Kleine Mordgeschichten für Tierfreunde Kleine Geschichten für Weiberfeinde

Für meinen Cousin

Dan Coates

von der Box Canyon Ranch

Weatherford, Texas

Tanzmädchen nennen sie mich – »Tanzmädchen« rufen sie, wenn ich im Stehen das linke Bein schwenke und dann das rechte und so weiter. Früher, vor zehn oder zwanzig Jahren, hieß ich Jumbo junior oder einfach Jumbo. Jetzt heiße ich nur noch Tanzmädchen. Mein Name steht offenbar neben dem Wort Afrika auf dem Holzschild vorne an meinem Käfig. Die Leute starren auf das Schild, sagen manchmal: »Afrika« und rufen dann: »Tanzmädchen! He, Tanzmädchen!« Und wenn ich die Beine schwenke, gibt es ein bißchen Applaus.

Ich lebe allein. Ich habe nie ein Wesen wie mich zu sehen bekommen, jedenfalls nicht hier. Als ich klein war, daran erinnere ich mich, folgte ich meiner Mutter überallhin, und es gab viele Wesen wie mich, die viel größer waren, und einige, die noch kleiner waren als ich. Ich erinnere mich, daß ich meiner Mutter über eine schiefe Holzplanke auf ein Boot gefolgt bin, das ein wenig schaukelte. Meine Mutter wurde über diese Planke zurückgeführt, zurückgetrieben, und ich war auf dem Boot. Meine Mutter hob den Rüssel und trompetete, damit ich ihr folgte. Ich sah, wie Seile um sie geschlungen wurden, wie zehn oder zwanzig Männer daran zogen, um sie festzuhalten. Irgend jemand schoß mit einem Gewehr auf sie. War es ein tödlicher Schuß oder ein

Das Fressen war reichlich und in Ordnung. Und ein netter Mann kümmerte sich um mich, ein Mann mit Namen Steve. Er hatte eine Pfeife im Mund, die er fast nie anzündete, nur zwischen den Zähnen hielt. Auch mit Pfeife im Mund konnte er sprechen, und ich konnte bald verstehen, was er sagte beziehungsweise meinte.

»Runter, Jumbo!« bedeutete zusammen mit einem Schlag gegen meine Knie, daß ich niederknien sollte. Wenn ich den Rüssel hochhielt, klatschte Steve einmal anerkennend und warf mir Erdnüsse oder einen kleinen Apfel ins Maul.

Es gefiel mir, wenn er sich auf meinen Rücken setzte, bevor ich mich aufrichtete, und wir dann im Käfig umherspazierten. Die Leute, die uns zuschauten, applaudierten dann, vor allem die Kinder.

Die Leute hierzulande haben große Hüte auf. Manche der Männer tragen kurze Gewehre am Gürtel. Ab und zu zieht einer seine Waffe und schießt damit in die Luft, um mich zu erschrecken oder die Gazellen, die neben mir wohnen und die ich durch die Gitterstäbe sehen kann. Die Gazellen reagieren verstört, machen Luftsprünge und kauern sich aneinandergedrängt in die hinterste Ecke ihres Käfigs. Ein erbarmungswürdiger Anblick. Bis Steve oder ein anderer Wärter erscheint, hat der Verursacher des Aufruhrs seine Waffe wieder im Gürtel verstaut und sieht aus wie alle anderen, und die anderen lachen und verraten den Täter nicht.

Das erinnert mich an eines meiner erfreulicheren Erlebnisse. Vor etwa fünf Jahren hat ein dicker rotgesichtiger Bursche an mehreren Sonntagen hintereinander mit seiner

Solange Steve bei mir war – annähernd dreißig Jahre lang –, gingen wir ab und zu in dem Park spazieren und ließen Kinder auf meinem Rücken reiten, manchmal drei auf einmal. Das war wenigstens ein netter Zeitvertreib, eine Abwechslung. Aber der Park ist alles andere als ein Wald. Es sind nur vereinzelte Bäume auf ziemlich hartem, trockenem Boden. Dort ist es fast nie feucht. Das Gras wird kurz

Jetzt, da ich älter bin, meine Beine schwer sind und mein Temperament reizbar geworden ist, gibt es keine Ausritte für Kinder mehr, obwohl die Kapelle an sommerlichen Sonntagnachmittagen noch immer spielt »Take me out to the Ball Game« und seit neuestem »Hello, Dolly!« Manchmal wünschte ich, ich könnte wieder einmal mit Steve spazierengehen, ich könnte wieder jung sein. Und dennoch, wozu? Um noch mehr Jahre an diesem Ort zu verbringen? Inzwischen liege ich mehr, als daß ich stehe. Ich liege in der Sonne, die mir weniger warm vorkommt als früher. Die Kleidung der Leute hat sich ein wenig verändert, weniger Waffen und Stiefel, aber immer noch die gleichen

