Wo sich der Rhein nach einem Rechtsknick in die oberrheinische Tiefebene ergießt, sitzt oben auf der Pfalz eine zweitausend Jahre alte Eule, die Basilea heißt. Sie hockt auf dem Chordach des ehemaligen Heinrichsmünsters, das gestützt wird von fantastischen Steinelefanten, die der uralten Handschrift des Hortus Deliciarum nachempfunden sind. Sie schaut über den Fluss ins Kleinbasel hinüber, auf den Schwarzwald dahinter. Nur selten ruckt sie mit dem Kopf nach links Richtung Vogesen, dann nach rechts Richtung Jura.
Sonst bewegt sie sich kaum. Sie scheint zu schlafen. Manchmal, in seltenen Vollmondnächten, lässt sie sich fallen und gleitet auf leisen Schwingen rheinwärts bis nach Birsfelden. Dort kehrt sie um, denn das Baselbiet ist ihr nicht mehr geheuer.
Sie fliegt nordwärts bis zu den Schleusen von Kembs, dem Sog der Tiefebene folgend. Aber bei den hell beleuchteten Schleusentürmen macht sie kehrt, weil sie Heimweh hat. Am liebsten sitzt sie daheim auf dem Münsterdach und spielt den versteinerten Vogel, kaum wahrnehmbar auf dem hellroten Sandstein. Den scharfen Schnabel versteckt sie im Gefieder. Den packt sie nur einmal aus im Jahr, an den drei Tagen der Fasnacht. Dann hört die ganze Schweiz zu, wie sie ihre kunstvoll gepfefferten Spottverse in den Äther krächzt.
Basel ist eine geheimnisvolle, heimliche Stadt. Es ist eine Stadt dazwischen. Zwischen Schwarzwald, Elsass und der Schweiz. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und zwischen Spott und Melancholie.
Es ist die eigentümlichste, unbekannteste Stadt der Deutschschweiz, die zwar 1501 der Eidgenossenschaft beigetreten ist, weil sie sich dadurch militärischen Schutz versprach. Aber richtig eingeschweizert hat sie sich nie. Die Schweizer Kultur ist eine Bauernkultur. Basel hingegen ist eine alte, durch und durch urbane Reichsstadt.
Der erste Bischof, mit Sitz im benachbarten Kaiseraugst, ist aus dem 4. Jahrhundert bezeugt. Im Jahre 740 ist einer seiner Nachfolger nach Basel umgezogen. Außerhalb der Mauern, im St.-Alban-Tal, wurde 1083 Basels erstes Kloster gegründet, dessen Kreuzgang noch heute zu besichtigen ist. Ein mittelalterliches Sprichwort besagt, dass von den rheinischen Bistümern Konstanz das größte sei, Köln das heiligste, Straßburg das edelste und Basel das lustigste.
Die Basler sind keine Kriegsgurgeln. Die Stadt hat ihren Erfolg nie ihrer militärischen Macht verdankt wie etwa die alten Orte der Innerschweiz oder Bern. Sie hat lieber verhandelt als dreingeschlagen. Was ihr die Nachfahren der alten Eidgenossen, die Habsburg und Karl den Kühnen besiegten, noch heute heimlich vorwerfen. Aber Hauen und Stechen muss ja nicht unbedingt ein Zeichen von Intelligenz sein. Mit schlauer Diplomatie ist möglicherweise mehr zu erreichen. Basel ist jedenfalls im Laufe seiner stolzen Geschichte nie besetzt und geplündert worden, sieht man vom Überfall der Magyaren im Jahre 917 einmal ab. Davon zeugt ein mächtiger Steinsarg, der im Münster liegt. »Von den Ungarn erschlagen« steht drauf.
Es war denn auch der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein, der im Westfälischen Frieden von 1648 erreicht hat, »dass die Stadt Basel und die übrigen Schweizer Kantone im Besitze völliger Freiheit und dem Reich und seinen Gerichten in keiner Weise unterworfen seien«, wie es im Vertrag heißt.
Als im Jahre 1833 die baselländischen Untertanen aufmuckten und sich als freie Schweizer selbst regieren wollten, probierten es die Baselstädter doch mit Waffen. Es bekam ihnen schlecht. Nach einem kurzen Gefecht rannten sie in panischer Angst zurück in ihre Mauern. 65 von ihnen blieben tot zurück. Seitdem gibt es die beiden Halbkantone Baselland und Baselstadt. Und noch heute ist zwischen den beiden nicht immer gut Kirschen essen.
