Tag vier: Reparationen
Eineinhalb Tage zuvor, Nacht zu Tag fünf: Das Rindvieh in der Badewanne
Ein Tag zuvor, Tag fünf: Goodbye, Lady Di
Ein Tag zuvor, Tag fünf: Reibe-reibe-reibe
Ein Tag zuvor, Tag fünf: Buckelwale
Ein Tag zuvor, Tag fünf: Tauschgeschäfte
Ein Tag zuvor, Tag fünf: Die Krustenbraten-Katastrophe
Ein halber Tag zuvor, Nacht zu Tag sechs: Krisenkommunikation
Gegenwart: Leuchtmunition
Epilog
Epilog II
Epilog III
Impressum neobooks
Jeder Mensch möchte manchmal allein sein. Das ist gut so und nachvollziehbar. Nach einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Abend zum Beispiel. Was gibt es Schöneres, als mit einer Fahne wie Boris Jelzin zu Glanzzeiten der Ostblock-Umstrukturierung ganz alleine, nur – und damit meine ich wirklich nur – mit Schuhen bekleidet, auf der Couch aufzuwachen? Nichts. Vorausgesetzt, es ist die eigene Couch im eigenen Wohnzimmer in der eigenen Wohnung. Auf einem Schlauchboot aufzuwachen hat dagegen schon wieder den Reiz des Unbekannten, ja den adrenalingetränkten Hauch von Abenteuer.
Das erste, was ich sehe, als ich meine vom Schlaf verkrusteten Augenlider auseinanderstemme, verstehe ich nicht. Benommen lese ich die weißen Buchstaben auf dem seltsam nach billigem Plastik aussehenden, babyblauen Untergrund:
Cuidado! Este articulo no es salvavidas, a utilizar en aguas donde el niño haga pie y bajo la vigilancia de un adulto. Apto para niños mayores de 3 años no sobrehichar, no hinchar con un compresor. Conserve las instrucciones. Composicion: PVC 6 no ftalatos.
Da mir die spanische Sprache zwar nicht völlig fremd ist, ich aber beschließe, so kurz nach dem Aufstehen mein Gehirn nicht zu überfordern, schließe ich die Augen wieder. Ich drehe mich auf den Rücken. Seltsam schwankt es in meinem Bett. Muss ein grandioser Abend gewesen sein. Meine Erinnerung stelle ich auf „rewind“. Zum einen, weil es unfassbar lustig ist, Menschen zu beobachten, die sich ausschließlich rückwärts bewegen. Zum anderen, weil ich mehr über die offensichtlich sehr gelungene Party gestern Abend wissen will.
Drei Sekunden später sitze ich kerzengerade in meinem Bett. Die Augen weit aufgerissen verrenke ich meinen Hals nach links, nach rechts, nach vorne, nach hinten: Wasser. Nichts als Wasser. Ich lege meinen Kopf in den Nacken: Ein Zucken im Schädel. Aua. Und Sterne. Dann strahlend blauer Himmel und gleißende Sonne.
Mein Bett ist kein Bett, stelle ernüchtert aber keineswegs nüchtern fest. Mein Bett ist ein Boot. Genauer gesagt ein Schlauchboot. Ein Kinderplastikschiff aus degenerierenden Weichmachern in Babyblau. Auf die Seite hat der Hersteller einen kleinen, hellgrünen Drachen gedruckt mit einem feuerroten Kamm auf dem Rücken. Der Lindwurm grinst mich frech an, als wolle er sagen: „Hey, Trottel! Ich bin längst ausgestorben, aber so blöd wie du, in einem Schlauchboot zu pennen, war ich zu Lebzeiten nie.“
Um mich der kuriosen Situation nicht sofort stellen zu müssen, lege ich mich wieder auf den Rücken. Die Arme presse ich dabei an meinen Körper. Er ist unbekleidet, wie ich mit einem Blick nach unten feststellen muss. Gänzlich unbekleidet. Das einzige, was sich neben meinem von der ibizenkischen Sonne gebräunten Körper – Ausnahme der weiße Streifen zwischen Hüfte und Oberschenkel – in dem Drachen-Schlauchboot befindet, sind ein blaues Feuerzeug und eine Schachtel Lucky Strike. Ich schließe die Augen und versuche, das Schwanken des Bootes den Nachwirkungen des vorabendlichen Alkohols zuzuschreiben. Das klappt solange, bis ein Plätschern an mein Ohr dringt. Plitschplatsch, plitschplatsch, plitschplatsch. Seufzend richte ich mich wieder auf.
An den Luftkammern meines Schlafgemachs lecken kleine, hellblaue Wellen. Immer, wenn sie an der dünnen Gummihaut brechen, bilden sich ganz kurz kleine weiße Schaumkronen, die in Zusammenarbeit mit der Sonne nach wenigen Sekunden dafür sorgen, dass ich das dringende Bedürfnis habe, meine Augen hinter der dicksten Rayban, die die Welt je gesehen hat, zu verstecken. Weil sich ein solcher Gebrauchsgegenstand nicht in Reichweite befindet, lege ich meine rechte Hand über die Stirn und tauche mein Gesicht in wohltuenden Schatten. Ich drehe den Kopf noch einmal nach links und rechts, dann habe ich endgültig oder vielmehr leider Gewissheit. Ich sitze fernab der Küste in einem babyblauen Schlauchboot, bin nackt und mein Proviant besteht aus einem Feuerzeug und einer halbvollen Packung Zigaretten. Da mir vor Durst die Kehle wehtut, verzichte ich auf eine Kippe, so dass mein Frühstück folgendes beinhaltet: Nichts.
Zehn Minuten lang starre ich entgeistert den Horizont an und suche verzweifelt nach den Umrissen eines Schiffs, einer Hafenmole oder zumindest einer Palme. Den Gefallen, etwas zu entdecken, tut mir das Schicksal nicht. Die Wellen, die ununterbrochen gegen das Plastik klatschen, rufen mir den Trockenheitszustand meiner Kehle wieder in den Sinn. Durst! Das blaue Salzwasser wirkt verlockend. Kann man bestimmt machen.
Kann man nicht, muss ich nach einem beherzten Griff ins Meer feststellen. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Ein unterarmlanger Fisch sieht mir verwirrt dabei zu. Seine trüben Augen glotzen mich an, die graue Schwanzspitze wedelt. „Arschloch!“, beschimpfe ich meinen Beobachter und hebe drohend die Faust. Grußlos verabschiedet sich das Tier in Richtung Meeresgrund.
