Der Brand

Ernst Cassirer

Den Papierkram in der Praxis hat sie erledigt, die Pflanzen gegossen und der Reinigungskraft einen Zettel mit Anweisungen hinterlassen. In ihrer Stammbuchhandlung hat sie ein Buch auf Empfehlung gekauft und eines von Elizabeth Strout, das schon lange auf ihrer Wunschliste stand – eine hochgelobte Mutter-Tochter-Geschichte.

Peter müsste in einer guten Stunde zu Hause sein. Er hat ihr von einem Radebeuler Weingut aus geschrieben, Fotos verschiedener Grau- und Weißburgunder geschickt und gefragt, ob sie mit der Auswahl einverstanden sei. Sie hat sich noch eine Scheurebe dazu gewünscht und ein knappes »ok« zurückbekommen.

Rahel steigt die Treppen bis in die zweite Etage des Altbaus hinauf und legt die Briefe auf der Kommode im Korridor ab. Als sie sich die Schuhe abstreift, klingelt das Telefon in ihrem Zimmer. Sie zögert einen Augenblick. Eigentlich muss sie auf die Toilette, doch sie meint, dem Klingeln eine Dringlichkeit anzuhören, die keinen Aufschub duldet.

 

Während des Anrufs muss sie sich setzen.

Der Mann am Telefon berichtet mit brüchiger Stimme, das Ferienhaus, von Rahel vor Monaten gebucht, sei abgebrannt. Nach fast einem Jahrhundert in Familienbesitz sei das Haus in den Bergen für immer zerstört.

Rahels Mitgefühl bleibt aus. Während der Mann weiter spricht, ihr Informationen zur

»Also nehmen Sie die Ferienwohnung im Dorf?«, fragt der Mann, nun ganz geschäftsmäßig.

»Nein«, sagt Rahel. »Bitte erstatten Sie uns das Geld zurück.«

 

Fast zwei Monate lang hatte sie nach einem Quartier wie diesem gesucht. Gleich zu Anfang des Jahres, als die ersten Meldungen über das Virus kamen, hatten sie sich darauf geeinigt, den Sommer im Inland zu bleiben.

Es war der perfekte Treffer gewesen: Eine Hütte in Oberbayern, in den Ammergauer Alpen, in völliger Alleinlage auf einem Wiesenhügel, ein Brunnen mit Pumpe und Steinbecken davor, nur zu erreichen über einen holprigen Serpentinenweg durch den Wald. Kein Internet, kein Fernsehen, keine Ablenkung.

Seit Wochen studiert Peter Karten und stellt Wanderrouten zusammen. Er hat sich teure Trekkingstiefel gekauft, einen Rucksack für Tagestouren, T-Shirts und Hosen aus leicht trocknendem und regenabweisendem Material, eine erstklassige

In drei Tagen wären sie gefahren. Unmöglich, auf die Schnelle etwas Vergleichbares zu finden, nicht in diesem Jahr, nicht unter den gegebenen Bedingungen. Ohne große Hoffnung gibt sie auf einer Website für Ferienwohnungen ihre Wünsche ein. Null Treffer. Sie versucht es auf einer weiteren – mit dem gleichen Ergebnis.

Dann ruft sie die Seite der Berghütte auf. Sie klickt sich von Bild zu Bild, von den Geranien in den Balkonkästen zu der kleinen Veranda mit Blick auf das gegenüberliegende Bergmassiv und wieder zum Haus, diesmal aus einer anderen Perspektive. Dann zu dem steinernen Brunnenbecken und den bunten Wildblumen auf der Wiese, und plötzlich kann sie das lodernde Feuer auf dem Berg sehen. Sie sieht fliehende Tiere und eine Rauchsäule, die in den nächtlichen Sternenhimmel steigt, und mittendrin Peter und sich – wie auf einem Scheiterhaufen.