Basel ist eine Stadt ohne Land (außer den beiden rechtsrheinischen Gemeinden Riehen und Bettingen). Die Basler gelten als hochnäsig, schlau und geldgierig. In Franz Schnyders Gotthelf-Filmen wird der Bösewicht aus der Stadt stets von einem Basler gespielt.
Basel hat ein schlechtes Image in der Eidgenossenschaft. Hier wird weder gehornusst noch geschwungen. Gejodelt wird bloß von den Auswärtigen. Und in den heimischen Gassen wird ein Idiom gekrächzt, dass es den Herrgott graust. Und das sollen echte Schweizer sein?
Das liebste Hobby des Baslers ist das Geldverdienen. Sein zweitliebstes sind Kultur und Kunst.
Basel ist ein wirtschaftliches Erfolgsmodell. Hier stand der erste Bahnhof auf Schweizer Boden, der die Stadt mit Straßburg verband. Dank der Seidenbandindustrie, für welche die Posamenter im Baselbiet arbeiteten, gab es eine Nachfrage nach Färbemitteln. Daraus entstand die chemische Industrie, der Basel heute seinen Reichtum verdankt.
Basel ist EU-freundlich. Das hat nichts mit Verrat der vaterländischen Werte zu tun, sondern mit Vernunft. In der oberrheinischen Region entsteht eine EU im Kleinen. Basel hat gar keine andere Wahl, als mitzumachen. Die Landesgrenzen werden hier als Anachronismus verstanden. Hier wächst tatsächlich ein Gebiet zusammen, das zusammengehört. Zehntausende Arbeitnehmer aus dem Elsass und dem Markgräflerland, sogenannte Grenzgänger, fahren jeden Tag in die Nordwestschweiz zur Arbeit. Im Allgemeinen kommt man gut aus miteinander. Man redet schließlich einen ähnlichen Dialekt. Eine Phobie gegen Deutsche gibt es hier nicht. Man lebt schon so lange zusammen, dass man sich aneinander gewöhnt hat. Übrigens sind auch Elsässer und Markgräfler froh, dass sie in Basel so reden können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die Nordwestschweiz hilft ihnen, ihren Dialekt zu behalten.
Ein Teil des Geldes, das Basel verdient, wird in die Kultur gesteckt, jährlich mehr als hundert Millionen. Es gibt hier das Kulturangebot einer Großstadt. Und was in den Museen hängt, ist Weltklasse.
Die Geschichte der Fondation Beyeler etwa ist ein Märchen, wie es nur in Basel wahr werden kann. Da hat es ein unbemittelter Galeristenlehrling fertiggebracht, einen Banker zu überzeugen, ihm Geld zu leihen, damit er Bilder kaufen konnte. Als er 2010 starb, besaß Ernst Beyeler eine Kunstsammlung allerersten Ranges. Die Ausstellungen in der Fondation Beyeler sind so gut wie im Centre Pompidou. Und das alles findet in einem Dorf namens Riehen statt.
Das Sammeln von Kunst hat Tradition in Basel. Bereits 1661 kaufte die Stadt das Amerbach-Kabinett auf, womit sie eine der ältesten öffentlichen Kunstsammlungen besitzt.
Die Basler waren schon immer kühle Rechner, die ein Faible für gute Bilder hatten. Das Produzieren von Kunst interessiert sie nicht, das überlassen sie den Auswärtigen. Sie selber interessieren sich bloß für das Produkt. Deshalb nahm man hier seit je besonders gern Menschen auf, die »rych oder kunstrych« waren, wie es in einem Fremdenerlass von 1546 heißt.
Um 1500 war Basel eine Druckerstadt, offen und tolerant. Hier hat Erasmus von Rotterdam zum ersten Mal die griechische Originalfassung des Neuen Testaments gedruckt herausgegeben. Hier erschienen die lateinische Fassung des Korans und der Bestseller Das Narrenschiff des Elsässers Sebastian Brant.
