Für meine Mutter
Geh manchmal an unserem Haus vorbei,
denk an die Zeit, als wir noch alle da waren.
Mario Luzi
»Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen.«
Das sagt mir Moma seit sechzehn Jahren. Moma ist meine Mutter, ich nenne sie so, seit ich denken kann. Einige Zeit nach der ersten Schwangerschaft war Moma an der Gebärmutter operiert worden, Kinder könne sie jetzt keine mehr bekommen, meinten die Ärzte und schrieben es ihr auch in den Entlassungsschein, damit sie sich keinen Illusionen hingab. Vielleicht hat sie mich deshalb so geliebt, weil ihr hoffnungsloser Wunsch zu Fleisch und Blut geworden war.
Nicht, dass Moma meine Schwester nicht liebhätte. Angelica muss man einfach liebhaben. Wenn wir uns zanken, dann nur deshalb, weil sie mir ständig sagt: Tu dies, tu das. Sie denkt, sie kann mich herumkommandieren, aber ich hab gelernt, selber zu kochen und meine Klamotten zu waschen. Und ich mache das, wenn es mir in den Kram passt.
Angelica ist gut organisiert und alles andere als kleinlich. Sie drückt sich nie vor der Arbeit, im Gegenteil. Sie ist eine, die sich aufopfert. Mit Moma malte ich manchmal in der Küche – ihr großer Traum war schon seit je ein eigenes Zimmer voller Staffeleien und Leinwände – und einmal bat ich sie, unsere Familie als Tiere zu zeichnen: Moma als Pferd, Papa als Wolf, mich als Katze. Meine Schwester sollte sie als Esel darstellen, weil Angelica halt so ist, sie zieht den Karren, bis sie zusammenbricht. »Nimm dich in Acht vor denen, die sich klaglos schinden«, sagte Opa Mihai immer, »eines Tages sind sie es leid, und man sieht sie nie wieder.«
Früher mochte ich Angelica lieber, da waren wir fast immer ein Herz und eine Seele. Sie spielte, lachte, lief mit mir durch die Sonnenblumen … Und vor allem war sie einfach meine Schwester. Nachdem Moma weggegangen war, hat sie plötzlich angefangen, mich wie eine Erzieherin zu behandeln, und da ist mir irgendwann der Kragen geplatzt. »Nur weil du acht Jahre älter bist, oder was?«, habe ich sie angeschnauzt. Angelica hat nichts erwidert. Wenn sie wütend wird, verstummt sie einfach, steigt aufs Fahrrad und radelt durch die Felder, wie Moma: Sie verziehen sich lieber und machen sich woanders Luft, statt mit dir Klartext zu reden – und wenn du dich auf den Kopf stellst.
Jedenfalls ist meine Schwester störrisch wie ein Esel, womit ich aber nicht sagen will, sie hätte keinen Grips, denn sie hört viel zu und redet wenig. Wenn ich mir nicht erklären kann, warum meine Mutter sich so oder so verhält und mein Vater nichts sagt, frage ich sie, und sie kann es mir erklären, weil Angelica die Welt kapiert und weiß, wie es läuft. Bei mir ist das anders, ich bin impulsiv. Sonst wäre ich nicht in dieser Lage.
Aber der Reihe nach. An dem Morgen sind wir wie immer um sechs Uhr aufgestanden und haben dann im ganzen Haus nach Moma gesucht. Irgendwann haben wir sogar die Möbel von den Wänden gerückt, als hätten wir einen Ring oder einen Schlüsselbund verlegt. Als meinem Vater klar wurde, dass seine Frau sich davongemacht hatte, begann er, die Tür mit Tritten zu traktieren und mit den Fäusten gegen die Wand zu schlagen, während ich hinaus unter die Pergola ging und so laut ihren Namen schrie, dass es nach einer Weile sogar Papa zu viel wurde und er mir befahl, sofort aufzuhören.
»Du erkältest dich, Manuel, komm rein!«, und damit packte er mich mit seinen schwieligen Händen an den Schultern und führte mich ins Haus.