Cliff ist groß und jung, rothaarig. Er gibt gerne an und knallt mit einer langen Peitsche nach mir. Er denkt, er könnte mich mit Stößen und Befehlen dazu bewegen, ihm zu gehorchen. Sein Stock hat eine scharfe Metallspitze, was unangenehm ist, obwohl sie meine Haut nicht einmal ritzen kann. Steve hat sich mir genähert wie ein Geschöpf dem anderen, hat die Verständigung mit mir gesucht und sich nicht eingebildet, ich hätte seinen Erwartungen zu entsprechen. Deshalb haben wir uns verstanden. Cliff interessiert sich nicht für mich und hilft mir zum Beispiel im Sommer nicht gegen die Fliegen.

Als Steve pensioniert wurde, habe ich samstags und sonntags noch die Kinder auf meinem Rücken im Kreis spazierengeführt und manchmal auch Erwachsene. An einem Sonntag rammte ein Mann (wieder einer, der angeben wollte) mir seine Sporen in die Seite, woraufhin ich ein bißchen Tempo zulegte und absichtlich auf einen niedrigen Ast zuhielt, ohne mich zu ducken. Der Mann konnte sich nicht rechtzeitig ducken und wurde von meinem Rücken gefegt, landete auf den Knien und schrie vor Schmerzen.

Am nächsten Tag erschien Steve in einem Rollstuhl. Sein Haar war weiß geworden. Ich hatte ihn etwa vier oder fünf Jahre nicht mehr gesehen, doch er war noch derselbe, die Pfeife im Mund, dieselbe freundliche Stimme, dasselbe Lächeln. Ich schwenkte vor Freude die Beine in meinem Käfig, und Steve lachte und sagte etwas Nettes zu mir. Er hatte kleine rote Äpfel für mich mitgebracht. Er kam in seinem Rollstuhl an den Käfig. Es war ziemlich früh am Tag, und im Park waren fast keine Besucher. Steve sagte etwas zu Cliff und deutete auf Cliffs spitzen Stock, und ich wußte, daß Steve sagen wollte, Cliff solle ihn nicht benutzen.

Dann machte Steve mir ein Zeichen. »Auf! Heb mich auf, Tanzmädchen!«

Ich wußte, was er sagte. Ich kniete nieder und legte meinen Rüssel unter den Sitz von Steves Rollstuhl, seitlich, so

Aber dieser Besuch ist Jahre her. Es war nicht Steves letzter Besuch. Er kam einige Male in seinem Rollstuhl, aber nie an den zwei Wochentagen, an denen besonders viele Besucher da waren. Inzwischen habe ich Steve seit etwa drei Jahren nicht mehr gesehen. Ist er tot? Der Gedanke, daß er tatsächlich tot sein könnte, stimmt mich jedesmal traurig. Aber andererseits ist es nicht weniger traurig, zu warten und zu hoffen, daß Steve sich an einem der ruhigeren Morgen blicken läßt, wenn sich nur wenige Leute zu uns verirren, und er nicht unter ihnen ist. Manchmal hebe ich den Rüssel und brülle mein Herzeleid und meine Enttäuschung heraus, daß Steve nicht kommt. Es scheint die Leute zu belustigen, wenn ich brülle – so wie meine Mutter auf dem Dock brüllte, als sie nicht zu mir gelassen wurde. Cliff schert sich nicht darum und hält sich nur die Hände vor die Ohren, wenn er in der Nähe ist.

Das bringt mich zur jüngsten Vergangenheit. Erst gestern, an einem Sonntag, waren die üblichen vielen Besucher da, sogar mehr als sonst. Ein weißbärtiger Mann in rotem Anzug läutete mit einer Glocke und ging umher und redete mit jedermann, vor allem mit den Kindern. Dieser Mann taucht hin und wieder auf. Die Leute hatten Erdnüsse und Popcorn für mich dabei. Wie immer hielt ich den Rüssel durch die Gitterstäbe und hatte das Maul geöffnet

