Für Juliet und Paul
(anstatt eines Hochzeitsgeschenks)
So sah also der Frühling in London aus: die Frauen in knielangen, blau-weiß gestreiften Kleidern; die Männer mit dunklen Jacken über Pullovern in Pastelltönen. Beide Geschlechter trugen Umhängetaschen mit mehr Klappen und Verschlüssen als nötig, die der Frauen entweder rot oder schwarz, die der Männer maskulin-büffellederbraun, und auch Mützen sah man gelegentlich, neben Stirnbändern – vergessen wir die Stirnbänder nicht. Stirnbänder in Regenbogenstreifen ließen die Frauen übereifrig erscheinen, als ob sie zu begierig nach der Mode ihrer Jugend griffen, wohingegen die wirklich jungen Leute das gleiche Accessoire scheinbar nonchalant trugen. An den Füßen Sandalen oder Flipflops, die Gesichter voller Zufriedenheit, und die Körpersprache fing stumm und ausdrucksstark zugleich einen einzigen Moment des Wohlbefindens ein und strahlte ihn in alle Richtungen aus. Die frühlingsfrisch ausstaffierten Schaufensterpuppen waren von allen Seiten beleuchtet, ein Klavier produzierte zu ihrem Vergnügen melodiöses Gedudel im Hintergrund, ein Miniatur-Wasserfall trommelte einen unerschütterlichen Takt, und der hagere Samit Chatterjee beobachtete das alles mit halb zusammengekniffenen Augen, wachsam und misstrauisch.
Draußen zog sich der erste Arbeitstag des Jahres mühselig dahin und wuchtete seinen aufgeblähten, verkaterten Wanst auf die Mittagszeit zu. Im Inneren der Shopping Mall Westacres dagegen – einem höhlenartigen Vergnügungszentrum des Einzelhandels an den westlichen Ausläufern Londons – wurde schon der nahende Frühling gefeiert. Kaum hatte dieser begonnen, würden die Schaufenster jedoch bereits die Atmosphäre von sommerlichen Wochenendausflügen verströmen. Im Jahrbuch der Szenen war auf einer bereits umgeblätterten Seite der Jahreswechsel mit Schlitten, Schals und putzigen Rotkehlchen dargestellt worden, aber die Realität war kompromisslos, und das Leben jenseits der Schaufenster hatte wenig Ähnlichkeit mit dem der Schaufensterpuppen dahinter. Dort stapften die müden Käufer von einem Geschäft zum nächsten, was wegen des glitschigen, nassen Bodens gar nicht ungefährlich war; hier ruhten sich die Erschöpften auf dem Betonsims rings um den Springbrunnen aus, in dessen Becken ein schaumverkrusteter Styroporbecher am Rand dümpelte. Dieser Brunnen bildete das Herzstück, an dem Gänge aus allen Himmelsrichtungen zusammentrafen, und früher oder später kam jeder, der Westacres besuchte, daran vorbei. Daher ergab es sich ganz von selbst, dass Samit sich meist hier aufhielt, um die Passanten besser beobachten zu können.
Allerdings hegte er für sie wenig Sympathie. Wenn Westacres ein Tempel war, wie das Einkaufszentrum manchmal bezeichnet wurde, dann gingen seine Anhänger ziemlich lax mit den religiösen Vorschriften um. Wahrhaft Gläubige würden keine Essensreste in das Taufbecken ihrer Kathedrale werfen, und niemand, der die Grundsätze seiner Religion wirklich hochhielt, leerte noch vor halb zehn morgens einen Sixpack Strongbow und kotzte anschließend auf den Boden seiner Kirche. Als gläubiger Muslim verabscheute Samit die Praktiken, deren Zeuge er täglich wurde, doch als Mitglied von Westacres’ engagiertem Team der Community Regulation Officers – oder Security Guards, wie sie sich selbst nannten – verzichtete er darauf, die himmlische Verdammnis auf die Gottlosen herabzurufen, und begnügte sich damit, Müllsündern gegenüber strenge Verwarnungen auszusprechen und die Betrunkenen vom Gelände zu eskortieren. In der übrigen Zeit erklärte er Suchenden den Weg, half, umherirrende Kleinkinder zu finden, und einmal – er dachte noch oft daran – hatte er einen Ladendieb verfolgt und dingfest gemacht.
An diesem Nachmittag gab es keine solche Abwechslung. Die Luft war feucht und stickig, ein Kratzen in Samits Hals kündigte eine Erkältung an, und er fragte sich, wo er wohl eine Tasse Tee schnorren könnte – als er sie kommen sah: drei Jugendliche, die sich durch den östlichen Gang näherten. Einer trug eine große schwarze Reisetasche. Samit vergaß seinen rauhen Hals. Zu den großen Paradoxa des Einkaufszentrums gehörte es, dass zugunsten von Profit und Wohlstand die Jugendlichen hereingelockt werden mussten, sie aber um der Harmonie und des lieben Friedens willen nicht hier herumlungern sollten. Idealerweise sollten sie reinkommen, ihr Geld loswerden und sich wieder verziehen. Wenn also Jugendliche zu dritt auftauchten und eine schwarze Reisetasche mit sich trugen, musste man von bösen Absichten ausgehen. Oder sich zumindest auf übermütigen Quatsch gefasst machen.