Ich sehe sie noch genau vor mir, die Hände von Filip Matei, Jahrgang 1972. Er war Arbeiter in einer Fabrik gewesen, die Schmirgelpapier herstellte, eine riesige Werkhalle am Straßenrand, und er musste gewaltige Rollen auf einen großen Eisentisch wuchten und die zehn Meter breiten Bögen aufrollen, deren Oberfläche schlimmer in die Haut stach als Nadeln. Abends setzte er sich vor den Fernseher und tauchte seine Hände in eine Schüssel mit Alkohol, weil Alkohol Schwielen macht und Schwielen schützen. »Da spürst du das Stechen nicht«, erklärte er mir, während er sie mit schmerzverzerrtem Gesicht einweichte. Die Hände meines Vaters sind einzigartig, all die Schwielen hatten ihnen das Gefühl genommen, und als er mir einmal aus Spaß in den Oberschenkel kniff, merkte er gar nicht, dass er mir wehtat.
Am Küchentisch brachten weder er noch ich ein Wort heraus. Draußen war es noch dunkel, und unsere Gesichter waren gerötet von der Kälte. Am meisten machte mich wütend, dass Moma keine Nachricht hinterlassen hatte. Wer abhaut, legt immer irgendwo ein Stück Papier mit einer Begründung hin, einer Floskel, einer Entschuldigung … Und wenn schon keinen Zettel, hätte sie wenigstens eine SMS schicken können. Aber auf dem Handy war nichts. Nur eine Nachricht von Vlad, meinem Banknachbarn in der Schule, der mich fragte, warum ich nicht im Bus war.
Angelica hatte sich schon geschminkt und die Stöckelschuhe angezogen. Ich hab immer gefunden, dass meine Schwester sich ein bisschen wie eine Nutte anzieht und dass Moma total recht hat, wenn sie sie deshalb anmacht, aber es schien mir nicht der Moment, ihr das zu sagen.
»Los, Manuel, wir gehen in die Schule«, sagte sie unvermittelt.
»In die Schule? Aber der Bus ist doch längst weg!«
»Dann kommen wir halt zur dritten Stunde.«
Normalerweise springe ich nicht auf wie ein dressierter Hund, aber die Heizung im Haus war seit einer halben Ewigkeit nicht mehr in Betrieb, und nach der Zeit draußen unter der Pergola war ich so durchgefroren, dass ich gehorsam meine Jeans und das Kapuzenshirt überzog. Geld hatten wir keins, die Schmirgelpapierfabrik hatte schon lang zugemacht, und Momas Firma zahlte die Gehälter nicht mehr. Seit einem Jahr schlugen wir uns mit den Schecks der Arbeitslosenversicherung durch.
Ich weiß nicht, warum ich an jenem Morgen auf Angelica hörte, mein Vater hätte mir ohne Weiteres erlaubt, zu Hause zu bleiben, weil er nicht die Kraft hatte, sich durchzusetzen, schon gar nicht an einem Tag wie diesem. Dafür konnte ich sicher sein, dass er am Abend sternhagelvoll wäre.
Ich verließ das Haus ohne Schal, was Moma niemals hätte durchgehen lassen: Die scannt einen besser als jeder Metalldetektor. Nach einer Weile blieb Angelica stehen und drückte mir einen Briefumschlag in die Hand.
»Da«, sagte sie, ehe ich begriff, was los war. »Lies.«
Meine Kinder, ich habe in Mailand Arbeit gefunden. Ich muss fort, damit ihr studieren könnt und anständig zu essen bekommt. Denn ich möchte, dass ihr die gleichen Chancen habt wie die anderen. Mit Papa darüber zu reden ist sinnlos, deshalb bin ich heimlich gegangen. Das ist nicht schön, ich weiß, aber wenn ich nicht sofort zugesagt hätte, hätten sie eine andere genommen. Papa und Oma Rosa werde ich jeweils Geld schicken, sie geben euch, was ihr braucht. Du, Manuel, lerne fleißig und vertraue mir. Du, Angelica, kümmere dich um deinen Vater und deinen Bruder und hasse mich nicht wegen der Opfer, um die ich dich bitte. Ich habe euch unendlich lieb. Bis bald, Mama.
Ohne ein Wort sind wir weitergegangen. An der Bushaltestelle gab ich ihr den Umschlag zurück.
»Sag mal, Angi, warum gehen wir an dem Tag, an dem wir Waisen geworden sind, überhaupt in die Schule?«
»Aber sie ist doch nicht unter den Zug gekommen!«
»Na ja, einmal im Jahr sehen, das ist schon ein bisschen wie gestorben, finde ich.«
»Sie macht das ja nicht für immer und ist bald wieder da.«
»Iacobs Mutter hat auch gesagt, sie bleibt sechs Monate, und jetzt ist sie seit zwölf Jahren in Italien. Oder die Frau, die früher den Kurzwarenladen hatte: Wenn die zu Besuch kommt, erkennt sie keiner wieder. Und weißt du noch, Georgeta …«
»Ich hab doch gesagt, es ist nur vorübergehend«, wiederholte sie und schnaubte.