Meine Knie ziehe ich an meinen Körper und massiere stöhnend meine mittlerweile pochenden Schläfen. Es reicht nicht, dass ich einen monströsen Kater habe. Es reicht auch nicht, dass ich meinen Brand nicht mit Wasser, Saftschorle oder einem Konterbier bekämpfen kann. Nein, ich muss ja den Vogel abschießen und nackt in einem Schlauchboot irgendwo im Mittelmeer aufwachen. „Verflucht“, murmele ich und schließe die Augen.
Der Öffner der billigen Haustüre mit den beiden Milchglasscheiben im feinsten 70er-Jahre-Schick summte. Ich drückte mich gegen die Tür und betrat das Treppenhaus des dreistöckigen Gebäudes, in dem Pascals Großeltern leben und in dessen Keller er wohnt. Oder vielmehr haust.
Nachdem seine Eltern des Berufs wegen nach Brasilien ausgewandert waren und seinen jüngeren Bruder wegen der bei ihm noch bestehenden Schulpflicht mitgenommen hatten, war Pascal in Pettstadt geblieben, einem kleinen Dorf südlich von Bamberg. Er steckte mitten in seiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in einem hiesigen Möbelhaus. Eine nachvollziehbare Entscheidung, Krustenbraten und Bier, denn dafür ist Bamberg mehr als bekannt, nicht gegen Copa Cabana und Caipirinha einzutauschen.
Also nistete sich mein bester Freund im Keller seiner Großeltern ein. Ein großes Zimmer nutzte er als Schlaf- und Wohnraum, eine kleine Nasszelle am anderen Ende des kahlen, nicht tapezierten Ganges, den ich gerade durchschritt, als Bad. Wir gaben Pascal den liebevollen Spitznamen „Kellerassel“ wegen seiner bescheidenen Behausung, wohl wissend, dass er sich darüber furchtbar ärgerte.
„Kellerassel“, rief ich mit rauer Stimme der verschlossenen Tür entgegen, unter der Licht schimmerte.
Eine weitere Begebenheit seiner wahnwitzigen Wohnsituation ist, dass diverse Einrichtungsgegenstände eher den Status eines Provisoriums haben, da Pascal seine Freunde überredet hatte, ihm beim Umzug in seine Bleibe und der Ausstattung Selbiger behilflich zu sein. Die vom Sperrmüll geklaute Türe war folglich zwei Zentimeter zu kurz, dem gläsernen Couchtisch fehlte einem Geplänkel beim Verladen wegen eine Ecke und der Deckel des Schranks ist längst Feuerholz – die Zimmerdecke war einfach zu niedrig.
Den Gipfel der Umzugsunbeholfenheit erklomm jedoch unser gemeinsamer Freund Bert, ein gelernter Maler und Verputzer. „Ich mach dir a Wischdechnigg o die Wänd, des schaud geil aus“, hatte er in dem für ihn typischen Dorf-Oberfränkisch getönt.
Die Wischtechnik sah tatsächlich großartig aus. Auf Terrakotta tupfte und wischte Bert mit Weiß und Orange, was das Zeug hielt. Dummerweise hatte er in seinem Elan vergessen, die Tapete zuvor für diese Spezialtechnik passend zu grundieren. Deshalb sollte es bis heute jeder Besucher von Pascals Zimmer meiden, sich gegen die Wand zu lehnen. Die Farbe ist nie getrocknet und laut Bert würde sie es auch nie.
„Selbst, wennst drei Dooch mitm Fön die Wänd beärberst“, hatte er konsterniert festgestellt.
Pascal saß auf seiner Couch, gebeugt über einen Fetzen Papier. Sein schwarzes Haar, das er üblicherweise mit viel Gel zu einem topfförmigen Helm formte, stand büschelweise ab. Es sah aus, als würde er ein Vogelnest tragen, das ein panischer Tintenfisch dunkel eingefärbt hatte. Grinsend erblickte er mich, während ich versuchte, unfallfrei über einen Berg Klamotten zu steigen. Pascals Mund nimmt, wenn er sich so amüsiert, die Form einer Sichel an. Die Mundwinkel reichen fast von Ohr zu Ohr. Der Joker!
„Fit?“, fragte er.
Das Dröhnen seiner Stimme in meinem Kopf machte mir bewusst, dass seiner Frage nur ein Nein folgen konnte. Es war früher Sonntagabend und ich litt an heftigen Nachwehen.
„Nein“, lautete meine knappe Antwort.
„Kannst du dich detailliert an die Ereignisse der gestrigen Nacht erinnern, Toni?“, setzte Pascal seine allsonntägliche Inquisition fort.
Ich schüttelte vehement den Kopf, während ich mich zu ihm auf das blaue Sofa fallen ließ. Die Quittung für derlei heftige Bewegung erhielt ich sofort in Form von erneut dumpf pochendem Schmerz zwischen meinen Ohren.
„Ich weiß nur noch, dass wir von Anjas Party aus ins Vamos gefahren sind“, erklärte ich.
„So so, ins Vamos“, jokerte Pascal grinsend. Er hatte das Interesse an seinem Gekritzel auf dem Zettel verloren, schob das Papier von sich und stand auf. „Stimmt, Vamos.“ Er schlurfte langsam zum Minikühlschrank in der Ecke und holte zwei große Flaschen Wasser. Dankend nahm ich eine entgegen, während er sich wieder setzte.
Das Vamos ist eine grenzwertige Großraumdisco in einem Gewerbegebiet in der Nähe von Bamberg. Grenzwertig deshalb, weil sich die Gästeliste größtenteils aus Möchtegern-Gangstern aus den umliegenden Dörfern mit viel zu großen Hosen und noch größeren sprachlichen Defiziten und deren weiblicher Anhängsel zusammensetzt. Was – aus der Sicht des betrunkenen Besuchers, der sich auf die Beobachtung dort vorherrschender Riten verlegt – durchaus amüsant sein kann:
„Boah, die miese Schlampe, haste gesehen. Die hat disch voll angetanzt!“
„Ey, Babe. Du bis' die Einzige für misch, Ischschwör.“
Als stünde der Autor einer RTL II-Dokusoap an einem Schaltpult und würde mittels Knopfdruck den Gästen seine sinnfreien Dialoge ins unterentwickelte Gehirn katapultieren.
