Martin Suter

Huber spannt aus

und andere Geschichten
aus der Business Class

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2005

im Diogenes Verlag

Sämtliche Kolumnen wurden

zuerst veröffentlicht

in der Weltwoche, Zürich,

im Zeitraum April 2001

bis Dezember 2003

Umschlagfoto:

Copyright © Prisma/Panoramic

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23548 7 (11. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60626 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Die Sorgen des Nachwuchses  [7]

Imageprobleme eines Berufsstands  [10]

Steinhausers Schrecksekunde  [13]

Unter vier Augen  [16]

Das Problem der Pensionierung  [19]

Neunzehn Uhr: Fred K. Nannini!  [22]

Winningers Absage  [25]

Huber spannt aus (I)  [28]

Huber spannt aus (II)  [31]

Huber spannt aus (III)  [34]

Wie sag ich’s Strassner?  [37]

Bifigers Flip  [39]

Obermann im Supermarkt  [41]

Der Millionenverlust  [44]

Die Maßnahme Ulminger (I)  [46]

Die Maßnahme Ulminger (II)  [48]

Die Maßnahme Ulminger (III)  [50]

Sprachlosigkeit am Kaffeeautomaten  [52]

Karriere und Zufall (I)  [55]

Karriere und Zufall (II)  [57]

Kehrer, Oberli und der Wertezerfall  [60]

Ambühl bleibt am Boden  [62]

In gegenseitigem Einvernehmen  [64]

Ketterers und die Folgen  [67]

Der Geist des Widerspruchs  [70]

Zuppingers Charisma  [73]

Zübins Zielkonflikt  [75]

Blacky Meier  [78]

Weihnachten mit Winterberg  [80]

Nyffelers Wiedergeburt  [83]

Korrektur eines Schönheitsfehlers  [86]

Die Definition der Synergien  [88]

Widmann, Workaholic  [91]

Ein hohes Anforderungsprofil  [93]

Häusermann und die Ordnung  [95]

Goldener und der Konjunktiv  [97]

Remmlers meditative Seite  [100]

[6] Holligers Fauxpas (I)  [103]

Holligers Fauxpas (II)  [105]

Höhere Gewalt (I): Es läuft nicht schlecht  [107]

Höhere Gewalt (II): Ganters Signale  [109]

Höhere Gewalt (III): Heilmanns Du  [112]

Höhere Gewalt (IV): Was schiefgeht  [115]

Brühwilers Intimsphäre  [118]

Ambergs Schlafmanko  [120]

Gantenbeins Abschied  [122]

Sexy Ruppli  [124]

Lohntransparenz  [126]

Küttels Jubiläum  [128]

Dürigs Coup  [130]

Entscheidungsträger  [132]

Züblin motiviert sich  [134]

Mimikri  [136]

Synergien  [138]

Ferienplanung  [140]

Highlights  [142]

Managertalk  [144]

After Work  [146]

Imagekorrektur  [148]

Lindner offline  [150]

Tierfreund Talberg  [152]

Baums Aufschwung  [154]

Strategieseminar  [156]

Etter an der Basis (I)  [158]

Etter an der Basis (II)  [160]

Prozeßmanagement (I)  [162]

Prozeßmanagement (II)  [164]

Die Herausforderung  [166]

Kopf frei  [168]

Was Züllig aufrichtet  [170]

Der Bescheid  [172]

Börsenkunde  [174]

Eine Führungskrise  [177]

Harte Fragen  [179]

Zukunftsängste  [181]

[7] Die Sorgen des Nachwuchses

»Weißt du, was mich am meisten anscheißt bei diesen Absahnern?« fragt Meilinger.

»Du meinst die Kassemacher?« Streb nimmt es genau mit Fachausdrücken.

»Ich meine die Selbstbedienungsmentalität im Topmanagement.«

»Die Raffgierproblematik.«

»Daß sie uns die Zukunft verbauen.«

»Wie das?«

»Sie versauen den Markt.«

»Hältst du mal?« Streb versucht, ein Stück von seinem Döner Kebab aus einheimischem Kalbfleisch abzubeißen, und schiebt den Lenker seines Micro-Skate-Scooters zu Meilinger rüber. Es regnet nicht, sie verbringen die kurze Mittagspause in der Anlage hinter der Bank.