 

Wäre das Ganze vor zehn Jahren passiert, hätten sie gemeinsam darüber den Kopf geschüttelt. »Wer weiß, wofür es gut ist …«, hätte Peter vermutlich gesagt und sie getröstet. Doch die Gelassenheit war

 

Eine halbe Stunde ist seit dem Anruf vergangen. Rahel steht am Fenster ihres Zimmers und wippt barfuß auf den Zehenballen auf und ab. Ihr von Grau durchsetztes schwarzes Haar trägt sie hochgesteckt. Das Leben draußen, die Stimmen der Jugendlichen, die sich auf den Bänken vor der Kirche versammelt haben, nimmt sie wie von ferne wahr. Die Enttäuschung hat sie kraftlos gemacht.

Als das Telefon erneut klingelt, rührt sie sich nicht. Mit geschlossenen Augen wartet sie, dass es aufhört.

Aber es hört nicht auf.

Sie wirft einen Blick auf das Display: Es ist Ruth. Unwillkürlich strafft Rahel die Schultern, räuspert sich, prüft den Ausdruck ihres Gesichts im Spiegel neben dem Schreibtisch und nimmt den Hörer ab.

Schon an der Begrüßung hört sie die Veränderung in Ruths Stimme – das zackig Selbstbewusste fehlt. Dennoch kommt sie ohne Umschweife zur Sache: Viktor habe vor ein paar Tagen einen Schlaganfall erlitten. Es sei alles so viel gewesen, darum

Sie bricht ab, setzt erneut an: Ob Rahel und Peter die ersten beiden Wochen übernehmen könnten. Viktor und sie wären überaus dankbar.

Beinahe hätte Rahel Nein gesagt. Nein, das geht leider nicht. Wir fahren in die Berge. Doch dann fällt ihr der Brand wieder ein, und sie antwortet: »Ja natürlich, das machen wir gern. Und wenn du willst, bleiben wir drei Wochen.«

***

Peter schweigt. Er schüttelt den Kopf, hebt ratlos die Hände.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, entfährt es ihm schließlich. »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man ausgerechnet die eine Ferienunterkunft bucht, die kurz vor der Anreise abbrennt?«

Dann geht er mit gesenktem Kopf in sein

Für den Augenblick atmet sie auf. Noch weiß sie nicht, wie sie ihm die Zusage für Dorotheenfelde beibringen soll. Sie geht zum Fenster, beugt sich ein Stück hinaus, blickt auf die Passanten hinunter und hört plötzlich Peters Stimme hinter sich.

»Was machen wir jetzt, hm?«, fragt er. Er setzt sich auf die nachtblaue Chaiselongue, die sich Rahel erst kürzlich gekauft hat.

Sie zögert die Antwort hinaus, doch schließlich siegt ihr Pragmatismus.

»Wir fahren in die Uckermark nach Dorotheenfelde, schon morgen.«

»Ohne mich zu fragen …«, sagt er und erhebt sich. »So weit sind wir jetzt also gekommen.«

Ihre Füße stehen wie festgeklebt am Boden, die Zunge lässt sich nicht vom Gaumen lösen, und Peter verlässt das Zimmer mit dem Gesichtsausdruck eines Besiegten.

Rahel setzt sich auf die Chaiselongue, genau auf die Stelle, wo er gesessen hat. Dann streckt sie sich aus und legt einen Arm über die Augen. Sie blickt nach innen und wünscht sich sogleich, es nicht getan zu haben.

 

Später, als sie wahllos Kleider aus dem Schrank nimmt und in den Koffer packt, denkt sie an Ruth. Ihr Gesicht steht ihr lebhaft vor Augen. Über die Jahre haben sich winzige Verschiebungen in die Symmetrie ihrer Züge eingeschlichen, doch noch immer tritt Ruth nie anders auf als tadellos zurechtgemacht. Besonders an schlechten Tagen ist die äußere Vollendung ihre Rüstung gegen die Zumutungen der Welt. Seit jeher schien diese Haltung auch auf Rahel überzugreifen. Nie hat sie sich gehenlassen in Ruths Anwesenheit, nie nachlässig

Rahels Verhältnis zu Viktor und Ruth ist bruchlos und so alt wie sie selbst. Bei ihnen in Dorotheenfelde kam ihr Leben zur Ruhe. Ediths rastloses Dasein, das Rahel und ihrer Schwester Tamara eine Kindheit mit wechselnden Stiefvätern, etlichen Umzügen kreuz und quer durch Dresden und verschiedenen Schulen beschert hatte, war wie ein Sturm auf hoher See gewesen, und obwohl auch Dorotheenfelde kein dauerhafter Hafen wurde, so hatte es hier doch immerhin heilsame Flauten gegeben.