»Und woher willst du das wissen?«
»Na dann weiß ich es eben nicht!«, platzte sie genervt heraus. »Jedenfalls müssen wir in die Schule und lernen, deshalb ist Mama ja weg!« Sie wedelte mit dem Brief vor meiner Nase.
»Papa hätte doch gehen können.«
»Papa …«, seufzte sie und schüttelte den Kopf wie – ein Esel, ja wirklich.
Als ihr Bus kam, winkte ich ihr vom Unterstand aus und rief sogar ihren Namen, aber Angelica hob kaum das Kinn. Sie zeigt nicht oft, dass sie einen mag, und wenn ihr mal ein nettes Wort rausrutscht oder eine Umarmung, dann nur für Papa und ganz bestimmt nicht für mich oder Moma.
Ich schleppte mich von ihrer Haltestelle zu meiner – ihr Gymnasium lag in Iaşi, meine Mittelschule in Roşcani, dem Nachbarort –, aber der Bus kam nicht. Im Winter bleibt er schon mal in den Schlaglöchern stecken und kommt dann mit einer Riesenverspätung, also hab ich mich aufgerafft und zu Fuß auf den Weg gemacht. Das war vielleicht kalt … Und ohne Schal. Ich biss in den Kragen meiner Jacke, damit mir von dem Wind nicht der Mund einfror. Während ich so am Straßenrand entlanglief, spürte ich plötzlich einen so heftigen Stich im Magen, dass ich keinen Schritt weiterkonnte. Ich hab mein Handy rausgeholt und versucht, Moma anzurufen, aber sie ist nicht drangegangen. Und die Mailbox war voll, wahrscheinlich mit Papas Verwünschungen.
Komischerweise ist mir dort, auf der nassen Straße mit den höllischen Magenkrämpfen, zum ersten Mal kein einziger vernünftiger Grund für ihr Verhalten eingefallen. Bis zu diesem Tag war alles, was Moma sagte und tat, für mich Gesetz, aber an diesem Morgen, vielleicht weil ich so impulsiv bin oder weil zwölf »ein Scheißalter ist, Liebling«, konnte ich keine Gründe finden. Also, dass sie es für uns getan hatte, verstand ich schon und auch, dass es völlig blödsinnig war, darauf zu hoffen, dass Papa eine Arbeit fand, aber warum hatte Moma mich nicht gefragt, was ich davon hielt? Hätte sie doch nichts gekostet zu fragen: Willst du mitkommen? Das dachte ich, während der Schnee unerbittlich in den Jackenkragen rieselte. Auf einmal machte es mir Angst, ihr Vorwürfe zu machen, und da die Stiche jetzt nicht mehr so schlimm waren, ging ich weiter. Besser auf den Esel hören: »Mama will, dass wir in die Schule gehen, basta!« Ich schüttelte mir den Schnee aus den Haaren, legte einen Zahn zu und bog in eine Straße ein, die am Rand schon weiß war.
Mit dreckigen Jeans und klatschnassen Strümpfen betrat ich den Klassenraum, pünktlich zur Pause. Von ein paar Kameraden schnorrte ich mir etwas Essen zusammen, ich hatte einen Mordshunger.
»Der Wecker hat nicht geschellt, hab schlecht geschlafen …«, antwortete ich denen, die mir von ihrem Pausenbrot abgaben oder einen halben Keks in die Hand drückten.
Während die Biolehrerin zum hundertsten Mal die Fotosynthese erklärte, zog ich die Strümpfe aus und legte sie zum Trocknen auf den Heizkörper. Die Lehrerin hätte es nicht mal gemerkt, wenn ich mir die Unterhose ausgezogen hätte. In der nächsten Stunde schrieben wir einen Geschichtstest, und ich hatte immer noch eiskalte Füße und einen Wahnsinnshunger.
Obwohl ich nicht wusste, ob meine SMS es bis nach Italien schafften und ob Moma sie lesen würde, hockte ich mich beim Rausgehen auf die Treppe und schrieb ihr: Hallo Moma, liest du das? Ich krieg bestimmt wieder eine tolle Note in Geschichte.