Meilinger hält jetzt beide Micro-Skate-Scooter und ärgert sich. Er hätte nämlich auch Lust auf einen Döner Kebab gehabt, hatte aber, weil er weiß, daß man dazu beide Hände braucht, darauf verzichtet. Sein Mittagessen besteht aus einem Laugenbrötchen mit drei Scheiben Salami, das man problemlos mit einer Hand verzehren kann. Bis er diese wieder frei hat, bleibt es in seiner rechten Hosentasche.

Streb ist es gelungen, ein Stück abzubeißen, ohne sich [8] nennenswert zu bekleckern, und kaut jetzt mit vollen Bakken.

»Angenommen«, fährt Meilinger fort, »ich wollte mir eine Abgangsentschädigung von, sagen wir, zwei Millionen auszahlen lassen: Das Volk liefe Amok.«

Streb nimmt sich Zeit zu schlucken. »Nicht ganz zu Unrecht, bei einem Monatslohn von viertausendneunhundert brutto.«

»Ich meine natürlich: später.«

»Bis wir uns eine Abgangsentschädigung von zwei Millionen auszahlen lassen können, sind alle, die sich an die Sache mit Affolter und Konsorten erinnern konnten, tot.« Streb nimmt wieder einen Biß.

»Nicht nach meinem Karriereplan«, entgegnet Meilinger, »in fünfzehn Jahren bin ich vierzig. Mehr Zeit gebe ich mir nicht.«

»Bis zur Abgangsentschädigung von zwei Millionen?«

»Wie gesagt: Ich fürchte, die liegt dann nicht mehr drin.«

Die Sonne kommt hinter einer Wolke hervor. Die Leute auf den Bänken ziehen die Jacken aus und öffnen die Knöpfe ihrer Hemden. Die meisten sind, wie Meilinger und Streb, untere Kader der umliegenden Banken und Versicherungen.

Meilinger schiebt die beiden Micro-Skates und legt sich eine Abgangsentschädigungsstrategie für das Jahr 2016 zurecht. Streb geht vornübergebeugt nebenher und beißt ab und zu in den immer mehr tropfenden Döner.

»Man muß die Bezüge so ansetzen, daß sie in überhaupt keinem Verhältnis zu nichts mehr stehen, dann sind sie unangreifbar. 35 Millionen wie Frank Quattrone von Credit Suisse First Boston.«

[9] Streb hat jetzt fertig gegessen und bietet sich an, Meilingers Micro zu schieben, während dieser sein Sandwich ißt. Meilinger klaubt das Salamibrötchen aus der Tasche und popelt es aus der Frischhaltefolie. Jetzt erst sieht er die Sauce an Strebs Hand am Lenker seines Scooters.

Meilinger beschließt, seine Abgangsentschädigung im Jahr 2016 auf 42 Millionen zu erhöhen. Inflationsbereinigt.

[10] Imageprobleme eines Berufsstands

Es nieselt. Freifelder muß fast eine Viertelstunde am Taxistand warten, bis er an der Reihe ist. Dann steigt er in einen betagten Mercedes, an dessen Rückspiegel drei Duftbäumchen vergeblich gegen den Mief ankämpfen. Ein Haufen Zeitungen auf dem Beifahrersitz signalisiert, daß der Fahrer keinen Wert auf Fahrgäste legt, die ihre political correctness dadurch ausdrücken, daß sie sich nicht im Fond chauffieren lassen.

Sie sind keine zwanzig Meter gefahren, als der Fahrer sagt: »Heute spinnen wieder alle.«

Freifelder ist der Anlaß für diese Feststellung entgangen. Er begnügt sich mit einem »Soso« und wendet sich wieder seiner Agenda zu.

»He!« brüllt der Fahrer, bremst brüsk und beschleunigt sofort wieder. »Haben Sie diesen Idioten gesehen?«

Freifelder hat ihn nicht gesehen. Er macht »mhm«. Weder ja noch nein.