Heute kann von einer Druckerstadt nicht mehr die Rede sein. Das gedruckte Wort hat in Basel kein Brot mehr. Es gibt fast keine erzählende Literatur aus dieser Stadt. Die großen Autoren des 19. Jahrhundert hießen hier nicht Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf, sondern Jacob Burckhardt und Johann Jakob Bachofen: Es waren Geisteswissenschaftler. Romane hält man am Rheinknie für überflüssiges Zeug, das nichts einbringt. Und wenn man Lust auf Poesie hat, macht man halt selber ein paar Schnitzelbänke.
Die großen Verlage für Zeitungen und neue Literatur sind alle in Zürich. Radio und Fernsehen auch. Auch die Basler Zeitung gehört heute dem Zürcher Tamedia-Konzern. Als ob in Basel kein Geld vorhanden wäre, um das Lokalblatt selber zu bezahlen.
Offenbar ist es den Baslern egal, wer über sie berichtet. Und ob überhaupt berichtet wird. Sie genügen sich selbst. So kommt es, dass in den Zeitungen fast nichts über die Stadt am Rheinknie zu lesen und im Fernsehen fast nichts zu sehen ist. Die Redaktionen sitzen alle in Zürich, deshalb berichten sie über Zürich. Wenn in Basel die Post abgeht, interessiert sie das nicht. Viel lieber berichten sie über den Deutschenhass der Schweizer. Worüber der Basler nur lachen kann.
Eine seltsame Stadt, wie gesagt. Eine Stadt, die sich der Öffentlichkeit verweigert. Ein großes Dorf, in dem man sich zwar kennt, aber dem Fremden gegenüber eigenartig reserviert bleibt. Man gibt nichts preis von sich, man macht höchstens einen spöttischen Spruch.
Man zeigt sich nicht oder höchstens hinter einer Larve. Man tanzt nicht in den schönen alten Gassen – höchstens an der Fasnacht, dann aber im militärischen Gleichschritt.
Für einen Aargauer, wie ich einer bin, ist es manchmal kalt hier. Dann bin ich froh, ins Elsass oder in den Schwarzwald abhauen zu können. Dort wohnen Leute wie ich.
Es klebt offenbar ein Stallgeruch an mir, den ich selber nicht wahrnehmen kann. Aber der Basler wittert ihn sogleich. Das stört manchmal, das eckt an. Denn einem Bauern gegenüber versagt des Baslers Diplomatie. Er wird unsicher, er ahnt urchiges Brauchtum, urtümliche Kraft, wo bloß Neugier ist. Und er antwortet mit Ironie.
Ich wohne schon über fünfzig Jahre hier. Ich bin noch immer ein Fremder. Dieses Fremdsein hat indessen enorme Vorteile. Man lässt mich in Ruhe, so dass ich mich vogelfrei fühle. Das schafft die Distanz, die ich zum Schreiben brauche.
Wer auf der Autobahn durch Basel fährt, sieht nichts außer einer Betonröhre. Die bringt man in zehn Minuten hinter sich. Wer durch Basel schwimmt, sieht eine der schönsten Städte Europas. Man steigt oben beim Birskopf ein, an einem schönen Gestade. Man legt sich auf den Rücken und lässt sich treiben, die Ohren unter Wasser, damit man das Rieseln der Kiesel auf dem Grund hört. Begleitet von dieser zauberhaften Musik, schaut man zu, wie die Stadt an einem vorbeigleitet. Links die Kirche St. Alban, die noch aus karolingischer Zeit stammt. Rechts die niedere Häuserfront Kleinbasels. Wieder links die Pfalz mit dem romanischen Münsterchor. Die stolzen Paläste der Augustinergasse, die alte Universität, darüber die Martinskirche. Dann unter der Mittleren Brücke durch, wo Leute stehen und winken. Und schon wittert man die Weite der Tiefebene.
Man kann im Rheinbad St. Johann bequem an Land gehen, einen Kaffee trinken und etwas essen. Man kann sich auch weitertreiben lassen Richtung Meer.
Manchmal in einer Mondnacht ist auf dem Dach des Münsters tatsächlich eine Eule zu sehen. Sie ist kaum zu erkennen, das Licht ist zu schwach. Ihr macht das nichts aus, sie sieht auch in der Dunkelheit. Sie äugt zum Wasser hinunter. Und gleich wird sie losfliegen, vielleicht.