Mein Vater Filip Matei ist wirklich der unberechenbarste Mensch, den ich kenne. Ein paar Tage nach Momas Abreise kriegt er sich plötzlich ein und fängt an, das Dachgeschoss zu entrümpeln, die, seit ich auf der Welt bin, mit altem Krempel zugemüllt ist.
Eines Abends kommt er mit einem Grillhähnchen und Pommes nach Hause, teilt es in drei Portionen, legt die Tüte in die Mitte des Tischs und erklärt meiner Schwester und mir – als ob wir es nicht wüssten –, dass Moma ihm jeden Monat Geld schicken wird.
»Damit baue ich oben eine zweite Wohnung aus. Ich bau einen Balkon an, schmeiß die verfaulten Balken raus und zieh neue ein, und das Dach decke ich auch neu. Aber das ist erst der Anfang, Kinder: Ich weißele das Haus, bau einen Zaun drumrum, reinige die Tenne … Eure Mutter soll nämlich wie eine Dame wohnen, und einen Ort, wo sie in Ruhe malen kann, soll sie auch endlich haben!«, sagt er enthusiastisch, in der Hand ein Hühnerbein. Angelica und ich sitzen sprachlos da und starren ihn mit offenem Mund an.
In den nächsten Tagen schaute ich Papa genauso erstaunt zu wie früher Moma beim Malen. Er hatte sich beruhigt, schuftete in der Mansarde, und am Telefon war er freundlich zu ihr. Er zeichnete Pläne, ging auf die Gemeinde, zum Schmied, ins Farbengeschäft … wie ausgewechselt war er. Um uns kümmerte er sich nicht, das stimmt, aber nicht, weil er uns nicht gerngehabt hätte. Die Erziehung war halt schon immer Momas Sache gewesen, und die paar Mal, wenn sie nicht weitergewusst und ihn um Rat gefragt hatte, hatte er nur zurückgeknurrt: »Du wolltest sie doch immer erziehen, Daniela. Also los, erzieh sie!«
Um die Wäsche und das Essen kümmerte sich jetzt Oma Rosa. Ach ja, bevor ich’s vergesse, will ich auch etwas über sie sagen, über diese winzige Frau, die ich immer nur in schwarzer Kleidung und in Lederpantoffeln gesehen habe und mit einem Kopftuch, das die wenigen Haare bedeckte, die ihr geblieben waren.
Oma strickt und gärtnert gern, damit verbringt sie ganze Tage. Ihr Vater war Zöllner, deshalb ist sie in Nisporeni geboren, hinter der moldawischen Grenze, aber sie fühlt sich als Rumänin, so wie Opa. Wenn Gäste kommen, erzählt sie immer aus ihrer Kindheit am Ufer der Nârnova und zeigt stolz die eingerahmten Urkunden aus der Zeit, als sie in der Kartonfabrik gearbeitet hat und Opa Traktorist auf der Kolchose war. Alle in der Familie wissen auswendig, was auf diesen Urkunden steht: Danke, Genosse, für deinen Beitrag zum Aufbau der kommunistischen Gesellschaft und dass du so dafür sorgst, dass der Himmel über den Köpfen deiner Kinder blau ist. Angelica und ich sagen das jedes Mal, wenn wir uns das Salz reichen, und amüsieren uns köstlich. Dass sie uns gernhat, zeigt Oma uns, indem sie nie über Probleme redet, zum Beispiel über ihre Tochter. Moma, logisch, ist Problem Nummer eins.
Alles lief halbwegs glatt bis zum Sommer. Klar, ohne Moma fiel uns vieles schwer, aber wir haben fest auf die Zähne gebissen. Papa arbeitete in der Mansarde, Oma kümmerte sich um die Hausarbeit, damit Angelica lernen konnte, ich hielt mich wacker in der Schule, und Moma wiederholte jeden Abend das Versprechen: »Im Juli bin ich wieder da.«
Und als sie tatsächlich wieder da war – die Sonnenblumen hatten sich gerade geöffnet und bildeten eine einzige gelbe Fläche, die das Land mit Licht überflutete –, ist mir das Herz aufgegangen. Wie sie da über die Straße angefahren kam, auf dem Wagen von Marin, die Koffer im Stroh, war es wie eine Erscheinung. Ich schämte mich dafür, wie sehr ich sie umarmen wollte, ich hatte Angst, wie ein Rotzbengel dazustehen. Und ich schämte mich, ihr ins Gesicht zu sehen, während ich sie umarmte, weil ich in diese Umarmung all die Wut hineinlegte, die in meinem Körper kochte.