Da aber zwischen Anjas Party und dem Tanzschuppen gute 40 Kilometer liegen, mussten wir ein Taxi genommen haben, woran ich mich dunkel erinnern konnte.
„Lukas war doch dabei“, fiel mir ein.
„Lass uns den mal anrufen“, schlug Pascal vor, um unsere detektivische Abendrekonstruktion voranzutreiben.
Ich zückte mein Handy und wählte Lukas' Nummer. Es tutete.
„Rindvieh!“, bellte es mir entgegen. Ich lachte.
„Lukas, wir sind grade bei Pascal und wissen nichts mehr von gestern.“
„Das wundert mich nicht“, antwortete Lukas, den ich seit dem Kindergarten kenne und schätze. Ich stellte auf Lautsprecher.
„Servus, Lukas“, hüstelte Pascal, der sich an seinem Wasser verschluckt hatte.
„Dann will ich euch mal ein Update eurer Schandtaten liefern.“ Und Lukas erzählte.
Nachdem wir am Vamos angekommen waren, schafften wir es trotz unseres feuchtfröhlichen Zustandes, von den Türstehern unbehelligt in den Club zu gelangen. Zwei Bier später äfften wir auf der Tanzfläche schlechtgekleidete junge Damen nach, die sich ziemlich schlecht zu noch schlechterer Musik bewegten. Das war nämlich neben den Dialogen das Tolle an dieser Discothek. Selbst, wenn man aufgrund seines Zustandes keinesfalls noch etwas abzuschleppen im Stande war, konnte man immer noch die Mädchen ob ihrer burschikosen Art oder ihrer Kleiderwahl, die an eine Mischung aus russischem Untergrund-Stripclub und der örtlichen Pimkie-Filiale erinnerte, auf den Arm nehmen. Wir hatten dies am gestrigen Abend übertrieben, zumindest nach Lukas' Ausführungen. Denn eine junge Dame fühlte sich so provoziert, dass sie Pascal ihren halbvollen Wodka-Energy ins Gesicht kippte. Dies nahmen wir zum Anlass, in die Steh-Pizzeria vor dem Vamos zu gehen und dort bei einem Bier zu dinieren. Lukas zufolge soll sich dort folgendes Gespräch zwischen Pascal und mir ereignet haben.
Pascal: „Weißt du, was jetzt total überragend wär‘?“
Toni: „Schnaps!“
Pascal: „Ne, Nutten!“
Toni: „Nutten?“
Pascal: „Ja, Nutten!“
Toni: „Und Schnaps?“
Pascal: „Und Nutten!“
Toni: „Ja! Schnaps und Nutten!“
Pascal: „Weißt du, wo's Nutten gibt?“
Toni: „Hier nicht. Aber Schnaps!“
Pascal: „In Nürnberg!“
Toni: „Ja. Und Schnaps?“
Pascal: „Auch. Aber Nutten. Toni! Nutten!“
„Ich war so frei, diese Konversation NICHT für die Nachwelt aufzunehmen.“ Lukas' Stimme, die belustigt aus meinem Handy bellte, riss mich aus meinem tranceartigen Zustand.
„Lukas“, fragte ich vorsichtig. „Waren wir in Nürnberg?“
„Jap.“
Pascal knuffte mir jokernd in die Seite: „To-o-o-o-oni. To-o-o-o-oni“, wieherte er. Ich konnte es nicht glauben. Schnaps. Und Nutten.
„Wir sind mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren, dort hat euch der Fahrer rausgeschmissen. Und ich bin nach Hause gefahren“, ergänze Lukas.
Fieberhaft durchwühlte ich meine Hosentaschen. Noch immer trug ich dasselbe Beinkleid wie gestern Abend. Zum Vorschein kamen mehrere blaue Pfandmarken, eine seltsam verbeulte Packung Kaugummis und – ein Bayernticket der Deutschen Bahn. Gelöst um 5:32 Uhr heute Morgen. Am Hauptbahnhof Bamberg. Ich hielt es Pascal vor die Augen, was ihn zu einem weiteren Knuffer veranlasste.
„Seid ihr noch da?“, quäkte Lukas.
„Ja, Lukas, ja“, sagte ich geistesabwesend. „Und ähm.“
„Ja?“, fragte Lukas.
„Du weißt nicht zufällig, wann wir wieder nach Hause gefahren sind?“
„Oh doch, sehr gut sogar.“ Lukas ließ sich jedes Wort aus der Nase ziehen. Die Spannung in Pascals Feuchtzelle stieg. „Ich hab‘ euch abgeholt.“
„In Nürnberg?“
„In Zapfendorf!“
Meine Gesichtszüge entgleisten und auch Pascals dämliches Jokergrinsen verwandelte sich in eine Fratze, die der eines grippekranken Orang-Utan mit Verdauungsproblemen ziemlich nahekam.
Zapfendorf – für den geneigten Leser, der nicht aus der oberfränkischen Provinz stammt – liegt etwa 30 Kilometer nordöstlich von Bamberg, also etwa 90 Kilometer von Nürnberg entfernt.
„Vor dem Gasthaus Jüngling!“
„Jüngling?“
„Ja, Jüngling!“ Lukas klang ziemlich sauer. „Dort habt ihr euch, eurem Gelalle zufolge, zum Frühschoppen niedergelassen. Und zwar, nachdem ihr im Zug von Nürnberg nach Bamberg eingepennt, am Bahnhof Zapfendorf aufgewacht seid und mich mehrfach angerufen habt.“
Dunkel erinnerte ich mich an eine Begebenheit in einem gutbürgerlichen fränkischen Gasthaus, die ich nun leider nicht mehr ins Reich der Suffträume abschieben konnte. Langsam dämmerte es mir. Pascal und ich waren, ziemlich betrunken, an einem Tisch mit einer vierköpfigen Familie, die sich ihren Sonntagsausflug zum Mittagessen sicher anders vorgestellt hatte. Es mag Schöneres geben, als sich mit seinem 15-jährigen Sohn und seiner 18-jährigen Tochter einen Tisch mit zwei Zechern zu teilen, die, während der Kellner das Essen serviert, sich lauthals über die Vorzüge von apfelförmigen Hintern unterhalten.
„Wie auch immer“, sagte ich mehr zu mir, als zu Pascal und Lukas.