Eines Tages langweilte sich Gott der Herr fast zu Tode. Und er beschloss, sich zur Kurzweil eine Erde zu schaffen. Er machte sich flugs an die Arbeit und schuf zuerst einmal Himmel und Erde. Er sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht, so dass er sah, was er da geschaffen hatte. Es kam ihm wüst und elend vor, weshalb er das Nasse vom Trockenen trennte. Um das Land ein bisschen aufzuhellen, ließ er Kraut und Bäume wachsen. Und um Abwechslung in sein Werk zu bringen, schuf er Sonne und Mond, damit es Tag und Nacht wurde. Dann machte er Fische, Vögel und Landgetier und zuletzt Adam und Eva im Paradies.
Als er dies alles getan hatte, gedachte er, sich ein bisschen auszuruhen und sein Werk zu feiern. Es war alles wohlgeraten. Die Fische schwammen, die Vögel flogen, die Schweine grunzten und suhlten sich im übriggebliebenen Schlamm. Nur Adam und Eva wussten nicht recht, was tun. Sie standen nackt da, hielten sich an den Händen und fragten sich, ob sie vielleicht tanzen sollten. Da keine Musik da war, ließen sie es bleiben.
Da beschloss Gott, sich dem Menschenpaar zu offenbaren. Er zog ein schwarzseidenes Gewand an, das ihm fast bis zu den Füßen reichte, so dass seine roten Schühlein darunter hervorschauten. So trat er vor Adam und Eva, freundlich lächelnd. Die erschraken zuerst, sie waren noch nie jemandem begegnet außer sich selbst.
Aber dann musste Eva lachen, sie fand den Alten zu komisch. Da Lachen bekanntlich ansteckend wirkt, prustete auch Adam los. Sogar die Schlange, die sich um ein Bäumlein geringelt hatte, um die Sonne zu genießen, wurde von Gelächter gepackt, so dass sie zu Boden fiel und sich dort vor Lachen krümmte.
Es war dies das erste Gelächter in der Schöpfungsgeschichte. Und noch heute streiten sich die Theologen darüber, ob es ein boshaftes Auslachen war oder ein freudiges Erkenntnislachen.
Gott dem Herrn fuhr dieses Gelächter jedenfalls bös ins alte Gebein. Denn Lachen im Paradies war nicht vorgesehen. Er hatte es extra verboten und eine Tafel hingehängt mit der Aufschrift: »Es gibt keinen Grund zum Lachen!«. Aber er hatte nicht daran gedacht, dass Adam und Eva noch nicht lesen konnten.
Nun erkannte er, dass das Gelächter ihm selber galt. Ihm, dem Schöpfer vom Paradies und Adam und Eva. Was für eine Undankbarkeit! Das ertrug er nicht. Tief beleidigt machte er sich davon und versteckte sich in einer dunklen Höhle, wo kein Sonnenlicht hinscheint. Dort grollt er noch immer.
Vorn an der Kreuzung steht auf einem eigens dafür ausgesparten Fleck ein Brunnen. Sein Trog ist aus weißem Muschelkalk gehauen. Wasser plätschert hinein, einwandfreies Trinkwasser. Ununterbrochen, am Tag, in der Nacht. Daneben sind drei Bänke für müde Wanderer, damit sie sich aus dem Brunnen laben und ausruhen können. Darüber des Geäst einer Platane, kahl. Es ist Winter, einzelne Schneeflocken fallen herab.
Auf einer der Bänke sitzt ein junger Mann, auf dem Kopf eine rote Mütze. Er sitzt allein da. Er schaut irgendwohin, vielleicht auf den Brunnen, ich weiß es nicht. Mich, der ich an ihm vorbeigehe und mich frage, ob ich ihn grüßen soll, scheint er nicht wahrzunehmen. Sein Blick ist seltsam leer, ermüdet, desillusioniert. Diese Augen haben die Hoffnung aufgegeben, gegrüßt oder sogar angelächelt zu werden.
Der Mann scheint dem Plätschern des Brunnens zuzuhören, als lausche er einer Erinnerung. Er kommt aus der Fremde, aus dem Nahen Osten, Syrien vielleicht. Ein Flüchtling wohl, der sich auf einer öffentlichen Bank ausruht. Ich gehe an ihm vorbei, ohne zu grüßen.