Papa hatte ihr zu Ehren eine Überraschungsparty organisiert, und Moma hatte uns so viele Geschenke mitgebracht, dass es wie Weihnachten war. Die leckeren italienischen Süßigkeiten hatten so tolle Verpackungen, dass ich eine noch immer im Regal aufbewahre, zusammen mit der Illy-Dose. Und dann das neue Handy, die Bluetooth-Kopfhörer, das Tablet … Es war ganz leicht, sie zu überreden, den Kram zu kaufen, man musste nur sagen: »Dann können wir besser telefonieren.«
Aber der Sommer flog vorbei wie nichts. Die Sonnenblumen beugten ihre Köpfe, von den Maisfeldern blieben nur die ausgebleichten Stoppeln, der Herbst brachte seine melancholischen grauen Wolken, die Schule fing wieder an, und wenn wir mit Moma telefonierten, war von Rückkehr nicht mehr die Rede. Ich war immer noch einer der Besten in der Klasse, ich ließ Vlad, diese Niete, abschreiben, mit meinen Freunden kam ich gut klar, und die Lehrer waren nicht übel, aber ich wollte trotzdem nicht mehr hin, um Moma zu ärgern. So eine Egoistin, sagte ich mir. Okay, sie muss sich bei dem alten Mann abrackern, aber dafür lebt sie in einer tollen Stadt und unternimmt da bestimmt wer weiß was. Wenn sie nicht mal auf die Idee kommt, mich mit nach Mailand zu nehmen, dann ist sie gar nicht so, wie ich immer gedacht habe, die blöde Kuh.
Aber das war es nicht allein, es war alles zusammen. Es war lächerlich, wie Angelica das Familienoberhaupt spielte, an manchen Tagen hätte ich ihr am liebsten eine gescheuert. Papa hatte das mit dem Umbau bald satt, morgens stand er nicht mehr auf, und wenn ich ihn wecken wollte, bevor ich in die Schule ging, brachte er nur peinliche Ausreden vor – »Um die Uhrzeit ist es zu kalt, da bindet der Zement nicht« – und drehte sich auf die andere Seite. Bis zum Abend blieb er auf dem Sofa liegen, schaute Wrestling und beklagte sich, dass er keine Arbeit fand. »Unter Ceauşescu war’s besser«, hörte ich ihn brummen. Oma Rosa war ich dankbar dafür, dass sie sich um alles kümmerte und für uns kochte – nicht umsonst war auch sie Haushälterin in Moskau gewesen –, aber oft wusste ich nicht, was ich mit ihr hätte reden sollen. Manchmal half ich ihr dabei, die Pflanzen zu gießen, weil ich auch gärtnern lernen wollte. Aber wenn ich zusammen mit ihr im Haus war, redete ich meistens mit der Katze. Jedenfalls fühlte ich mich komisch, schräg drauf, mit einem Wort: allein. Ich hatte keine Lust mehr, mit meinen Freunden nach draußen zu gehen oder mit dem Fahrrad zum See zu fahren, alles, was mir bis vor kurzem noch Spaß gemacht hatte, fand ich jetzt nur noch öde. Wenn ein Freund mich fragte, ob wir rausgehen, oder mich zum Fußballspielen abholen wollte, sagte ich, ich hätte zu tun. Ich wusste, dass früher oder später keiner mehr kommen würde, aber ich schaffte es nicht, anders zu reagieren.
Nur bei Opa Mihai fühlte ich mich wohl. Es gefiel mir, im Garten zu erledigen, was er mir auftrug: Unkraut jäten, kleine Löcher stechen und Tomatensamen hineinlegen, die Erde wässern. Oder ich verkroch mich im Waggon. Kein Witz, im Garten von Opa Mihai stand wirklich ein alter Eisenbahnwaggon, den er irgendwann mal für wenig Geld im Bahnhofdepot gekauft hatte. Wenn ich früher als kleiner Junge keine Lust auf Mittagessen hatte, habe ich mich immer dort versteckt. Dort verstaute er alles, Rechen und Astscheren, Blechdosen und Tresterflaschen, und in einer Ecke stapelweise alte Journale aus Sowjetzeiten.