Das Taxi bleibt an einer roten Ampel stehen. Freifelder blättert in der Agenda. Plötzlich hupt der Fahrer und schreit: »Nicht schlafen!«

Erschrocken schaut Freifelder auf. Er ist nicht gemeint, sondern ein grüner Opel vor ihnen, der wohl einen Sekundenbruchteil zu spät losgefahren ist. Der Taxifahrer heftet [11] sich an seine Stoßstange und betätigt frenetisch die Lichthupe.

»Ist so einer nicht ein Schafseckel?«

Die Frage ist offensichtlich an Freifelder gerichtet. Er überhört sie.

Eine Minute ist es still im Wagen. Aber Freifelder spürt, wie ihn der Fahrer im Rückspiegel mustert. Als er aufblickt, schaut er direkt in dessen haßerfüllte Augen.

»Dazu sind Sie sich zu fein, nicht?«

»Bitte?« fragt Freifelder.

»Mit den Berufssorgen eines Taxichauffeurs wollen Sie nicht behelligt werden, hä?«

Freifelder zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder seiner Agenda zu.

»Zu fein zum Antworten!« sagt der Fahrer schneidend.

»Ach, hören Sie doch auf«, antwortet Freifelder gereizt.

»Unter meinem Beruf wollen Sie nicht auch noch leiden, Sie leiden schon genug unter Ihrem, gell?«

»Ich leide nicht unter meinem Beruf.«

»Gratuliere. Dann sind Sie nämlich der einzige.«

»Der nicht unter seinem Beruf leidet?« Es gerät Freifelder etwas süffisant.

»Der nicht unter IHREM Beruf leidet!«

Freifelder schafft es nicht, darauf nicht einzugehen. »Was wissen Sie schon von meinem Beruf«, höhnt er.

»Sie sind doch Manager, das sehe ich Ihnen an. Das Anzüglein, die Schühlein, das Krawättchen, das Frisürchen, das Mäppchen. Ein Managerlein. Stimmt’s?«

Freifelder beschäftigt sich wieder mit der Agenda.

»Treiben gesunde Unternehmen in den Ruin, kassieren [12] einen Haufen Kohle, halten sich für etwas Besseres und verpesten einem den Wagen mit ihrem Parfum.«

»Wissen Sie was?« sagt Freifelder. »Unter welchem Berufsstand Sie leiden, ist mir scheißegal.«

Jetzt steht Freifelder im Nieselregen und leidet unter dem Berufsstand des Taxichauffeurs.

[13] Steinhausers Schrecksekunde

Steinhauser ist früh dran. Er hat schlecht geschlafen. Um vier Uhr erwacht und an Bergmann gedacht. Wenn er sicher sein will, nicht mehr einschlafen zu können, braucht er nur an Bergmann zu denken. An irgendein Detail: seinen affektierten Haken auf dem Verteiler, seine durchscheinenden Socken, seine verschiedenfarbigen Klebenotizen in der Agenda, seine lederbezogene Kleenex-Box auf dem Beifahrersitz seines schwarzen Audis. Jeder Gedanke an irgend etwas, das mit Bergmann zu tun hat, führt ihn tief in ein Kaleidoskop aus Bildern, Assoziationen, Sätzen und Episoden, die sich alle um Bergmann drehen.

Wenn Steinhauser mit Bergmann im Kopf erwacht und nach einer Stunde nicht wieder eingeschlafen ist, steht er auf. Früher tat er das vorsichtig, um Karla nicht zu wecken. Aber seit sie getrennte Schlafzimmer haben (eine Maßnahme, die ihren ursprünglichen Zweck – die Belebung des erotischen Aspekts ihrer Beziehung – nachhaltig verfehlt hat), knipst er einfach das Licht an.

Heute ist Steinhauser um fünf auf den Beinen, um sechs aus dem Haus und vor halb sieben im Lift in den fünften Stock, die Führungsetage der CLABCO.