An den Tagen in Dorotheenfelde waren Edith und Ruth unzertrennlich. Die Bindung der Freundinnen war trotz aller Gegensätze eng, und als vor ein paar Jahren der Krebs in Ediths Körper zum dritten und letzten Mal ausbrach, ist Ruth gekommen und geblieben. Bis zum Schluss.

***

Unterwegs ruft sie die Kinder an und stellt das Telefon laut. Selma hat den quengelnden Max auf dem Arm. Sein Quäken übertönt Selmas Stimme.

»Tut mir schrecklich leid, dass ihr jetzt woanders Urlaub machen müsst, Mama!«, schreit sie ins Telefon, »wenn ich heute gegen Mitternacht mal ne Minute für mich hab, bedaure ich euch.« Dann legt sie auf.

Peter beschwichtigt sofort. »Lass sie! Sie hat zwei Kleinkinder zu versorgen.«

»Sie hat einen Mann, der sich beide Beine für sie ausreißen würde.«

»Klingt, als wärst du neidisch.«

Rahel beschließt, nicht darauf einzugehen, und wählt Simons Nummer.

»Wetten, er geht nicht ran?« Peter schmunzelt. Es ist das erste Lächeln seit Tagen, und obwohl ihr der Anlass nicht gefällt, wird ihr leichter ums Herz. Nach dem dreizehnten Klingeln legt sie auf.

»Wozu hat er eigentlich ein Telefon?«, schimpft sie.

»Er wird irgendwo im Gebirge unterwegs sein.«

Rahel nickt und lässt das Telefon in ihre Tasche zurückgleiten.

 

Ruth steht in der Einfahrt. Groß, gerade und in einem tief dekolletierten Kleid, das ihren beeindruckenden Busen betont. Keine Spur von Altersschwäche, obwohl sie nun auch schon fast siebzig ist. Rahel steigt aus und geht ihr entgegen, während Peter das Auto in den Hof fährt und parkt.

Neben dem Haupthaus schließen sich links die Stallungen an, rechts eine große Scheune. Nach Kriegsende lebten Flüchtlinge hier, später beherbergte der Gutshof die örtliche LPG-Verwaltung, und danach lebten Viktor und Ruth mit zwei weiteren Familien in dem alten Haus des Verwalters – mit Ofenheizung und Plumpsklo. In den frühen 70ern war die erste Familie weggezogen, Anfang der 80er die andere.

Nach der Wende kauf‌ten Viktor und Ruth den mittlerweile halb verfallenen Hof und sanierten ihn über viele Jahre hinweg Stück für Stück. Nun beginnt er erneut zu verfallen.

Auf dem Gartentisch stehen eine Wasserkaraffe, ein Kuchenteller mit einer Insektenschutzhaube und Kaffee in einer Thermoskanne. Ruth schenkt ein und beginnt von Viktor zu erzählen. Während sie spricht, fragt sich Rahel, ob sie eines Tages in ebenso liebevoller Weise über Peter reden würde. Tiefe Verbundenheit leuchtet aus Ruths Worten, und Rahel spürt Peters Blick auf sich gerichtet.

 

Nach dem Kaffee holen sie das Gepäck aus dem Auto und folgen Ruth die Treppen hinauf. Im ersten Stock weist sie nach rechts auf ein Zimmer am Ende des Gangs.