„Wie auch immer?“ bellte Lukas. „Wie auch immer habe ich euch abgeholt, nachdem ihr mich verdammt nochmal Dauerfeuer angerufen habt.“
„Und das war auch wunderbar nett von dir“, bedankte sich Pascal. Offenbar hatte auch er sein Erinnerungsvermögen reanimiert, denn der Joker in ihm kam wieder mit breitem Grinsen zum Vorschein. „Kommst du vorbei?“, fragte er.
„Ne, lass mal. Muss morgen früh raus.“
„Alles klar. Dann danke nochmal fürs Abholen und mach's gut, Lukas“, verabschiedete ich mich.
„Jaja“, grummelte Lukas, „ciao!“ Klack! Weg war Inspektor Columbo am anderen Ende der Leitung.
Kurz stand ich auf, um mich direkt wieder fallen zu lassen. Eine Weile starrte ich schweigend die Wasserflasche auf dem Tisch an. Dann verlor ich an dem Etikett, das mir verriet, dass das Wasser einer Quelle in Bad Brambach entsprungen war, das Interesse. Meine Augen wanderten zu Pascals Zettel, über dem er vorhin so eifrig gekauert war.
Während Pascal die Playstation hochfuhr und fluchend die beiden hellgrauen Controller aus dem Kabelsalat auf dem Tisch befreite, las ich: „Februar 2004: Nadine. Melli. März 2004: Dana. Mai 2004: Linda. Gabi. Juni 2004: Sina. Äh Pascal, was ist das?“ Ich glaubte, zu wissen, um was es sich bei dieser Liste handelte, wollte aber doch auf Nummer sicher gehen.
„Das ist eine Liste.“
„Das sehe ich.“
„Lass mich ausreden. Eine Liste aller Frauen, die ...“
Pascal musste nicht ausreden. Ich verfiel in schallendes Gelächter. „Warum?“ wollte ich glucksend wissen.
„Na eben darum!“
Kichernd las ich weiter, diesmal laut: „Juli 2004: Die Fette vom Burgebracher Parkplatz? Eine Adelige?“
„Hä, warum?“ Wie so oft bemerkte Pascal den versteckten, grottenschlechten Witz nicht. Allein schon für diesen Scherz hatte ich es verdient, sechs Wochen später nackt in einem Schlauchboot irgendwo vor der Küste Ibizas zu treiben.
„Na wegen dem von. Freifrau von. Du verstehst?“ Offenbar nicht.
„Naja, die war halt fett und ich hab sie auf dem Parkplatz genagelt. Weißt schon, beim Sommerfest.“
„Jaja.“ Ich verdrehte die Augen. Wie konnte man nur so eine lange Leitung und trotzdem so einen Erfolg bei Frauen haben? Ich las weiter. Im September 2004 begann ich zu stocken. Tanja, Sofie, Paula, Alina, Steffi. Ich deutete auf den Monat September. „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Angeklagter?“ fragte ich gestellt schwülstig.
„Hehe. Das“, griente Pascal. „Das war einzig und allein das Werk des Club Punta Arabi auf Ibiza.“
„Wie, das Werk des Club Punta Arabi?“, hakte ich nach.
„Na du weißt doch. Da, wo ich mit meinen Arbeitskollegen Urlaub gemacht habe. Seitdem hab ich das mit den Frauen so richtig raus“, nickte er selbstzufrieden.
Pascals Liste der horizontalen Freuden rief mir schmerzlich mein eigenes Sex-Leben in Erinnerung. Das entsprach der Kategorie Dosenfisch. Zu wenig zum Sterben. Zu unschmackhaft zum Genießen. Und in seiner Gesamtheit schwer verdaulich, da ich mich zumeist mit dem Mit-Nach-Hause-Nehmen von Gräten begnügte. Für alle, die es nicht verstanden haben: Gräte ist eine Bezeichnung für eine optisch mäßig talentierte Frau. Man könnte auch Besen, Eule oder Kackbratze sagen, aber der Begriff Gräte passt besser zum Bild des Dosenfisches.
Obwohl ich mich als überdurchschnittlich attraktiv und wortgewandt beschreiben würde, bekam ich nur selten Eine ins Bett, die eben nicht jenes Prädikat „Gräte“ auf ihrer Dating-Visitenkarte führte. Ich führe diese Begebenheit auf zwei Gründe zurück: Großer und Durst. Denn in der Regel prägt ein Wort meine Wochenenden: Vollgas!
Und so liefen die meisten Samstagabende ähnlich ab, wie jener, der an einem Sonntagmittag in einem gutbürgerlichen Landgasthof namens „Jüngling“ geendet war. Oft war ich schlicht und ergreifend zu betrunken, um noch in irgendeiner Form mit dem weiblichen Geschlecht die von der Gesellschaft vor dem Beischlaf erwarteten Formalia und Nettigkeiten auszutauschen.
„Hallo, ich bin... Und wie heißt du? Du hast aber schöne Augen. Möchtest du etwas trinken? Wollen wir tanzen? Zu mir oder zu dir?“
Wer braucht sowas schon? Meine Konversation mit dem schönen oder in diesem Fall weniger schönen Geschlecht beschränkte sich ab dem Einbruch der Dunkelheit auf ein gelalltes „ficken, Fragezeichen?“ Wie das bei gutaussehenden Frauen ankommt muss ich nicht näher ausführen. Deshalb musste ich mich zu später Stunde auf eben jene Gräten konzentrieren. Pascal verhält sich übrigens deutlich charmanter, wenn er betrunken ist. Das erklärt die Länge seiner Liste.
Trotz meiner Unfähigkeit zum samstagabendlichen Disco-Flirt bin ich ein ganz umgänglicher Typ. Allerdings gibt es da ein zweites, großes Problem mit der Frauenwelt: Ich verliebe mich zu schnell. Der Höhepunkt überstürzter amouröser Hingabe meinerseits ereignete sich etwa einen Monat vor jenem denkwürdigen Abend im Loch der Kellerassel.
Um mein Studium zu finanzieren, arbeitete ich als Barmann in einer bodenlos schlechten Sportsbar namens „Shooters“. Eines Tages trat sie ein und fragte nach einem Nebenjob: Anasthasia. „Fürs Studium“, hauchte ein unfassbar wohlgeformtes Geschöpf mit schulterlangen, dunkelbraunen Locken, dunklem Teint und den strahlend grünsten Augen, die ich bis heute gesehen habe. Diese Kombination würde sie wahrscheinlich sogar aus einem bis zum Bersten gefüllten Stehblock im Fußball-Stadion hervorstechen lassen. An diesem Tag trug sie schwarze Stiefel, die ihr bis knapp unters Knie gingen. Die enge, dunkelblaue Jeans, die ihre zierlichen Beine umgab, hatte sie hineingesteckt. Das türkisfarbene Top, das sie unter ihrer halbgeöffneten, schwarzen Lederjacke trug, betonte die Schönheit ihrer Augen und das mediterrane Braun ihres Teints nur noch mehr.