Ein Dorf kommt mir in den Sinn, irgendwo in der Türkei. Wir waren unterwegs in einem Mietauto. Eine Landschaft wie in der Bibel. Links sumpfiges Wasser, in dem Störche standen. Rechts lichter Wald, parkähnlich. Niedere Bäume, etwas wie Steineichen. Der Boden bedeckt mit Anemonen, roten, blauen. Eine unglaubliche Schönheit. Man hätte sich nicht gewundert, wenn der junge David aufgetaucht wäre mit seinen Ziegen und Schafen auf dem Weg zum nächsten Brunnen, um die Tiere zu tränken.
Wir fuhren in eine Ortschaft, mitten auf den Dorfplatz. Einstöckige Häuser ringsum, mit Tischen davor. Daran saßen alte Männer und tranken Tee. Sie schauten erstaunt auf das heranfahrende Auto, sie wunderten sich, wer da komme. Ein Fremder wohl, den es zu bewillkommnen galt. Bestimmt hatten sie unser Auto als Mietwagen erkannt. Und es kamen selten Touristen ins Dorf.
Sie näherten sich, neugierig lächelnd. Es war klar, was sie im Sinne hatten. Den fremden Gast begrüßen, ausfragen, woher er komme, wohin er wolle. Vielleicht konnten einige Deutsch, weil sie in der Schweiz oder in Deutschland gearbeitet hatten. Bestimmt hätte einer »Chuchichäschtli« gesagt, und alle hätten gelacht und sich gefreut über die Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg. Womöglich hätten sie ein Lamm geschlachtet, ein Fest gemacht. Die Leier geschlagen, die Zimbel. Ein paar Rakis getrunken zu Ehren der Gäste.
Mich packte eine Art Panik, die Panik vor fremder, fordernder Gastfreundschaft. Es war klar, dass wir von hier nicht mehr ohne weiteres wegkämen, wenn wir ausstiegen.
Ich wendete das Auto und fuhr aus dem Dorf, ohne auszusteigen, im Rückspiegel die enttäuschten Gesichter. Diese Geschichte ist mir in den Sinn gekommen, als ich am fremden Mann vorbeiging. Und ich beschloss, das nächste Mal freundlich zu grüßen.
Ich wohne an der Mittleren Straße in Basel. Eine gute Wohnlage. Man ist schnell in der Innenstadt, am Rhein unten und im Elsass. Es gibt zwei Einkaufscenter in der Nähe, eine Post- und eine Bankfiliale. Es gibt ein Altersheim mit dem Café Oldsmobile, das öffentlich zugänglich ist, und mehrere Wirtschaften. Es ist für alle bestens gesorgt.
Es wohnen viele alte Menschen an dieser Straße. Alleinstehende Leute, Witwen und Witwer, die noch immer in ihren Dreizimmerwohnungen leben. Ich kenne sie vom Sehen, wenn sie einkaufen gehen. Ihre Namen kenne ich nicht. Die Wahrheit ist, dass ich nicht einmal die Namen der Nachbarn in den Häusern nebenan weiß.
Wenn ich in die Bank gehe, stelle ich mich in die Schlange und warte, bis ich an der Reihe bin. Niemand sagt ein Wort. Man redet nicht miteinander in einer Bank. Es geht schließlich um Geld, und Geld ist Privatsache. Dann trete ich zum Schalter und rede ein paar Worte mit der Frau, die mich bedient. Sie ist freundlich und neugierig, sie hätte bestimmt nichts gegen einen Schwatz. Aber das geht nicht, denn Zeit ist Geld.
In der Postfiliale ziehe ich eine Nummer. Ich muss warten, bis diese Nummer aufleuchtet. Ich warte in der Schlange, wir alle schweigen. Dann trete ich zum Schalter und sage der Frau hinter dem Panzerglas, dass ich ein Buch verschicken wolle. Die Frau öffnet das Panzerglas einen Spalt weit, so dass ich das eingepackte Buch hindurchschieben kann. Sie ist im Prinzip freundlich, aber gestresst. Denn es warten weitere Kunden in der Schlange.
Im Einkaufscenter stelle ich mich mit dem Einkaufskorb in die Schlange vor der Kasse. Niemand sagt ein Wort, man kennt sich ja nicht. Und die Frau an der Kasse kennt ihre Kunden nicht. Bestimmt möchte sie freundlich sein und ein paar Worte wechseln. Sie hat keine Zeit dazu, sie ist nur noch gestresst.