»Möchtest du wieder Kind sein?«
»Verkriechst du dich denn nie hier?«
»Seit ich vor vielen Jahren deiner Oma geschworen habe, mit dem Rauchen aufzuhören, komme ich manchmal auf eine Zigarette her …«
Opa merkte, dass etwas nicht stimmte. Anders als meine Schwester, die mich nur rumkommandieren wollte, oder meine Mutter, die mich ausfragte, oder mein Vater, der gar nicht mitbekam, dass es mich auch noch gab, war er mir nah, ohne mich die Last meiner Niedergeschlagenheit spüren zu lassen. Manchmal versuchte er herauszubekommen, was mich beschäftigte, aber ganz beiläufig, während er die Hecke stutzte.
»Was möchtest du eigentlich später mal werden?«, fragte er mich. Wenn ich nur die Achseln zuckte, ließ er es damit bewenden, bis er nach einer Weile wieder fragte: »Komm schon, Junge, alle wollen etwas werden.« Und dann, während ich Äste und Blätter vom Boden auflas, um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen, gestand ich, dass ich keinen Bock mehr auf Schule hatte. Oder dass ich mir wünschte, Moma käme zurück oder nähme mich beim nächsten Mal mit. Dann schaute Opa Mihai in den Himmel und dachte eine Weile darüber nach, bevor er sagte: »Dann müssen wir einen Weg finden.«
Jedenfalls bin ich weiter zur Schule gegangen, auch wenn sie mich langweilte und nervte und mir bis hier stand. Ein weiteres Jahr bin ich über die Schotterstraße gegangen und dann in den Pfad nach Roşcani eingebogen. Mit dem Bus fuhr ich nicht mehr, ich stand früh auf und ging zu Fuß. Opa fand das gut: »Im Gehen löst man Probleme«, sagte er immer. Unterwegs, die Kopfhörer auf, dachte ich an Moma, wie es ihr ging und was sie machte. Wäre sie hier gewesen, hätte ich vielleicht gar nicht mit ihr gesprochen, bestimmt hätten wir uns trotzdem gestritten, aber es wäre einfach was ganz anderes gewesen. Im Leben geht es nur darum, einander nah zu sein, wie bei den Kaninchen im Stall, wenn’s draußen friert.
Zu Hause hieß es die ganze Zeit nur: »Das hat sie für uns getan«, »Wir sollten ihr dankbar sein«, »Was sie alles auf sich nimmt für die Familie« … Mich überzeugte das kein bisschen. Und wenn mein Vater Sachen sagte wie: »Sie wischt den Alten den Arsch ab, damit du studieren kannst«, hätte ich ihm am liebsten geantwortet: und damit du dich auf dem Sofa mit Bier volllaufen lassen kannst.
Ich hasste unseren Austausch über Sprachnachrichten, die ich auf dem Weg zur Schule hörte, und über Videocall nach dem Abendessen. Weil Moma in diesen abendlichen Telefongesprächen nämlich hunderttausendmal die gleichen Fragen stellte und so Sachen sagte wie: »Sag bloß, dir wächst schon ein Bart«, »Du siehst blass aus« oder »Wieso trägst du so einen Pulli zu deiner dunklen Hose?« Es ist wirklich kein Spaß, sich jeden Tag derartige Gespräche antun zu müssen. Klar, sie machte das, weil sie alles unter Kontrolle haben wollte, aber wer in ein anderes Land geht, muss sich damit abfinden, nicht zu wissen, ob meine Socken zum Schal passen! Und weil sie außerdem von sich nie was erzählte – »Ja ja, hier alles okay«, sagte sie mit einem aufgesetzten Lächeln –, gingen mir diese Anrufe irgendwann einfach nur noch auf den Sack. Zumal keiner von uns gern telefoniert. Papa hat noch heute Mühe dranzugehen, und wenn er einen am nächsten Tag zurückruft, ist das schon sensationell. Angelica und ich chatten lieber, wir reden nicht gern. Keiner von unseren Freunden redet gern. Und deshalb ging ich bei Moma nur dran, weil ich keine Lust auf die ständigen Standpauken meiner Schwester hatte. Aber auf die Dauer war es so anstrengend, dass ich kein Wort mehr rausbrachte, nur ab und zu ein Schnauben oder ein Ja oder Nein. Bestimmt war es nicht nur für mich eine Qual, auch für sie müssen die Telefonate mit ihrem Sohn mühselig gewesen sein.