„Hast du denn schon mal bedient?“, hatte ich gefragt. Schüchtern hatte sie den Kopf geschüttelt. In dem Moment war ich mir sicher: Diese Frau muss, nein, werde ich eines Tages heiraten. Doch es kam ganz anders. Anasthasia, deren Eltern Kreter sind, fing schließlich nach einer Probeschicht im „Shooters“ an und unterstützte fortan unser Team an den Champions-League-Abenden, also dienstags und mittwochs. Dass unser Chef ihr die gleichen Schichten wie mir gegeben hatte, empfand ich als Wink des Schicksals.
Schon am ersten, gemeinsamen Arbeitsabend fühlte ich mich, als sei ich eine Pistazie, die an Anasthasia klebte, wie an einem fleischgewordenen Baklava. Jede ihrer Pausen nutzte ich, um ebenso Pause zu machen. Ich holte uns etwas zu trinken, ich scherzte, war charmant, witzig – und Anasthasia fand mich gut. Ziemlich gut, wie ich am selben Abend feststellte. Ich brachte sie, ganz Gentleman, nach der Schicht zu ihrem kleinen, süßen, roten Opel Corsa. Ich wollte ihr nur einen Kuss auf die Wange geben. Doch das ließ Anasthasia nicht zu: Mit ihren grünen Augen sah sie mich ganz ruhig an.
Die Zeit steht manchmal.
Das war so ein Moment. Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich. Als sie meinen Kuss erwiderte, schmiedete ich in Gedanken Hochzeitspläne.
In der Woche nach diesem Kuss sahen wir uns dreimal. Zweimal beim Arbeiten, einmal privat. In dieser Woche telefonierten wir auch fünfmal. Stundenlang. Viermal ging das gut. Einmal nicht.
Denn ich sagte einen verhängnisvollen Satz.
Nein, ich sagte nicht: „Ich stehe total auf Schamhaare und habe mich noch nie im Intimbereich rasiert und wenn ich mich doch mal rasieren sollte, möchte ich aus den Haaren ein großes Knäuel machen, sie in einen Kissenbezug stecken und jede Nacht selig darauf schlafen.“
Ich sagte auch nicht: „Meine Lieblingsspeise sind Babykätzchen. Und sie schmecken besonders gut, wenn man sie bei lebendigem Leib häutet, sie in feurigem Chili-Öl einlegt und dann scharf in der Pfanne anbrät.“
Derlei Äußerungen hätten ihre Reaktion erklärt.
Ich sagte: „Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt!“ Verliebt? Verliebt! Da ist doch nichts dabei. Offenbar doch. Denn ihre Reaktion war alles andere als zufriedenstellend.
Und so sah sie aus: Schweigen. Und damit meine ich nicht dieses peinliche Schweigen wie bei einer Hochzeit, wenn plötzlich die Kirchentür aufgeht und eine fette, tätowierte Engländerin mit rotem Gesicht dasteht und sagt: „I fucked the bride! With my hole arm! And I want to be with her for the rest of my life!“
Ich meine damit dieses peinliche Schweigen, das entsteht, wenn ein Mann einer Frau seine Liebe erklärt und sie völlig sprachlos ist – weil sie nicht so empfindet.
Zunächst. Dann Gekichere. Dann, als Anasthasia realisierte, dass ich diese Äußerung ernst gemeint hatte, ging es los. Anasthasia, die Frau, mit den wundervollen grünen Augen, den wippenden Locken, dem schönsten Gang der Welt und einer Stimme, die wie ein sanfter Flügelschlag an mein Ohr drang, sagte: „Wie kannst du so etwas fühlen?“
Das war die Gelegenheit, bei der sie mit ihren eleganten Fingern mein Brustbein durchstieß und ihre Hand um meine Hauptschlagader schloss. „Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht.“ Das war der Moment, in dem sie fester zudrückte.
„Wir hatten noch nicht mal Sex!“ Das war der Moment, in dem sie ihre zweite Hand gemächlich in meinen Brustkorb schob und nach meinem Herz griff.
„Vielleicht wäre es besser, wenn du erstmal erwachsen wirst und dich richtig ausvögelst, bevor du was von Verliebt-Sein faselst.“ Das war der Moment, in dem sie mein Herz aus der Verankerung riss und es laut lachend in hohem Bogen in die Erdumlaufbahn schleuderte.
„Klick!“ Aufgelegt. Das war der Moment, in dem ich mich fühlte, als hätte ein zwei Meter großer, einäugiger Totengräber mich mit einem Schaufelschlag niedergestreckt.
Die folgenden drei Wochen sind schnell erzählt: Ich versuchte, per SMS Kontakt mit Anasthasia zu halten, was sie mit dem Tausch ihrer Schichten quittierte, sodass wir uns im „Shooters“ nicht über den Weg laufen konnten. Von unbeantworteter SMS zu unbeantworteter SMS schlich ich missmutiger umher. Ich bin mir sicher, dass ich von Tag zu Tag immer mehr einem Dackel ähnelte. Mit traurigen Augen und hängenden Schlappohren.
Während meiner letzten Juli-Schicht eröffnete mir mein Chef, dass Anasthasia vorerst nicht mehr im „Shooters“ bedienen würde. „Die Grederin“, rotzte er mir fränkelnd auf meine Frage entgegen, „studiert für a Silvesder in Wiesbodn. Noja, im Schbädsommer kummd sie widder, hod sie gsochd.“
Sie ist weg. Aber sie kommt wieder!
Das war meine Chance. Anasthasia war aus meinem Leben. Für bestimmte Zeit. Und in dieser Zeit musste ich erwachsen werden. Musste ich mich ausvögeln. Musste ich mich vorbereiten für den „Härrbsd, wenn die Grederin widder kummd.“
„Punta Arabi!“, grunzte Pascal mit funkelnden Augen und riss mich aus meinem ganz privaten Seifenoper, die ich soeben in seinem Keller auf ein Neues durchlebt hatte.