Das Gebäude ist ausgestorben, wie immer um diese Zeit. Steinhauser schaltet den Kopierer und den [14] Kaffeeautomaten ein, betritt sein Büro und öffnet die Fenster. Tief unter ihm auf dem Direktionsparkplatz steht ein einziges Auto: sein dunkelblauer BMW. Er setzt sich an den Schreibtisch und nimmt sich den Stapel mit den dringendsten Pendenzen vor.

Eine halbe Stunde später geht er ins Vorzimmer, holt zwei Jetons aus der Schublade seiner Sekretärin und schlendert zum Automaten. Den ersten Kaffee schüttet er weg, den zweiten süßt er mit Assugrin. Bis acht Uhr redigiert er das Protokoll der Verkaufsleitersitzung. Als er es seiner Sekretärin ins Vorzimmer bringen will, ist ihr Platz leer. Komisch, sonst ist sie an Montagen um Viertel vor acht am Schreibtisch.

Er holt sich noch einen Kaffee. Im Abfall liegt nur der Becher des weggeschütteten und der leere Assugrinbeutel. Noch niemand außer ihm hat den Automaten benützt. Er wird an der Montagssitzung das Thema Arbeitszeiten aufbringen.

Eine halbe Stunde später herrscht immer noch Stille im Haus. Steinhauser geht ans Fenster. Sein BMW ist das einzige Fahrzeug weit und breit.

Eiskalt läuft es ihm den Rücken herunter. Gibt es die CLABCO nicht mehr? War er so vertieft in ihr Management (und den damit verbundenen Zweikampf mit Bergmann) gewesen, daß er nicht bemerkt hat, daß sie geschlossen wurde? Leitet er die Verkaufsabteilung eines Phantomunternehmens?

Mitten in dieser Schrecksekunde fährt Bergmanns schwarzer Audi auf den Parkplatz und hält genau neben seinem BMW. Steinhauser zieht sich vom Fenster zurück. [15] Wenigstens hat auch Bergmann den Untergang der CLABCO verpaßt.

Kurz darauf klopft es. Bergmann tritt ein. Im Tennisdress. »Hab nur mein Racket im Büro vergessen«, erklärt er, »laß dich nicht stören. Das kenn ich von früher: Pendenzen aufarbeiten müssen am Pfingstmontag.«

[16] Unter vier Augen

»Nehmen Sie doch einen Moment Platz, ich bin gleich soweit.« Weibler setzt sich auf den Sessel der Besuchersitzgruppe, auf den Hemmi gewiesen hat. Den mit Fensterblick und dem Rücken zum Schreibtisch. Hinter sich hört er das Rascheln von Unterlagen.

Normalerweise, wenn er zu Hemmi zitiert wird, ruft dessen Sekretärin an. Diesmal hat Hemmi selbst angerufen und gefragt, ob er in, sagen wir, einer Viertelstunde für, sagen wir, eine Viertelstunde Zeit habe. Eine Frage, auf die ein Nein hierarchisch keine Option darstellt.

Eine Viertelstunde hatte Weibler Zeit, sich einzureden, es sei ein gutes Zeichen, daß Hemmi ihn persönlich aufgeboten hat.

Doch jetzt, mit dem Quietschen des Leuchtstifts im Rücken, macht er sich auf das Schlimmste gefaßt. Er mobilisiert seine ganze Nonchalance und schlägt die Beine über-einander.

Aber als Hemmi sich fünf Minuten später ins Sofa gegenüber fallen läßt, stellt sich Weiblers rechter Fuß ohne sein Zutun akkurat neben den linken, und seine Hände legen sich flach auf die Oberschenkel.

Hemmi breitet die Arme auf der Rückenlehne aus, legt den Kopf auf die linke Schulter und mustert Weibler. Nach [17] einer kleinen Ewigkeit fragt er: »Wie gut kennen Sie Behrlinger?«

Weibler und Behrlinger haben praktisch zur gleichen Zeit bei der Firma als leitende Mitarbeiter angefangen. Sie spielen einmal in der Woche zusammen Squash, ihre Frauen gehen zusammen ins Yoga, und ihre fünfzehnjährigen Söhne wurden zusammen mit einem Joint erwischt. Weibler antwortet: »Ach, so gut, wie man sich eben kennt nach ein paar Jahren im gleichen Laden.«

Hemmi nickt und legt den Kopf auf die andere Schulter. »Das ist ein informelles Gespräch, Herr Weibler, nichts davon verläßt diesen Raum.«

Weibler entspannt sich. Es geht nicht um ihn. Es geht um Behrlinger.