Aber das Schlimmste war, dass Moma mir alles durchgehen ließ. Und als ich merkte, dass ich keinen Rüffel zu erwarten hatte, wurde ich erst recht einsilbig. Um geliebt zu werden, zwang ich mich, sie zu hassen. Ausgerechnet sie, die immer alles ausdiskutieren wollte, damit es keine Missverständnisse gab: »Solange das nicht geklärt ist, wird nirgendwo hingegangen!«, sagte sie immer. Und das hat sie ernstgemeint, früher. Bevor man sich nicht einig war, durfte man nicht vom Tisch aufstehen, es war verboten, aufs Handy zu schauen, nicht mal pinkeln gehen durfte man! Das Gegenteil von meinem Vater, der zuschlug oder in die Kneipe ging. Wenn Moma sich die Kehle heiser schrie, um sich zu erklären und eine Lösung zu finden, blieb Papa mit verschränkten Armen und zornig bebenden Nasenflügeln auf dem Sofa sitzen, bis er irgendwann plötzlich aufsprang und die Tür hinter sich zuwarf. Zwischen dem Zuschlagen der Tür und dem Geräusch der alten Dyane, die in einer Wolke aus Staub und Wut davonfuhr, vergingen genau acht Sekunden.
Ich muss gestehen, ich bin wie Papa. Vielleicht nicht ganz genau gleich, aber ich komme gut mit den Leuten aus, solange ich mich verstanden fühle, wenn nicht, dann können sie mich mal. Genau das ist zwischen Moma und mir passiert: Wir haben das Handtuch geschmissen. Die Zeit, in der wir bei laufendem Autoradio und mit heruntergekurbelten Fenstern Besorgungen machten, die Abende, an denen wir vor dem Fernseher saßen und Serien guckten, oder die Sonntagnachmittage, wenn sie sich neben mich setzte und mit mir Hausaufgaben machte, all das würde nicht mehr wiederkommen. Jetzt sah man selbst über das Handydisplay nur noch die Enttäuschung im Gesicht des anderen. Ein unbekanntes Schweigen drückte uns nieder, und ich wusste weder ein noch aus.
Unterdessen hatte meine Schwester Abitur gemacht und sich an der Uni für Architektur eingeschrieben. Um uns nicht allein zu lassen, fuhr sie immer zwischen zu Hause und Iaşi hin und her, vielleicht war es auch Moma, die sie dazu nötigte. Die Kurse gingen bis fünf, und Angelica kam immer mit dem Bus, der ewig Verspätung hatte. Sie schaffte es kaum noch zu lernen und war mürrisch geworden. Befehle erteilte sie keine mehr, sie machte alles selbst: wärmte das Essen auf, das Oma vorbeibrachte, stellte einem den Teller hin – wie einem Hund seinen Napf – und ging die Wäsche aufhängen. Die nervliche Verfassung eines Menschen kann man, finde ich, gut daran messen, wie er die Schubladen schließt: Meine Schwester knallte sie sehr laut zu.
Mit Moma redete ich inzwischen nur noch, wenn Angelica mir ihr Handy reichte. Wenn sie ausnahmsweise mal auf meinem anrief, baute sie gleich vor: »Ich störe, oder?«, »Hast du Lust, dich ein bisschen zu unterhalten?«, »Soll ich später anrufen?« Ich antwortete mit Gegenfragen. Sie: »Alles in Ordnung mit Oma und Opa?« Ich: »Schickst du mir ein Nike-Shirt?« Sie klang müde, hatte tiefblaue Ränder unter den Augen, doch ich sagte nichts dazu, weil man auf einem Display nie die Wahrheit erkennt. Aber das Erstaunlichste an den Telefonaten waren diese absurden Sätze, die mit einer Überzeugung ausgesprochen wurden, die ich völlig übertrieben fand: »Noch maximal ein Jahr, dann höre ich mit dieser Arbeit auf«, »Mailand ist schön, aber in Rădeni lebt man besser«, »Ich wette, auf dem Gymnasium wird’s dir unheimlich gut gefallen.« Sie verstieg sich sogar zu der Aussage, wenn Angelica einmal heirate, könne sie doch zusammen mit ihrem Mann in die obere Wohnung ziehen.
»Und weißt du, was? Wir kaufen ein Stück Land dazu und bauen auch ein Haus für dich, dann leben wir alle zusammen, was hältst du davon?«
Ich weiß nicht, ob ich sie eher lächerlich oder bemitleidenswert fand. Das war jedenfalls nicht Moma, die da sprach. Glaubte sie wirklich, Papa würde sich weiter ein Bein ausreißen, nachdem er gerade mal eine Wand aus Gipskarton hochgezogen und ein bisschen alten Krempel weggeschmissen hatte? Das Baugerüst? Nie aufgestellt. Das Dachblech? Immer noch an Ort und Stelle, wo es im Wind schepperte.