Ich fasste einen Entschluss. Fast geistesabwesend murmelte ich: „Pascal, ich will in den Club Punta Arabi.“ Ein Joker saß mir gegenüber. Ein Joker, der grinste. Und nickte.
„Nägsder Hald: Fluchhafen Nürnberch“, brummte Werner, unser beschnauzerter Fahrer.
Wir saßen in einem Großraumtaxi vom Format Dorf-Schulbus und prosteten uns im Minutentakt zu. Wir, das sind meine Wenigkeit, Pascal und Lukas sowie eine kleine, exquisite Auswahl meines weiteren Freundeskreises: Pablo, ein Halbkolumbianer mit stahlblauen Augen. Bert, der Wischdechnigg-Fatalist mit großem Durst und noch größerem fränkischen Akzent. Und Hannes, der zu jeder Tages- und Nachtzeit aussichtsreiche Chancen hätte, eine Konkurrenz zum schlechtestgekleideten Mitteleuropäer zu gewinnen. An diesem Tag stach er allerdings in keinster Weise negativ aus unserer Gruppe hervor. Für den Start unseres sechstägigen Urlaubs im Club Punta Arabi auf Ibiza hatten wir uns alle in die gleiche Schale geworfen: Flip-Flops, Blümchenshorts, rosa-weiß gestreiftes Polo und Havana-Club-Strohhut.
Weil Werner in der Einfahrt des Flughafens etwas zu abrupt bremste, schäumte mir das Bier aus der Nase.
„Ey Toni, bass auf mei Sitze auf“, maulte er. „Wennst fei nimmer konnst, gehst haam.“
Er, unser Stammtaxifahrer, hatte uns eigens für den etwa einstündigen Transfer zum Flughafen eine Kiste feinsten Mönchsambacher Exports mitgebracht – ein Trunk wie das Badewasser von Jennifer Lopez. Als er begann, unsere Koffer auszuladen, beeilte ich mich, das letzte Bier hineinzustürzen. Ich fröstelte. Obwohl die Sonne bereits schien, war es empfindlich kalt. Kein Wunder: Es war auch erst kurz nach 6 Uhr morgens.
„Also, in einer Woche wieder hier“, grinste Pablo und steckte Werner ein Bündel Scheine zu. Werner nickte.
„Widder mit am Kasten?“
„Freilich“, antwortete Pascal.
Ich verabschiedete mich von unserem Stammtaxifahrer, der die urfränkische Unhöflichkeit mit der Muttermilch aufgesogen hat, packte meinen blaugrauen Reisetrolley und rief übermütig in die kühle Morgenluft hinein: „Yeeehaaaa!“
Die Fluggesellschaft schien unsere aufgekratzte Stimmung nicht zu teilen. Nachdem wir Halle I des beschaulichen Nürnberger Flughafens betreten hatten, las Pascal laut von der flatternden, grauen Anzeigetafel vor: „Flug 5627-DE nach Ibiza, 47 Minuten Verspätung. Scheiße!“
„Wos hasd do Scheiße?“ fränkelte Bert zurück. „Kömmer wenigsdens ans Trinken!“
Also zog die sechsköpfige Spaßtouristenkarawane zur Gepäckaufgabe und danach weiter an die erstbeste, geöffnete Flughafengastronomie und bestellte ein halbes Dutzend Weißbier. Ich nutzte die Gelegenheit und kramte aus der Po-Tasche meiner kaki-braunen Shorts mit unfassbar hässlichem, grünen Blumenaufdruck ein Kuvert hervor. Fragend blickten mich Bert und Hannes an. Pascal, Lukas, Pablo und ich hatten uns vorab einige Gedanken gemacht, um den Urlaub ein bisschen spannender zu gestalten. Wir hatten uns nach kurzer Diskussion auf einen Wettstreit geeinigt – einen Wettstreit in Sachen Feierei, Sex und peinlichen, nächtlichen Irrungen, für die sich jeder halbwegs anständige Mann am nächsten Morgen schämt. Vor allem der Aufreißer-Wettbewerb war mir Herausforderung und Anliegen zugleich. Denn ich hatte schließlich eine Mission zu erfüllen. „Vögel dich mal richtig aus!“ Unter diesem Leitmotiv sollte mein Urlaub stehen.
Ich erklomm einen Barhocker, nestelte die zusammengefalteten Blätter aus dem Kuvert, auf dem in fetten Lettern „Giro de Punta“ stand, und begann, zu deklamieren: „Ladies and Gentlemen.“
Die ersten verstörten Blicke anderer Touristen trafen uns bereits jetzt, bevor unser Urlaub richtig begonnen hatte.
„Erheben Sie sich für den einmaligen, den einzigartigen, den unwiderstehlichen Giiiirooooo de Puuuuntaaaaa“, michael-bufferte ich wie der legendäre Box-Ansager.
Pascal jokerte mir entgegen: „Jetzt kommt's, jetzt kommt's!“
„An diesem edlen Wettstreit nehmen die sechs Girondisten, die Bamberger Jungs teil. Es geht nicht um schnöden Mammon“, las ich vom Zettel ab. „Es geht alleine um die Ehre – und das gelbe, das grüne und das gepunktete Trikot.“
„Hä?“ Hannes und Bert begriffen nicht. Konnten sie auch nicht, schließlich hatte niemand sie eingeweiht.
„Das gelbe Trikot“, setzte ich erneut an, „erhält der Girondist, der am längsten feiert!“ Applaus. „Gezählt werden die Stunden, die er an einem Tag ab 12 Uhr mittags am Stück wach ist. Macht er durch, bekommt er selbstverständlich eine Bonusstunde, sofern er nicht vor 24 Uhr des Folgetages ein Auge zumacht.“
„Das grüne Trikot gehört am Ende dieser Tournee dem Girondisten, der am meisten in der Horizontalen unterwegs ist. Dafür gibt es folgenden, vom internationalen Matratzensportverband abgesegneten Punkteschlüssel. Sex mit einer Frau: 10 Punkte. Ein weiteres Mal mit der gleichen Frau: 5 Punkte. Ein drittes Mal: 0 Punkte. Sex mit ihrer Zimmergenossin: 10 plus 5 Extrapunkte. Sex am Strand: 20 Punkte. Sex mit einer Animateurin...“
Das gespielte Raunen der fünf weiteren Girondisten unterbrach meinen Monolog.