Es fiel niemand hin, aber mehr als zwanzig Leute taumelten, fielen gegeneinander, hustend und geblendet. Ich ging zu meiner Tränke und holte neues Wasser, und das keine Sekunde zu früh, denn die Leute hatten sich auch bewaffnet. Steine und Stöcke wurden nach mir geworfen, leere Krachmandeltüten, alles mögliche. Ich nahm den Größten und Dicksten ins Visier, spritzte ihn nieder und versprühte das restliche Wasser auf alle übrigen. Eine Frau schrie um Hilfe. Andere traten den Rückzug an. Ein Mann zog seine Waffe, schoß auf mich und verfehlte mich. Obwohl er sofort von einem anderen Mann überwältigt wurde, zog ein weiterer seine Waffe. Eine Kugel traf mich in die Schulter, nicht tief, eher ein Kratzer an der Oberfläche. Eine zweite Kugel schlug die Spitze meines rechten Stoßzahns ab. Mit dem Rest meines Wassers im Rüssel attackierte ich einen der Revolverhelden, mitten auf die Brust.

Ich roch das Blut an meiner Schulter. Ich war noch immer so aufgebracht, daß ich schnaubte, statt zu atmen, und bevor ich mir über mein Tun im klaren war, verbarrikadierte ich den Eingang zu meinem Schlafplatz mit den Heuballen, die an den Wänden aufgeschichtet waren. Ich hob sie von ihren Stapeln herunter, schob und kickte sie, und es gelang mir, mit dem Rüssel einen letzten Heuballen auf den Haufen aus acht oder neun Ballen zu bugsieren und den Eingang bis auf einen Spalt ganz oben zu versperren. Auf jeden Fall war diese Barrikade kugelsicher. Aber Kugeln waren nicht mehr zu hören. Statt dessen hörte ich draußen Cliff, der den Leuten etwas zurief.

»Immer mit der Ruhe, Tanzmädchen!« sagte Cliffs Stimme. Die Worte waren mir vertraut. Aber noch nie hatte ich die Furcht wie ein Zittern in Cliffs Stimme gehört. Zweifellos beobachteten ihn die Leute. Cliff mußte sich als Herr der Lage zeigen. Dieser Gedanke, verbunden mit meiner Abneigung gegen Cliff, versetzte mich erneut in Rage, und ich rammte den Kopf gegen die Barrikade, die ich errichtet hatte. Cliff hatte an dem obersten Ballen gezerrt, und nun fiel der ganze Haufen auf ihn.

Die Leute schrien vor Entsetzen wie aus einem Mund.

Die Leute starrten nur zurück. Ich funkelte sie böse an, mit leicht geöffnetem Mund: Er brannte immer noch.

Zwei uniformierte Wärter kamen durch die Seitentür meines Käfigs. Sie hatten lange Gewehre dabei. Ich blieb reglos stehen und tat nichts, nahm sie kaum zur Kenntnis. So durchgedreht und aufgeregt, wie sie waren, hätten sie mich vor lauter Furcht ohne weiteres erschossen, wenn ich den leisesten Anflug von Zorn gezeigt hätte. Allmählich kehrte meine Selbstbeherrschung zurück. Und ich dachte mir, daß Cliff vielleicht tot war, was mich freudig stimmte.

Aber nein, das war er nicht. Einer der Männer beugte sich über ihn, befreite ihn von einem der Heuballen, und ich sah, daß Cliffs Rotschopf sich bewegte. Der andere Mann stieß mir grob sein Gewehr in die Flanke, um mich zu meinem Schlafplatz zu treiben. Er rief mir etwas zu. Ich wandte mich um und trabte ohne Eile in mein Zementzimmer, das jetzt voll verstreuten Heus war. Auf einmal war mir sehr unwohl, und mein Mund schmerzte noch immer. Ein Mann mit auf mich gerichtetem Gewehr stand in der Tür. Ich sah ihn gelassen an. Ich konnte sehen, wie Cliff sich aufrichtete. Der andere Mann redete noch immer in zornigem Ton auf Cliff ein. Cliff antwortete und wedelte mit den Händen, obwohl er nicht besonders gut in Form zu sein schien. Er sah aus, als könne er sich kaum auf den Füßen halten, und faßte sich immer wieder an den Kopf.

Als ich aufwachte, war es dunkel, und ich hatte etwas Fettiges im Mund. Mein Maul schmerzte nicht mehr, und meine Flanke schmerzte nur ganz wenig. War das der Tod? Aber ich konnte das Heu in meinem Quartier riechen. Ich stellte mich auf die Beine, und mir wurde übel. Ich erbrach mich ein bißchen.