Es geht uns gut, so gut wie noch nie. Es gibt zehn Sorten Brot und zwanzig Sorten Joghurt. Man kann für wenig Geld auf eine wunderschöne Insel im Atlantik fliegen. Aber niemand scheint sich darüber zu freuen, niemand sagt ein Wort. Außer den Jungen vielleicht, die ihr Handy am Ohr haben.
Ich sehe die alten Menschen über die Straße gehen, Leute wie ich. Viele sind noch rüstig, sie halten sich wacker auf den Beinen. Einige führen einen kleinen Hund an der Leine und reden dauernd auf ihn ein. Andere schieben einen Rollator vor sich her. Sie gehen ein paar Schritte. Dann bleiben sie stehen, um Atem zu schöpfen.
Ich möchte wissen, was in ihren Köpfen vorgeht. Wie sie leben, ob sie schöne Erinnerungen an früher haben. Ich könnte sie zum Beispiel ins Café an der Ecke vorn einladen. Einen Café crème könnte ich ihnen leicht bezahlen. Man sagt ja, dass alte Menschen lebenserfahren und weise sind. Vielleicht könnte ich von ihnen lernen. Aber dazu fehlen mir Neugier und Zeit. Und überhaupt, mir hört ja auch keiner zu.
Wenn ich in Basel bin, gehe ich jeden Morgen in den Kannenfeldpark. Ein ehemaliger Friedhof, heute eine unvergleichliche Schönheit mit allerlei Trauerbäumen, mitten in einem Wohnviertel. Ich drehe jeweils zwei, drei Runden auf dem Kiesweg, gemächlichen Schrittes, um meine alte Lunge durchzulüften. Ich tue das im Gegenuhrzeigersinn, wie die meisten anderen auch. Weiß der Gugger, warum. Ich könnte ja auch einmal in der anderen Richtung eine Runde drehen, überlege ich. Einfach so, zur Abwechslung. Aber ich tue es nicht.
Es sind die verschiedensten Leute unterwegs auf dem Kiesweg. Junge, schnelle Flitzerinnen, die unerhört Gas geben, im farbigen Sportdress. Keuchende Mittvierziger, die mit rot aufgequollenen Gesichtern gegen den Zahn der Zeit anrennen. Frauen mit Kopftüchern, zu dritt oder zu viert. Sie schreiten schnell voran, mit ernsten Mienen. Denn auch sie wollen fit bleiben.
Da ich meist um dieselbe Uhrzeit unterwegs bin, kenne ich einige der Rundendreher, die auch immer zur gleichen Zeit auf den Beinen sind, vom Sehen. Man grüßt sich nicht, man fasst sich nur kurz ins Auge. Und man kennt den Fitnessstand voneinander.
Einige kenne ich aus meinem täglichen Leben. Zum Beispiel den Wirt der Pizzeria vorn am Ring, wo ich gerne verkehre. Er kommt aus der Türkei und rennt im Uhrzeigersinn. Weiß der Geier, warum. Als wir uns zum ersten Mal über den Weg liefen, haben wir uns angelacht, herzlich, wie zwei alte Bekannte. Was wir ja auch sind.
Eine ältere Frau ist häufig auch im Uhrzeigersinn unterwegs, eine Großmutter mit Kinderwagen. Sie trägt dunkle Kleidung samt Kopftuch. Eine Bäuerin wohl, die ein Leben lang gearbeitet hat.
Jetzt schiebt sie ihre Enkelin vor sich her, ernst und feierlich. Sie schaut mich jeweils nur ganz kurz an und nimmt dann den Blick sofort wieder weg.
Heute Morgen war es anders. Ich weiß nicht, war es der Sonnenschein, die Wärme, die den Park füllte. Der frühlingshafte Gesang einer Amsel. Oder schlicht meine gute Laune. Jedenfalls blieb ich stehen, als ich die beiden herankommen sah. Ich lachte, ich winkte mit beiden Händen. Die Frau sah das. Sie zögerte und ging dann unbeirrt weiter.
Kurz vor mir blieb sie stehen, sie schaute mich neugierig an. Tatsächlich, ein altes, schönes Bäuerinnengesicht. Das Mädchen begann zu zappeln vor Freude. Es lachte über das ganze Gesicht. Ich merkte, dass sie schon einige Male über mich geredet und sich gefragt hatten, ob sie wohl heute dem alten Mann wieder begegnen würden.
Ich fragte, wie das Mädchen heiße. Es ging ziemlich lange, bis die Frau begriff, was ich wollte. Offensichtlich verstand sie kein Wort Deutsch. Dann sagte sie stolz: Dilara.