»Am besten schlaft ihr dort, im Nordostzimmer. Es ist schön kühl darin. Oder aber …«, sie zeigt in die entgegengesetzte Richtung, »… ihr nehmt das Zimmer da hinten. Südwest, von dort sieht man den See zwischen den Bäumen durchschimmern. Aber was rede ich, ihr kennt euch ja aus.«

Dann dreht sie sich um und steigt die Treppen wieder hinunter. Ohne sich anzusehen, gehen sie auseinander – Peter nach Nordost, Rahel nach Südwest. Sie schließen ihre Türen leise.

 

Viktors Atelier liegt im vorderen Teil der Scheune, doch sie betreten es nicht. In den letzten Jahren, erzählt Ruth, seien seine Arbeiten kleiner geworden. Seine körperliche Kraft habe nachgelassen, seine handwerkliche und imaginäre keineswegs.

Die Tiere sind der schwierigste Teil. Weder Peter noch Rahel hat je mit Tieren zu tun gehabt. Nun liegt das Wohl eines Pferdes, einiger Katzen, eines Dutzends Hühner und eines flugunfähigen Weißstorchs in ihren Händen.

Sie umrunden einmal den ganzen Hof. Ein Fenster vom Stall soll immer offen bleiben, damit die Schwalben ungehindert hinein und wieder heraus fliegen können. Im Hühnergarten hinter dem Stall tragen die Apfelbäume reiche Frucht. Der Maschendrahtzaun ist hier und da notdürftig geflickt. An allen Ecken und Enden gäbe es Arbeit. Die zahlreichen Rosenstöcke an der Scheunenwand im Innenhof sind lange nicht geschnitten worden, der rankende Wein unter dem Vordach des Stalls verdorrt, drei kaputte Fenster zählt Rahel während des Rundgangs, und überall liegen Laub und dürre Äste noch aus dem letzten Jahr.

Plötzlich schaut sie schräg in den Himmel.

»Gleich sieben«, sagt sie. »Zeit fürs Abendessen.«

 

Sie essen im Innenhof an einem schön gedeckten Tisch, während die einbrechende Dunkelheit die Zeichen des Verfalls verschluckt. Es gibt Soljanka, Brot, Rotwein und Wasser, und Peter sagt in einem Augenblick höchster Zufriedenheit in breitem Sächsisch: »Eimannfrei!«

Ruth bricht in schallendes Lachen aus, von dem auch Rahel sich anstecken lässt, und beide wiederholen das Wort im Chor, Eimannfrei, und in Rahel blitzt eine Erinnerung auf.

Es ist gar nicht so lange her, zwei Jahre vielleicht, da haben sie auch hier gesessen und gelacht, mit Viktor und Ruth und Simon, und es gab Soljanka, Brot und Wein. Simon trank keinen Alkohol und, von Viktor darauf angesprochen, erklärte er den Grund. Rahel und Peter wussten es schon. Nach dem Studium der Sportwissenschaft an der Bundeswehruni wollte ihr Sohn die Aufnahmeprüfung zum Heeresbergführer machen. Etwa zwei bis drei Jahre benötigte er, um sich vorzubereiten. Klettern und Skifahren auf höchstem Niveau im unwegsamen hochalpinen Gelände bei schwierigsten

 

Manchmal ist Ruth ihr unheimlich. Als hätte sie Rahels Gedanken gelesen, fragt sie plötzlich nach Simon.

»Immer noch in München an der Bundeswehruni«, antwortet Peter.

»Er hat mich noch gar nicht zurückgerufen, unser Offiziersanwärter«, murmelt Rahel mit sorgenvollem Blick auf ihr Telefon. Dann öffnet sie den Ordner mit den Fotos, von denen die meisten ihre Kinder oder Enkel zeigen, doch Ruths Kommentare beschränken sich auf höf‌liche Floskeln. An den passenden Stellen sagt sie mit tiefer Stimme Ach ja und Wie schön und Aha, doch ihr Blick irrt

»Ihr müsst nicht mit mir aufstehen. Wir verabschieden uns jetzt, und dann ist gut«, sagt sie mit ihrer üblichen Bestimmtheit.