„Meine Herren“, empörte ich mich und tat so, als würde ich ein imaginäres Monokel zurechtrücken. „Mit einer Animateurin: 50 Punkte!“ Der Lasziv-Sportlertrupp klatschte frenetisch.
„Und nun die Königsdisziplin! Das gepunktete Trikot, die Bergwertung! Hier geht es nur ums Gewicht, ein Kampf Gut gegen Böse: Wer eine Maid aus dem Punta Arabi, deren Hüften rund und deren Busen voll ist, mit seiner Männlichkeit beglückt, der möge sie nach ihrem Gewicht in Kilogramm fragen. Jedes Kilo über 60 wird dabei als Punkt gewertet. Verrät sie ihm, was wahrscheinlich ist, ihr Gewicht nicht, schlägt sie ihn nach der Frage k.o. oder verspeist ihn, so ist am nächsten Tag der heilige Rat des Giro de Punta mit einer Gewichtsschätzung am Pool gefragt!“ Applaus und Gelächter arteten zu Gejohle aus.
Bert, den diese Proklamation unvorbereitet getroffen hatte, gab sich überzeugt: „Die Berchwerdung, die hol ich mir!“
Ich stieg vom Barhocker. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es Zeit fürs Boarding war. Ein Blick in Hannes glasige Augen, dass es Zeit war, ihm sein Weißbier wegzutrinken. Ich schnappte sein Glas, balancierte es liegend auf mein eigenes, kippte meinen Oberkörper nach hinten und ließ den Inhalt der beiden Gläser wie einen alpinen Sturzbach in meinen Mund laufen. Da war er wieder, der Samstags-Toni – mitten unter der Woche, um kurz vor 7 Uhr morgens.
Eine mit einem Werbepolo bekleidete Studentin, die sich mit dem Aufbau eines Kundenstandes eines fragwürdigen Mobilfunkanbieters abmühte, blickte voller Verachtung zu uns herüber. Sie trug eine magentafarbene Perücke aus billiger Kunstfaser. Ihre Verkleidung mit dem Fremdschämfaktor 27 ließ sogar mich im Spaßtouristen-Outfit im Boden versinken. Bert schaffte es jedoch, noch ein bisschen peinlicher zu sein als die Mobilfunkschnalle.
Er grölte sie an: „Roder Fugs, dei Hoor brennd o, schmier a Häufla Scheißdregg no!“
Pikiert blickte die Telekommunikations-Trulla ihn an. Offenbar hatte sie nicht verstanden, was Bert ihr da in der hartkonsonantenfreien Sprache der Franken an den Kopf gereimt hatte. Es bedeutet ungefähr: Roter Fuchs, dein Haar brennt, lösch es mit einem Haufen Kot! Kernig, deftig, fränkisch. Und ein klein bisschen asozial. Wahrscheinlich ist es dem Umstand, dass sie Berts Worte nicht entschlüsseln konnte, zu verdanken, dass die Security darauf verzichtete, uns zur Ganzkörperkontrolle zu begleiten.
Ich drückte Pablo die Zettel mit den Listen für die Giro-Wertung in die Hand. Er friemelte sie in einen grünen Schnellhefter, verstaute diesen im Rucksack und lachend verzogen wir uns Richtung Terminal.
Der Sicherheitscheck verlief überraschend ereignislos, also hatten wir Zeit, uns im Duty-Free-Bereich mit Nachschub einzudecken. Staunend lief ich durch die Reihen edler Whiskeys und hervorragender Brände. Zu was sollte ich greifen?
„Das ist nicht Ibiza“, stellte sich mir Pascal in den Weg, als ich mir eine Flasche „Glengoyne Irish Whiskey“ näher anschauen wollte. Er drückte mir ein fantasielos geformtes Objekt mit pissgelbem Inhalt in die Hand. „Das ist Ibiza!“
„Berentzen Apfel“ las ich von dem Etikett. Ich griff zu. Zimmertemperatur.
In seiner rechten Hand hielt Pascal eine gleich geformte Flasche mit rotem Inhalt. Er schraubte sie auf und roch daran. „Melone“, bemerkte er fachmännisch. Er hob die Flasche zum Anstoßen. Mit gerümpfter Nase köpfte ich den Apfel. WI-DER-LICH, stellte ich nach dem ersten Schluck fest. Auch Lukas, Pablo, Bert und ein bereits heftig lallender Hannes hatten sich mit bunten Berentzen-Flaschen eingedeckt. Das roch, und zwar nach einem gekotzten Regenbogen.
Zweieinhalb Stunden später war von Hannes' Trunk nichts mehr übrig. Und von Hannes selbst ebensowenig. Nachdem der Kapitän uns sicher auf ibizenkischen Boden gebracht und das Klatschen der Passagiere über sich hatte ergehen lassen – ich bin mir im Übrigen sicher, jeder Pilot, der etwas auf sich hält, schämt sich für den frenetischen Applaus nach geglückter Landung – entgurteten wir Hannes' Reste von Sitz 21 A. Lukas und Bert hängten seine Arme über ihre Schultern und zogen ihn aus dem Flieger. Seine nackten Zehen schleiften erst über den rauen Teppich im Gang der Boeing, dann über die blechernen Stufen der Treppe und schließlich über die kalten Fliesen am Aeropuerto Eivissa. Den sabbernden Hannes störte diese Tortur wenig.
Während Lukas und Bert ihn unter Stöhnen zum Gepäckband zerrten, musste ich an Anasthasia denken. Was würde ich mich hier ausvögeln! Und dann ausgevögelt vor ihr stehen, wenn die „Grederin vom Studiern“ wiederkam, um sich in den Semesterferien wieder etwas nebenbei zu verdienen. Und dann?
Sollte ich ihr sagen: „Hey, ich hab mich ausgevögelt!“ Oder: „Jetzt bin ich bereit für dich!“
Das klang beides wenig charmant und wurde einer Frau wie ihr nicht gerecht. Ich musste mir eingestehen, dass mein Plan diesbezüglich noch Schwächen hatte. Ich musste subtiler vorgehen. Und ich wusste auch schon, wie ich das anstellen sollte.
„Hehehe“, vergnügt rieb ich mir die Hände.
Unterdessen kam Pascal um die Ecke. Er hatte fix einen Gepäckwagen besorgt, denn die ersten Koffer von Flug 5627-DE rollten bereits an.