Dann hörte ich, wie jemand die Seitentür knarrend schloß. Ich erkannte Cliffs Schritte, obwohl er mit seinen Stiefeln leise auftrat. Ich spielte mit dem Gedanken, den engen Schlafplatz zu verlassen, diese Falle mit der Tür als einzigem Ausgang, aber ich war noch zu benommen, um mich zu rühren. Undeutlich sah ich Cliff mit einer Tasche, wie

Cliff kam keuchend auf die Füße. Er trat ebenfalls zum Luftholen heraus und lief dann schimpfend zurück, ergriff das Tuch und näherte sich wieder. Ich erhob mich etwas auf die Hinterbeine und drehte mich von ihm weg. Cliff wäre fast gestürzt. Ich versetzte ihm einen Klaps mit dem Rüssel, der ihn umwarf. Cliff fiel wie ein Brett auf den Zement. Jetzt wurde ich zornig. Es war ein Kampf zwischen ihm und mir, und Cliff hatte das übelriechende Tuch immer noch in der Hand. Jetzt kam er auf die Knie.

Mit dem linken Fuß gab ich Cliff einen Tritt, eigentlich nur einen Stups. Ich erwischte ihn an der Seite und hörte ein Knacken wie das Brechen von Ästen. Danach bewegte sich Cliff nicht mehr. In den süßlichen und tödlichen Geruch mischte sich jetzt der scheußliche Geruch von Blut. Ich ging zur Vorderseite meines Käfigs, so weit wie möglich von dem Tuch entfernt, und legte mich hin, um mich an der

Und dort bin ich jetzt, ich liege in einer Ecke des Käfigs aus Stahl und Zement, in dem ich so viele Jahre verbracht habe. Langsam bricht der Tag an. Zuerst kommt die vertraute Gestalt des alten Mannes, der die zwei Moschusochsen füttert. Er schiebt eine Schubkarre, öffnet einen weiteren Käfig mit anderen gehörnten Tieren. Zuletzt kommt er an meinem Käfig vorbei, blickt zweimal herüber und sagt Worte, in denen »Tanzmädchen« vorkommt, zu mir, weil es ihn überrascht, mich dort vorne liegen zu sehen. Und dann sieht er Cliffs Gestalt.

»Cliff? – He, Cliff! Was ist los?«

Offenbar ist der Käfig nicht verschlossen, denn der alte Mann tritt herein, beugt sich über Cliff, sagt etwas, hält sich die Nase zu und bringt das große weiße Tuch nach draußen. Dann rennt er schreiend davon. Ich stehe auf. Die Käfigtür ist leicht geöffnet. Ich gehe an Cliffs Körper vorbei, drücke die Tür weiter auf und gehe hinaus.

Im Park ist niemand. Es ist angenehm, wieder auf dem Erdboden zu gehen, was ich nie mehr getan habe, seit die Ritte am Wochenende vor so langer Zeit ein Ende hatten. Der trockene Boden fühlt sich sogar weich an. Ich bleibe stehen, um den Rüssel zu heben, ein paar grüne Blätter von

Hinter mir höre ich aufgeregte Stimmen. Die Stimmen kommen sicher von meinem Käfig, aber ich sehe mich nicht einmal um. Ich genieße meine Freiheit. Über mir ist der weite blaue Himmel, eine riesige Welt der Leere weit oben. Ich trete in ein Dickicht von Bäumen, die so eng stehen, daß sie mich auf beiden Seiten kratzen. Aber es sind so wenige, daß ich im Handumdrehen wieder draußen bin und mich auf einem Zementweg wiederfinde, an dessen Rand Affen und Äffchen in Käfigen mich anglotzen und aufgeregt schnattern, als ich vorbeigehe. Ein paar der behaarten kleinen Burschen kauern aneinandergeschmiegt hinten im Käfig. Languren kreischen mir schrill entgegen und kehren mir dann ihre blauen Hintern zu, bevor sie in den entferntesten Winkel ihres Käfigs davonhopsen. Würden einige von ihnen vielleicht gern auf meinem Rücken reiten? Von irgendwo erinnere ich mich daran. Ich rupfe Blumen ab und esse sie, nur zum Spaß. Die schwarzen Affen mit den langen Armen grinsen und lachen, halten sich an ihren Gitterstäben fest, rütteln an den Stäben und machen Radau.

Ich schlendere zu ihnen, und sie fürchten sich nur ein bißchen, eigentlich sind sie eher neugierig, als ich meinen Rüssel um zwei der Stäbe schlinge und sie herausreiße. Dann folgt ein dritter Gitterstab, und jetzt können die schwarzen Affen hinausklettern.

Sie kreischen und schnattern und setzen in großen

Doch jetzt höre ich Schritte, das Geräusch laufender Füße und Schreie.