Wenn sie so daherplapperte, ließ ich sie einfach reden. Deshalb erfuhr sie es von Angelica: Eines Abends rief meine Schwester sie an und berichtete ihr, Papa sei weg. Er hatte eine Anstellung als Lastwagenfahrer gefunden und musste in Polen und Russland mit einem fünfzehn Meter langen LKW Waren von A nach B transportieren. Erst war Moma wie versteinert, und als sie schrie, das hätten wir ihr sofort sagen müssen, schrie Angelica noch lauter zurück: »Er hat’s uns wenigstens vorher gesagt!«, und drückte sie einfach weg.
An den Tag, als Papa fortging, erinnere ich mich noch gut, alles ging ganz schnell. Nachdem die alte Dyane in einer Staubwolke auf die Asphaltstraße eingebogen war, sagte ich nur: »Minus zwei«, und ging zurück ins Haus.
An jenem Morgen fuhr Angelica nicht in die Uni, sie setzte sich zum Lernen in die Küche. Gegen Mittag brachte Oma uns einen Teller überbackenes Gemüse. Meine Schwester und ich setzten uns einander gegenüber an den Tisch und aßen still. Ohne Papa blieb der Fernseher aus.
»Sollen wir hochgehen und es uns mal anschauen?«, fragte ich und schob den Teller weg.
»Okay«, antwortete sie lustlos.
Die Tür rostete vor sich hin. Drinnen lag Werkzeug herum, Stapel von Ziegeln, Mörtelsäcke, und aus dem ausgebauten Fenster – das mit einer Plastikplane abgedeckt war – kam eine fiese Kälte herein. Marmeladengläser, Kleider und Kinderspielsachen … alles auf einem Haufen, wie Abfall. Der Bauschutt knirschte unter den Füßen, als würde man über Zucker laufen. Hätte Moma diesen Trümmerhaufen zu Gesicht bekommen, sie wäre ausgerastet, Ehrenwort. So, voller Staub und Spinnweben, war die Mansarde ein prima Sinnbild für geplatzte Träume und, natürlich, Familien. Dass Papa sich nun aus dem Staub gemacht hatte, kam auch nicht ganz aus heiterem Himmel, es war nur der Grabstein auf einer Ehe, die schon seit Jahren am Ende war, lange bevor Moma tat, was Dutzende Mütter aus Rădeni und den umliegenden Dörfern vor ihr getan hatten.
Wir durchwühlten Tüten und Kartons. Ich fand das Damespiel wieder, Angelica die Fotoalben. Das Foto, das ich seither in meiner Brieftasche trage, habe ich hier gefunden: Es zeigt mich und Moma auf der Motorhaube der Dyane, die wir soeben vom Händler abgeholt haben. Ich bin vielleicht sieben, Moma ist bildschön, mit langem Haar, einem roten Mantel und einem Arm um meine Windjacke, um mich warm zu halten. Ich bin glücklich, man sieht es an meinem Zahnlücken-Lächeln.
Angelica, die wie ich auf dem dreckigen Boden saß, reichte mir ein anderes verblasstes Foto, wieder ich mit Moma. Auf der Rückseite eine Notiz in ihrer ordentlichen Handschrift: Salzkorn, 2003. Noch heute nennt sie mich manchmal so.
Plötzlich hörte ich meine Schwester schniefen.
»Was ist?«
»Ich hab’s satt.«
»Was denn?«
»Alles!«
»Und ich alle«, antwortete ich und verzog die Mundwinkel nach unten, woraufhin sie lachen musste, obwohl ihr Tränen in den Augen standen.
Meine erste Zigarette habe ich zusammen mit ihr geraucht, dort in der Mansarde, in der eiskalten Zugluft, die unter der Tür hindurch kam, dem Wind, der die Plastikplane ausbeulte.
»Das Spiel geht so«, hatte er mir erklärt. »Bevor du wirfst, musst du dir was wünschen. Wenn du es schaffst, ihn zu fangen, dann gibt es Chancen und Möglichkeiten.«
»Und wenn ich es nicht schaffe?«
»Wünschst du dir was anderes oder übst noch ein bisschen.«
Ich reichte den Bumerang Angelica. »Weißt du noch? Du warst auch ziemlich gut darin.«
Sie nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn eine Weile und nickte, dann gingen wir nach unten. Wenn es nicht schon dunkel gewesen wäre, wären wir auf die Straße gegangen und hätten ihn geworfen.