Guten Tag, Dilara.
Vor rund vierzig Jahren habe ich ein Theaterstück über Wilhelm Tell geschrieben. Um mich kundig zu machen, bin ich nach Sarnen gefahren, habe dort das Archiv betreten und gefragt, ob ich mir das Weiße Buch von Sarnen ansehen könne. »Moment«, sagte der Archivar, holte einen schweren, in helles Leder gebundenen Wälzer und legte ihn auf die Theke. »Mitnehmen dürfen Sie das Buch nicht«, sagte er, »bloß durchlesen im Lesesaal.«
Das Weiße Buch von Sarnen entstand in den Jahren von 1470 bis 1473 und wurde vom Obwaldner Landschreiber Schriber verfasst. Es berichtet zum ersten Mal von den beiden Grundmythen der Eidgenossenschaft, von Wilhelm Tell und vom Bundesschwur. Es ist das wichtigste Buch der alten Eidgenossenschaft, es hat den Grundstein für das eidgenössische Freiheitsdenken gelegt. Heute wird es wohl kaum mehr ausgeliehen. Vermutlich liegt es unter Panzerglas.
Meine Generation hat die alten Schweizer Sagen schon fast mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Es war die Zeit um den Zweiten Weltkrieg, es galt, mit allen Mitteln den Wehrwillen zu stärken. Deshalb wimmelte es in unseren Schulbüchern von heldenhaften Eidgenossen, die gegen fremde Richter und gegen fremde Vögte kämpften. Winkelried, Ueli Rotach und natürlich Tell. Jeder Schuss ein Treffer, hütet euch am Morgarten!
Als wir dann anfingen, Bücher zu schreiben, haben sich einige von uns gegen die propagandistische Vereinnahmung der alten Mythen zur Wehr gesetzt. Man hat versucht, die sagenhaften Gestalten zu entzaubern. Was hatte Tell zum Beispiel zur Urner Innenpolitik gesagt? Wirklich nichts? War Gessler vielleicht nicht eine Art Entwicklungshelfer, der dem Drittweltland Uri den Fortschritt bringen wollte? Und wie war das eigentlich mit dem Bürgermeister meines Heimatstädtchens Zofingen mit dem Namen Niklaus Thut, der bei Sempach heldenhaft gefallen war und auf dem Brunnensockel des Thutplatzes steht? Hatte der nicht auf der Seite der Habsburger gekämpft? Doch, hatte er.
Es hat im Verlauf der Schweizer Geschichte immer wieder Versuche gegeben, den Nationalhelden Teil aus den Schweizer Köpfen zu verbannen. Denn immerhin hatte er ein Attentat auf den Machthaber begangen. Nach dem Bauernkrieg von 1653 zum Beispiel war es streng verboten, seinen Namen auch nur auszusprechen. Es hat nichts genützt. Tell lebt noch immer in unseren Köpfen.
Denn die Confoederatio Helvetica ist ein mythologischer Staat. Die Schweizer Geschichte ist Mythologie. Ein einzig Volk von Brüdern, und neuerdings auch Schwestern! Bauernkrieg und Generalstreik werden ausgeklammert, weil sie nicht in die Mythologie passen. Ein EU-Beitritt hat vor dem Stimmvolk auf Jahre hinaus keine Chance, weil er nicht zum Rütlischwur passt. Die Mythologie bestimmt also auch die Gegenwart.
Im Weißen Buch wird nicht ausdrücklich berichtet, wo der Bundesschwur der drei Waldstätte stattgefunden hat. Es heißt: Sie haben einen Eid geschworen. Weiter hinten wird erzählt, man habe sich jeweils auf dem Rütli getroffen. Vielleicht wurde ja tatsächlich auf dem Rütli geschworen. Vielleicht auch nicht. Sondern zum Beispiel in der Treib, die von alters her eine Freistatt war.
Trotzdem, man sollte wieder einmal aufs Rütli gehen. Von der Treib aus durch den steilen Bergwald, dann hinunter zum stillen Gestade am See. Kein großes, heldenhaftes Monument, keine Autozufahrt. Man kommt zu Fuß oder per Schiff. Ein Ort der Besinnung, der eine heimliche solidarische Kraft ausstrahlt. Auch wenn man kein rassistischer Nationalist ist.