»Da drüben ist sie! Bei den Affen!«

Ich drehe mich um, ihnen entgegen. Ein Affe benutzt meinen Schwanz als Halteseil und klettert mir auf den Rücken. Er klopft mir auf die Schultern, weil er reiten will. Zwei Männer, dieselben wie gestern, die mit den langen Gewehren, kommen auf mich zugerannt, halten dann rutschend inne und erheben ihre Gewehre. Bevor ich meinen Rüssel zu einer friedfertigen Geste heben kann, bevor ich niederknien kann, gehen drei Schüsse los.

»Paß auf, daß du nicht den Affen triffst!«

Aber sie treffen mich.

Peng!

Jetzt geht die Sonne auf, und die Baumwipfel leuchten grün, denn nicht alle Bäume sind kahl. Meine Augen wandern endlos nach oben. Mein Körper sinkt. Ich spüre, daß der Affe behende von meinem Rücken auf den Boden springt und davonhopst, von den Gewehrschüssen erschreckt. Auf einmal komme ich mir ganz schwer vor, wie kurz vor dem Einschlafen. Ich will niederknien und mich hinlegen, aber mein Körper schlingert zur Seite, und ich falle schwer auf den Zement. Ein weiterer Schuß reißt mir den Kopf zurück. Ein Schuß zwischen die Augen, doch sie sind noch offen.

Männer springen um mich herum, ähnlich wie die Affen, treten nach mir, schreien sich Wörter zu. Wieder sehe

Tief in der Wüste Arabiens lebte Djemal mit seinem Herrn und Meister Mahmet. Sie schliefen in der Wüste, weil das billiger war. Tagsüber trotteten sie (Mahmet ritt) zur nächsten Stadt Elu-Bana, wo Touristen auf Djemal reiten durften, kreischende Frauen in Sommerkleidern und nervöse Männer in Shorts. Das waren mehr oder weniger die einzigen Anlässe, bei denen Mahmet zu Fuß ging.

Djemal war sich dessen bewußt, daß die anderen Araber Mahmet nicht mochten. Wenn er und Mahmet auftauchten, ging leises Stöhnen durch die Reihen der anderen Kameltreiber. Zwischen Mahmet und den anderen Kameltreibern wurde dauernd um Preise, um Dinare, gefeilscht, und die anderen fielen wie ein Mann über Mahmet her. Es wurde wie wild gestikuliert und laut geschrien. Aber Dinare wurden keine getauscht, es war nur Gerede. Und zuletzt führte Mahmet Djemal zu der Gruppe Touristen, die sie anstarrten, und rief Djemal den Befehl zum Niederknien zu.

Das Fell an Djemals Knien der Vorder- und Hinterbeine war ganz abgewetzt, und seine Haut sah dort wie altes Leder aus. Ansonsten war er braun und zottelig, stellenweise verfilzt, stellenweise fast kahl, als hätten die Motten im Fell genistet. Djemals große braune Augen jedoch waren klar, und seine großzügigen, intelligenten Lippen wirkten freundlich,

»Oooh! Iiih!« kreischte eine dicke Dame, die hin und her rutschte, als Djemal sich zu eindrucksvoller ganzer Höhe aufrichtete. »Der Boden ist plötzlich meilenweit entfernt!«

»Fall nicht runter! Halt dich fest! Der Sand ist nicht so weich, wie er aussieht!« rief die Stimme eines Engländers warnend.

Der kleine schmierige Mahmet in seinen schmutzigen Gewändern zerrte an Djemals Zaum, und los ging es im Schrittempo; Djemal stapfte mit seinen breiten Füßen durch den Sand und ließ den Blick wandern, wohin es ihm gefiel, zu den weißen Kuppeln der Stadt vor dem blauen Himmel, zu einem Automobil, das die Straße entlangschnurrte, zu einem gelben Haufen Zitronen am Straßenrand, zu anderen Kamelen, die wanderten oder ihre menschliche Fracht auf- und abluden. Wie jeder Mensch fühlte diese Frau sich beinahe gewichtlos an, anders als die großen Säcke mit Zitronen oder Orangen, die er oft tragen mußte, oder die Säcke mit Gips oder auch die Bündel junger Bäume, die er bisweilen tief in die Wüste brachte.

Manchmal stritten sogar die Touristen in ihrem zögernden, verblüfft klingenden Tonfall mit Mahmet. Streitigkeiten über den Preis. Immer ging es um Preise. Alles drehte sich um Dinare. Dinare, Papier wie Münzen, brachten die Menschen dazu, Dolche zu zücken oder die Fäuste zu erheben und einander ins Gesicht zu schlagen.