Samit sah sich forschend um und entdeckte zwei weitere Gruppen, die die nördliche Passage herunterkamen, die eine bestand aus jungen Frauen, für die die Welt ein Quell unendlicher Heiterkeit zu sein schien, die andere ein buntgemischter Haufen in tiefhängenden Jeans und Sneakers ohne Schnürsenkel, von dem das übliche jamaikanische Patois der in London geborenen Teenager widerhallte. Aus Richtung Westen genau das Gleiche: herbeiströmende Teenager, jede Menge von ihnen, und plötzlich schienen es nicht mehr einzelne Gruppen zu sein, sondern es war eine Massenansammlung, die von einer einzigen Intelligenz gesteuert wurde. Zwar waren immer noch Ferien, und man musste mit einem erhöhten Aufkommen von Jugendlichen rechnen, aber … Im Zweifelsfall meldest du dich, hatte man Samit gesagt. Und dies war ein Zweifelsfall: nicht nur die Jugendlichen, die schiere Zahl der Jugendlichen – es wurden immer mehr –, sondern die Art, wie sie auf ihn zusteuerten; als würde Samit Chatterjee Zeuge der ersten Anfänge einer neuen Bewegung werden; vielleicht des Umsturzes dieses Konsumtempels, den er hier zu bewachen hatte.
Vom Sog mitgerissen, trafen jetzt seine Kollegen ein. Samit winkte energisch und löste sein Funkgerät in dem Moment vom Gürtel, als das erste Trio mitten in der Arena stehen blieb und seine Reisetasche auf dem Boden abstellte. Während er die Sprechtaste drückte, öffneten sie die Tasche und enthüllten ihren Inhalt. Und als er sprach, ging es los: Genau in dem Moment zog die ganze Menge – Dutzende von Kids, die den Brunnen umringten, die Geschäftseingänge blockierten und auf dem Brunnenrand herumkletterten –, ausnahmslos alle, so schien es, ihre Jacken und Mäntel aus. Darunter kamen fröhlich leuchtende Shirts zum Vorschein, alle in grellen Primärfarben und wilden Mustern, und dann drückten die Jungs auf die Knöpfe des Retro-Ghettoblasters, den sie ausgepackt hatten, und das ganze Einkaufszentrum wurde von lautem, lautem Lärm geflutet, einem tiefen Bass-Beat.
Living for the sunshine, woah-oh
Und sie tanzten alle, schwenkten die Arme über dem Kopf, hoben die Beine, wackelten mit den Hüften – niemand hatte Tanzunterricht gehabt, so viel war sicher, aber diese Kids wussten, wie man Spaß hat, und genau den hatten sie.
I’m living for the summer
War das nicht ein tolles Gefühl? Ein Flashmob, erkannte Samit. Vor acht bis zehn Jahren war das ein Riesending gewesen, und nun wurde es von einer neuen Generation wiederentdeckt. Samit hatte schon einmal einen miterlebt, in der Liverpool Street: Er hatte am Rand gestanden und hätte gerne mitgemacht, aber irgendetwas – was? Teenagerscham – hatte ihn davon abgehalten, und er hatte nur als Beobachter zugesehen, wie die Menge in fröhlicher, geplanter Spontaneität aus sich herausging. Diese hier fand allerdings unter seiner Aufsicht statt und hätte gestoppt werden sollen, aber im Augenblick konnte er nichts unternehmen – nur Hunde und Megaphone hätten dieser Sache Einhalt gebieten können. Sogar die Erwachsenen wurden übermütig und wippten im Takt zum sommerlichen Beat; einer von ihnen, mitten im Trubel, knöpfte seinen Mantel auf. Und für einen unüberlegten Moment wurde auch Samit, trotz der Kälte, trotz der Nässe, von der überschäumenden Lebensfreude mitgerissen, und fast gegen seinen Willen verzog er die Lippen, ob zu einem Lächeln oder um den Refrain mitzusingen – living for the sunshine, woah-oh, hätte nicht einmal Samit selbst sagen können, und er musste eine Hand vor den Mund legen, um seine Reaktion zu verbergen. Mit dieser Bewegung verdeckte er seine Zähne, anhand derer er später identifiziert wurde.
Denn die Explosion, als sie kam, ließ wenig unversehrt. Sie zertrümmerte Knochen und pulverisierte alles Leben in der Nähe zu verkohlten Bröseln. Fenster wurden zu Schrapnells, und der Brunnen zischte, als brennende Brocken von Mauerwerk, Ziegeln, Plastik und Fleisch hineinregneten. Ein wütender Feuerball verschluckte sowohl die Musik als auch die Tänzer und sandte eine Welle aus Hitze und Luftdruck aus, die alle vier Passagen hinunter wallte, während die Frühlingspuppen in ihrer makellosen Kleidung hinter einer Erinnerung aus Glas fortgeschleudert wurden. Es dauerte Sekunden, doch es hörte nicht auf, und diejenigen, die zurückblieben – Eltern und Familien, Geliebte und Freunde –, würden dieses Datum für immer als einen Tag unbeantworteter Anrufe und nicht abgeholter Autos in Erinnerung behalten; als einen Tag, an dem etwas Schreckliches, so hell wie die Sonne, am falschen Ort erglühte und sein unauslöschliches Bild in das Leben derer einbrannte, die es dort fand.