Da ich meine braune, abgewetzte Adidas-Ledertasche noch nicht unter den Reise-Trolleys auf dem schwarzen Gepäckband entdeckte, beschloss ich, meinem gredischen Masterplan ein weiteres, geniales Mosaiksteinchen hinzuzufügen. Ich packte Pablo, der mir am nächsten stand, am Arm. „Pablo!“
„Ja?“ Seine blauen Augen blickten mich fragend an. Fast schon unverschämt stechend hoben sie sich von seiner halbkolumbianischen, perfekt gebräunten Haut ab.
Ich nestelte mein Handy aus der Tasche, zeigte auf ein Schild neben dem Band, auf dem „Bienvenidos a Eivissa“ stand, und sagte: „Mach mal ein Foto von mir neben dem Schild.“
Lässig lehnte ich mich an das gelbe Plastik, hob den Touristen-Daumen und grinste in die Kamera meines Handys. Klick. Pablo reichte mir das Telefon. Ich sah mir das Bild an. Wunderbar! Noch während ich in den Optionen nach „Bild als MMS senden“ suchte, drängte schon wieder ein unangenehmer Gedanke in mein von scheinbar bestialischer Genialität besoffenes Gehirn.
Jetzt, nach Wochen des Aus-dem-Weg-Gehens ein Foto aus Ibiza an Anasthasia zu schicken – wie würde sie das aufnehmen? Als Provokation? Amüsiert? Nein. Sie würde es sofort als verzweifelten und stümperhaften Versuch enttarnen, sie eifersüchtig zu machen. Wieder meldete sich mein Gehirn: Dann schick es doch an dein ganzes Telefonbuch und schreib so nen Satz wie „Grüße an euch alle“. Dann denkt sie, dass du ganz einfach Urlaubsgrüße an deine kompletten Mobilkontakte geschickt hast. Sie würde es für Zufall halten, dass auch sie das Foto bekommen hat.
Ich grinste. Was war ich nicht für ein toller Hecht! Gehirn 1, Dummheit 0. Endlich würde sich mein viel zu teurer Handytarif, der es mir erlaubte, Multi-Media-Mitteilungen für schlappe 19 Cent zu verschicken, rentieren. Die paar Kröten kann man schon mal in seine große Liebe investieren.
Ich tippte noch ein „Saludos de Eivissa! Grüße an euch alle von der Sonneninsel Ibiza“ in das Textfeld. Option „an alle“. „Senden.“ Ein kleines Briefchen schloss sich langsam auf meinem Display.
Pablo, der mir die ganze Zeit über die Schulter geschaut hatte, stieß ein langgezogenes „Pfffffff“ aus.
Fragend blickte ich ihn an.
„Du weißt schon, was eine MMS kostet?“
„Ich hab nen supergünstigen MMS-Tarif. 19 Cent.“
„Auch im Ausland?“
„Macht das einen Unterschied?“
Statt einer Antwort erntete ich nur einen mitleidigen Blick. Langsam begriff ich. Vorsichtig fragte ich: „Was kostet denn so eine MMS normalerweise? Also, aus dem Ausland, meine ich.“
„Naja“, druckste er herum. „Normalerweise 1,59 Euro. Aber aus dem Ausland wird das bestimmt teurer. So 2,50 oder 3 Euro bestimmt.“
Er hatte das ganz lapidar gesagt, doch in meinem Kopf sprang der Taschenrechner an. Auf meinem Handy befanden sich gut und gerne 250 Kontakte. Inklusive ADAC-Pannendienst, Mailbox, diversen Hotlines, und, und, und. Die würden sich jetzt wahrscheinlich ebenso sehr über meine unerwarteten Urlaubsgrüße wundern, wie sich meine Verwandtschaft freuen würde. Grob überschlug ich: 2,50 mal 250. Macht 625 Euro.
„Glückwunsch“, murmelte ich. Gehirn 0, Mobilfunkanbieter 1, Geldbeutel minus 625.
Noch bevor ich mein erstes, ibizenkisches Bier aufgemacht hatte, hatte ich im Prinzip mein komplettes Budget aufgebraucht. Und das nicht für eine großartige Party, sondern für eine völlig dämliche Massen-MMS. Ich drückte mit roher Gewalt den Aus-Knopf meines Mobiltelefons und die Bildschirmleuchte erlosch. Ich hatte keine Lust mehr, an diesen Fehlschlag erinnert zu werden. Das mit dem Geld würde ich irgendwie zuhause klären müssen, notfalls durch Sonderschichten im Shooters.
„Hey, deine Tasche!“ Lukas weckte mich aus meinem Schockzustand. Er pfefferte mir das Lederteil in die Seite. Auf dem Gepäckwagen hatten Bert, Pascal und er bereits einen ansehnlichen Berg aus Taschen, Koffern und Trolleys gestapelt. Oben drauf lag Hannes, der alle Viere von sich streckte. Ich wuchtete meine Tasche neben ihn, was ihn weckte.
Hannes deutete mit seinem rechten Zeigefinger auf das Band. „Hol-ma-einä-mein-Koffä-runtä“, lallte er.
Lukas tat, wie ihm befohlen und stellte Hannes' Gepäck ächzend auf den letzten, freien Fleck des Wagens. Wir schoben den hoffnungslos überladenen Roller Richtung Ausgang. Ganz oben räuselte Hannes schon wieder. Wie eine nach Schnaps stinkende, schnarchende Cocktailkirsche thronte er auf unseren Klamotten.
„Club Punta Arabi“ prangte in retro-90er Neongrün auf dem gelben Bus, der etwa 50 Meter rechts von der Ankunftshalle des Flughafen Eivissa stand und stark an einen ausrangierten US-Schulbus erinnerte. Die Farben der Buchstaben stachen so grell hervor, dass sie wahrscheinlich auch ein an grauem Star erkrankter Greis in einem Seesturm der Stärke zehn auf 100 Meter hätte entziffern können. Komplettiert wurde die Unauffälligkeit in Gelb von blinkenden Lichterketten in den Seitenfenstern und bunten Papierschlangen am oberen Rand des Fahrergehäuses. Als ich mir Hannes' Zustand vor Augen führte, begriff ich den Sinn, der hinter diesem fast schon karnevalesken Auftritt steckte: Offenbar kamen nicht wenige Punta-Gäste dermaßen verstrahlt auf der Insel an, so dass sie mehr als deutliche Wegweiser benötigten, um nicht in das falsche Transportmittel zu steigen.