Nach einem guten Touristentag, der oft bis Einbruch der Dunkelheit währte, band Mahmet Djemal in der Ortschaft an eine Palme und leistete sich ein Couscous in einem armseligen Restaurant mit Terrasse und kreischendem Papagei.

Vielleicht brachte er Djemal an den öffentlichen Brunnen, vielleicht auch nicht, aber er ritt auf Djemal, der in die Wüste zu dem Baumgrüppchen schritt, wo Mahmet jeden Abend sein Lager aufschlug. Djemal sah nicht immer im Dunkeln, aber sein Geruchssinn führte ihn zu Mahmets Kleiderbündel, dem zusammengerollten Zelt, den ledernen Wasserschläuchen, die allesamt von Mahmets scharfem, schweißigem Geruch durchtränkt waren.

Am frühen Morgen gab es in den heißen Sommermonaten meistens Zitronen zu befördern. Allah sei Dank, dachte Mahmet, hatte die Regierung Zeiten für das Kamelreiten der Touristen festgesetzt – zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags und achtzehn und einundzwanzig Uhr abends –, so daß die Kameltreiber tagsüber Geld verdienen und das Touristengeschäft in den festgelegten Stunden abwickeln konnten.

Als jetzt die große orangerote Sonne am sandigen Horizont sank, konnten Mahmet und Djemal den Muezzin von Elu-Bana bereits nicht mehr hören. Ohnehin hatte Mahmet sein Transistorradio eingeschaltet, ein faustgroßes Spielzeug, das er zwischen den Falten seiner Djellaba auf der Schulter

»Djemal! Geh dahin!« sagte Mahmet und deutete auf die Seite, die, wie er entdeckt hatte, in Windrichtung seiner Schlafstelle lag. Djemal diente nicht nur als Schutz vor dem sandigen Wind, sondern strahlte zudem beträchtliche Wärme aus.

Djemal fraß weiter an dem dürren Strauch in wenigen Metern Entfernung. Mahmet ging zu ihm und schlug ihn mit einer geflochtenen Lederpeitsche. Die Schläge taten nicht weh. Sie waren ein Ritual, das Djemal noch einige Minuten über sich ergehen ließ, bevor er sich von den dunkelgrünen Büschen losriß. Zum Glück war er diesmal nicht durstig.

»Ojajaja«, plärrte das Radio.

Djemal kniete nieder und drehte sich dabei in eine etwas andere als die von Mahmet gewünschte Richtung, bis der leise Wind ihm fast direkt gegen den Schwanz blies. Djemal wollte keinen Sand in die Nüstern bekommen. Er streckte den langen Hals aus, legte den Kopf hin, schloß die Nüstern fast ganz und die Augen ganz. Bald darauf spürte er, wie Mahmet sich an seine linke Flanke legte, die alten roten Decken, in die er sich eingemummt hatte, zurechtzupfte und seine Fersen in den Sandalen in den Sand grub. Mahmet schlief in der gleichen Körperhaltung, in der er sich ausruhte, beinahe sitzend.

Manchmal las Mahmet ein wenig im Koran und murmelte dabei vor sich hin. Er konnte nicht gut lesen, aber seit

Mahmet zog sich die rote Decke über den Kopf und fühlte sich geborgen und unabhängig. Er hatte keine Frau, nicht einmal Verwandte – das heißt, Verwandte gab es in einer fernen Stadt, aber sie mochten ihn nicht, und er mochte sie nicht, und deshalb verschwendete Mahmet keinen Gedanken an sie. Als Junge hatte er gestohlen, und die Polizei war ein bißchen zu oft bei seiner Familie erschienen, um ihn und seine Eltern zu verwarnen, und deshalb war Mahmet als Dreizehnjähriger von zu Hause ausgerissen. Seitdem hatte er ein Nomadenleben geführt, hatte sich in der Hauptstadt als Schuhputzer durchgeschlagen und eine Zeitlang als Kellner gearbeitet, bis man ihn dabei erwischte, daß er sich aus der Kasse bediente; danach hatte er sich in Museen und Moscheen als Taschendieb betätigt, als Hilfszuhälter für eine Bordellkette in Khassa und danach als Laufbursche für einen Hehler, und seit dieser Zeit hinkte er, weil ein Polizist ihn in die Wade geschossen hatte. Mahmet war sieben- oder achtunddreißig, vielleicht schon vierzig – er wußte es nicht genau. Das Geld, das er bei dem Rennen gewinnen wollte, sollte als Anzahlung auf ein kleines Haus in Elu-Bana dienen. Er hatte das weiße Haus mit zwei Zimmern, fließendem Wasser und einem kleinen Kamin besichtigt. Es wurde günstig angeboten, weil der Vorbesitzer im Schlaf ermordet worden war und niemand in diesem Haus wohnen wollte.