»Und?« fährt Hemmi fort. »Was haben Sie so für einen Eindruck von ihm?«

Sofort beginnen bei Weibler die Alarmlämpchen zu blinken. Was immer er antwortet, ist falsch. Äußert er sich positiv und Hemmi ist anderer Meinung, schadet er sich, weil er ihm widerspricht. Äußert er sich positiv und Hemmi ist gleicher Meinung, schadet er sich, weil er damit Behrlingers Karriere auf seine Kosten beschleunigt. Äußert er sich negativ und Hemmi ist gleicher Meinung, schadet er sich, weil er sich als illoyal gegenüber einem Arbeitskollegen erweist. Äußert er sich negativ und Hemmi ist anderer Meinung, schadet er sich doppelt, weil er seinem obersten Chef widerspricht und seinem Arbeitskollegen in den Rücken fällt.

Nein, es geht nicht um Behrlinger. Es geht um ihn.

Hemmi wechselt die Lage des Kopfes wieder von der rechten auf die linke Schulter und lächelt aufmunternd. [18] Wenn Weibler jetzt nichts sagt, wird es ihm schaden, weil Hemmi es ihm als Meinungsschwäche auslegen wird.

»Mein Eindruck von Behrlinger?« antwortet Weibler und schlägt die Beine übereinander. »Sie werden verstehen, daß ich mich über einen langjährigen Arbeitskollegen nicht negativ äußern will.«

[19] Das Problem der Pensionierung

Ein bedeckter Tag, schlechte Lichtverhältnisse auf der Driving Range. Wettinger hat den Golfschirm dabei und trägt die Allwetterhandschuhe. Die Abschläge links und rechts von ihm sind verwaist. An einem Mittwochvormittag um halb zehn herrscht hier kein Hochbetrieb.

Wettinger muß seine Performance mit den langen Eisen verbessern. Er setzt einen Ball aufs Tee, schlägt ab und verfolgt kopfschüttelnd die Bahn des Balls. Er ist nicht bei der Sache. Seine Gedanken kreisen wie so oft um das gleiche Thema: seine Pensionierung.

Plötzlich ist man überflüssig.

Ein Mann, der jahrzehntelang Erfahrungen gesammelt und weitergegeben hat, eine Führungskraft, ohne die gestern noch überhaupt nichts lief, wird von einem Tag auf den anderen ersetzlich. Das muß einer erst einmal verkraften, der vierzig Jahre lang sein ganzes Selbstbewußtsein aus seiner Unersetzlichkeit geschöpft hat. Das braucht schon etwas, wenn man so unversehens am gähnenden Abgrund seiner Entbehrlichkeit steht. Von seiner Vergänglichkeit nicht zu reden.

Er steckt das schwierige lange Eisen in die Bag und holt den Driver heraus. Er braucht jetzt den Trost eines Erfolgserlebnisses. Der Gedanke an die Vergänglichkeit deprimiert [20] ihn immer. Als Mensch und als Businessman. Eine unglaubliche Verschwendung von Know-how, diese Sterblichkeit des Managers.

Wettinger teet einen neuen Ball auf und schlägt ab. Er toppt und spielt einen Girlie, keine drei Meter weit. Dermaßen deprimiert ihn der Gedanke.

Wie oft hört man von Führungskräften, die nach ihrer Pensionierung in ein tiefes Loch fallen. Die nicht schlafen können, weil sie keinen Grund mehr haben, wach zu liegen. Die pünktlich um halb sieben aus den Federn fahren, weil der Wecker nicht klingelt.