Am nächsten Tag wunderte Djemal sich über die leichte

»Hoia, Djemal!« rief jemand.

»Mahmet! Fsss!«

Unruhe kam auf. Djemal hatte keine Ahnung, was los war. Männer klatschten. Applaudierend oder empört? Djemal wußte, daß niemand seinen Herrn leiden konnte, und diese Ablehnung und folglich Feindseligkeit betrachtete das Kamel auch als gegen sich gerichtet. Djemal war stets auf der Hut vor einem tückischen Schlag oder einem Wurfgeschoß, das Mahmet galt. Die großen Lastwagen fuhren los, beladen mit Zitronen, die Dutzende von Kamelen angeschleppt hatten. Die Treiber ruhten sich aus, an die Bäuche ihrer Kamele gelehnt oder im Schneidersitz. Als Djemal den Hof verließ, streckte ein Kamel ohne Anlaß den Kopf vor und biß Djemal in den Rumpf.

Djemal drehte sich sofort um, schob die Oberlippe zurück, die kraftvolle, lange Zähne entblößte, und biß zurück, wobei er fast die Schnauze des anderen Kamels erwischt hätte. Der Kameltreiber auf diesem Tier wurde durch dessen Zurückscheuen beinahe abgeworfen und überschüttete Mahmet mit einer Flut von Verwünschungen.

Mahmet schimpfte lautstark zurück.

Obwohl Djemal getrunken hatte, bis er nicht mehr konnte, führte Mahmet ihn noch einmal zur Tränke. Djemal trank langsam ein bißchen Wasser und hob immer

Flaggen kamen in Sicht, ein Podest, Touristen und zwei Lautsprecher, aus denen Musik dröhnte. Und das alles am Rand der Wüste. Kamele standen aufgereiht. Ein Mann sprach mit unnatürlich lauter Stimme. Die Kamele sahen gut aus. War das ein Rennen? Djemal hatte einmal an einem Rennen teilgenommen, mit Mahmet als Reiter, und Djemal erinnerte sich, daß er schneller gelaufen war als die anderen. Das war letztes Jahr gewesen, als Mahmet Djemal erstanden hatte. Djemal erinnerte sich undeutlich an seinen ersten Herrn, der ihn abgerichtet hatte. Es war ein großer, freundlicher und ziemlich alter Mann gewesen. Er hatte mit Mahmet gestritten, wahrscheinlich über Dinare, und Mahmet hatte gewonnen. So jedenfalls interpretierte es Djemal. Mahmet hatte Djemal mitgenommen.

Auf einmal stand Djemal in einer Reihe mit den anderen Kamelen. Ein Signal ertönte. Mahmet schlug auf Djemal ein, Djemal rannte los und brauchte ein paar Minuten, bis er seinen Rhythmus gefunden hatte. Dann galoppierte er geradewegs in die untergehende Sonne. Er lag vorn. Es war nicht schwer. Djemal begann ruhig zu atmen und richtete sich darauf ein, das Tempo so lange wie nötig beizubehalten. Wohin ging es? Djemal konnte keine Blätter und kein Wasser riechen, und die Gegend war ihm nicht vertraut.

Am nächsten Morgen machten sie sich in der Dämmerung auf, nachdem Mahmet sich auf seinem Spirituskocher eine Tasse süßen Kaffees zubereitet hatte. Er schaltete sein Radio ein und legte es in die Kniebeuge des Beins, das er auf Djemals Schulter angewinkelt hatte. Kein einziges Kamel war hinter ihnen zu sehen. Aber Mahmet hielt Djemal zu zügigem Tempo an. Nach Djemals festem Höcker zu schließen, konnte das Kamel ohne Ermüdungserscheinungen noch vier bis fünf Tage durchhalten. Dennoch schaute Mahmet sich links und rechts nach Bäumen um, nach Grün, in dessen Schatten man wenigstens kurzfristig Zuflucht vor der Sonne suchen konnte. Gegen Mittag mußten sie anhalten. Die Sonnenglut hatte sogar Mahmets Turban durchdrungen; Schweiß rann ihm in die Augenbrauen. Zum ersten Mal warf Mahmet Djemal ein Tuch über den Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen, und sie rasteten bis fast vier Uhr nachmittags. Mahmet hatte keine Uhr, aber er konnte die Uhrzeit relativ zuverlässig am Sonnenstand ablesen.

Der nächste Tag verlief genauso, nur daß Mahmet und Djemal Bäume fanden, aber kein Wasser. Mahmet kannte

Djemal hätte bei moderatem Tempo und mit wenig Gewicht fünf Tage ohne Wasser überstehen können, aber er verfiel immer häufiger in lange Schritte. Gegen Mittag des sechsten Tages begann Djemal die Anstrengung zu spüren. Mahmet murmelte Koransuren. Wind kam auf und blies mehrmals die Flamme unter Mahmets Kaffeekocher aus. Djemal rastete, den Schwanz dem Wind zugekehrt, die Nüstern Schlitze, gerade weit genug zum Atmen.

Mahmet erkannte, daß sie sich am Rand eines Windsturms befanden, nicht in dem Sturm. Er tätschelte Djemal kurz den Kopf. Mahmet dachte sich, daß die anderen Kamele mit ihren Reitern mitten im Sturm sein mußten, dessen Zentrum sich im Norden abzeichnete, in der Richtung von Souk Mandela. Mahmet hoffte, daß alle anderen aufgehalten werden würden.

Mahmet irrte sich, wie er am siebten Tag feststellte, dem Tag, an dem das Rennen enden sollte. Mahmet machte sich in der Morgendämmerung auf; der Sand wurde vom Wind so heftig gepeitscht, daß Mahmet gar nicht erst versuchte, Kaffee zu kochen, sondern sich damit begnügte, ein paar

Djemal fiel es schwer voranzukommen; er mußte seine Nüstern gegen den Sand halb geschlossen halten und konnte nicht tief einatmen. Mahmet, der auf seinen Schultern saß und sich über seinen Hals beugte, peitschte nervös auf ihn ein, um ihn anzutreiben. Djemal spürte, daß Mahmet sich fürchtete. Wenn Djemal ihr Ziel nicht sehen oder riechen konnte, wie sollte es dann Mahmet können? War Mahmet das Wasser ausgegangen? Möglicherweise. Djemals rechte Schulter wurde von dem Peitschen wund und begann zu bluten. Mahmet schlug auf diese Schulter ein, weil es dort schmerzlicher war als an der anderen, vermutete Djemal. Mittlerweile kannte Djemal Mahmet in- und auswendig. Er wußte, daß Mahmet beabsichtigte, sich für seine, Djemals, Anstrengungen bezahlen zu lassen, denn sonst hätte Mahmet nicht so viele Mühen auf sich genommen. Djemal hatte auch eine undeutliche Vorstellung davon, daß er sich in Konkurrenz zu den anderen Kamelen befand, die er in Elu-Bana gesehen hatte, denn er war schon früher gezwungen worden, »Rennen« zu laufen, wenn Mahmet Touristen in der Ferne ausgemacht und ihn angetrieben hatte, schneller zu sein als andere Kamele.

»Hai-iie! Hai-iie!« rief Mahmet, der auf und nieder hüpfte und seine Peitsche schwang.

Mahmet hatte sein Transistorradio verloren und suchte auf allen vieren den Sand ab. Als er das Radio wiederfand, trat er Djemal hart in die Rippen und rücksichtslos in den Anus, weil Djemal sich wieder hingelegt hatte, doch das Kamel rührte sich nicht.

Mahmet fluchte.

Djemal schnaubte bösartig und entblößte seine zwei furchterregenden Vorderzähne, bevor er sich mit verbitterter Würde langsam aufrichtete. Ganz benommen vor Hitze und Durst sah Djemal Mahmet wie durch einen Schleier, und wäre er vor Erschöpfung nicht so schwach gewesen, hätte er ihn in seiner Verzweiflung angegriffen. Mahmet schlug ihn und befahl ihm, niederzuknien. Djemal gehorchte, und Mahmet stieg auf.

Weiter ging es. Djemals Füße wurden immer schwerer und schleiften durch den Sand. Aber jetzt konnte Djemal Leute riechen. Wasser. Und dann hörte er Musik, das übliche klagende Gequäke arabischer Transistorradios, nur lauter, als liefen mehrere Radios gleichzeitig. Mahmet schlug wieder und wieder auf Djemals Schulter ein und feuerte ihn an. Djemal sah keinen Grund, sich anzustrengen, denn schließlich war das Ziel deutlich zu sehen, doch er ging, so

»Jajaa!« Das Geschrei wurde lauter.