Gesunde Altfinanzdirektoren bekommen Magengeschwüre, weil sie sich nicht mehr über Lohnforderungen aufregen müssen. Durchtrainierte Topsanierer lassen sich Herzschrittmacher einsetzen, weil sie keinen Turnaround zu schaffen haben.

Wettinger hat wieder aufgeteet und versucht sich zu konzentrieren. Es gelingt ihm ein schöner Swing, aber der Ball sliced weit in den Drive rechts neben ihm. Nicht auszudenken, wenn sein Pro das gesehen hätte.

Das Problem ist die Vorbereitung. Jahrelang arbeitet man drauflos, ohne einen Gedanken an die Pensionierung zu verschwenden, und dann, eh man sich’s versieht, ist sie da. Wer kann schon aus dem Stand von hundertfünfzig auf null Prozent schalten? Wie soll einer, der nie Zeit hatte, wissen, was man mit ihr anfängt? Woher soll jemand, der sein Leben lang von der Agenda regiert wurde, plötzlich wissen, wie man seine Wochen selbst einteilt?

Mit einem Mal steht man vor seinen letzten Tagen und weiß nicht, wie man sie ausfüllt. Und dann hackt man [21] mit einem Handicap von vierundfünfzig auf dem Green herum und macht sich lächerlich.

Deshalb wird Wettinger anschließend noch etwas im Putting und im Chipping Green arbeiten. Der erste Juni 2023 kommt schneller, als man denkt.

[22] Neunzehn Uhr: Fred K. Nannini!

Steintaler ist nicht einer, der in fremde Agenden schielt. Aber als Wartburger die Toilette aufsucht, läßt er seine aufgeschlagen praktisch unter Steintalers Nase liegen. Wenn der Eintrag irgendwo im Dickicht aller anderen Einträge gestanden hätte, wäre er vielleicht noch zu übersehen. Aber er steht isoliert im Donnerstag unter der sonst unberührten Rubrik neunzehn bis zwanzig Uhr und ist zudem noch doppelt unterstrichen. Er lautet: »Neunzehn Uhr: Fred K. Nannini!«

Wenn er wenigstens anders gelautet hätte – »neunzehn Uhr Fitness« oder »neunzehn Uhr Oper« –, hätte ihn Steintaler bestimmt auch mit der angemessenen Diskretion behandelt. Aber so platzt er gleich nach der Sitzung bei Gürtner rein. »Wartburger trifft sich mit Nannini!«

Die Nachricht verfehlt ihre Wirkung nicht. Gürtner, seit zwei Wochen Nichtraucher, steckt sich eine Zigarette an und fragt: »Woher hast du das?«

Eine Viertelstunde später ist auch Baumhofer informiert. Sie verbarrikadieren sich in Gürtners Büro zu einer Krisensitzung.

Fred K. Nannini ist der berüchtigtste Sanierer der Branche. Und auch einer der erfolgreichsten, wenn man Aufwand und Ertrag als einzige Kriterien für den Erfolg einer Unternehmung betrachten will.

[23] Baumhofer, der sich etwas auf seine Besonnenheit in Krisensituationen einbildet, fragt: »Irrtum ausgeschlossen?«

»Ich kann doch lesen.« Steintaler klingt etwas beleidigt. »Zweimal unterstrichen.«

»Farbig?« fragt Gürtner, der auch analytisch vorgehen kann.

»Nein. Aber mit Ausrufezeichen.«

Das Ausrufezeichen ist es, was den drei Bereichsleitern am meisten zu schaffen macht. Aus! Fertig! Schluß! Genug gebastelt! Jetzt wird durchgegriffen! Jetzt hol ich mir Nannini!

Das Ausrufezeichen entlarvt den Schritt als das, was er ist: eine Überreaktion. Natürlich hat der Laden seine Probleme. Darüber kann man im kleinen Kreis ganz offen sprechen. Aber nichts, was Steintaler, Gürtner und Baumhofer nicht selbst in den Griff bekämen. Vor allem jetzt, wo die Probleme erkannt und die Maßnahmen so gut wie getroffen sind.

Nichts, wozu es einen Fred K. Nannini bräuchte.