MONTAG

LANDWIRT

Am Arsch der Welt lichtet sich der Nebel. Noch hängen dichte Wolken in den Baumkronen, aber man kann schon erkennen, dass ein neuer Tag anbricht. Eine neue Woche sogar. Montag. Alles auf Anfang. Auf dem großen, weitläufigen Hof ist es noch ruhig. Nur die kleine Katze schleicht ums Haus, und aus dem Stall hört man ein tiefes, brummendes Muhen. Ringsherum erstrecken sich ausgedehnte Felder und Wiesen, eingetaucht in silbernen Morgentau, dichter Wald umarmt das Tal von zwei Seiten. Der nächste Autobahnanschluss ist gut 40 Kilometer entfernt, und mit jedem Meter, den man auf diesen Ort zufährt, verschwindet ein Strich vom Handynetz. Wer zum ersten Mal hierherkommt, der kann sich vieles vorstellen – aber kaum, dass er im kulinarischen Epizentrum einer ganzen Region gelandet ist. Willkommen in Schergengrub, Niederbayern, dem Zuhause von Ludwig „Lucki“ Maurer.

Es ist frühmorgens, und statt eines Espresso aus einem schicken Hipster-Siebträger-Automaten trinkt Lucki Maurer Filterkaffee aus einer uralten Maschine mit schwenkbarem Aufsatz und Thermoskanne. „Darin wurden schon Hunderte Hektoliter Kaffee gekocht, aber der schmeckt einfach. Ich mag das“, sagt er. Es hat etwas Beständiges, genauso wie die Frau an seiner Seite, mit der er seit 24 Jahren zusammen ist – Steffi, seine große Liebe.

Die beiden sitzen an ihrem Holztisch in der offenen, modernen Wohnküche, und Lucki liest die Tageszeitung von gestern. Die aktuelle Ausgabe wird es erst heute Mittag hierher schaffen, der Postbote bringt sie mit. Es ist Wochenanfang, ein klassischer Ruhetag in der Gastronomie. Man könnte es heute ruhig angehen lassen, so etwas wie ein normales Leben versuchen, Bürokram erledigen. Lucki ist aber nicht nur Gastronom. Er ist Koch, Unternehmer, Musiker, Autor, er ist präsent in den Medien, und heute ist er vor allem eins: Landwirt. Darum fängt seine Woche genau da an, wo er am liebsten ist, zu Hause auf seinem Hof.

Lucki gähnt herzhaft. Um 6.30 Uhr hat ihn der Kaminkehrer aus dem Bett geklingelt. Das Leben von normalen Menschen verläuft in anderen Zeitzonen, das hat er als der jüngere Sohn einer Gastronomenfamilie schon früh verstanden. In seiner Zeitzone arbeitet man am Wochenende auch mal 22 Stunden durch und räumt am Sonntag bis 5 Uhr die Küche auf. „Ja, schläfst du noch?“, hat ihn der Kaminkehrer gefragt. „Guten Morgen“, hat Lucki gesagt. „Ja, ich schlafe noch.“

Er legt die Zeitung beiseite und bindet mit einer routinierten Bewegung seine langen roten Haare zu einem Zopf im Nacken, streicht seinen spitzen Bart glatt und setzt ein schwarzes Baseballcap auf. Lucki weiß, dass sein Aussehen in den vergangenen Jahren zu seinem Markenzeichen geworden ist, beabsichtigt hat er das aber nie. Er wirft einen Blick aufs Handy, zieht Jacke und Gummistiefel an und verlässt das Haus, das er hier vor 15 Jahren gebaut hat.

Die kühle Morgenluft kickt die letzte Müdigkeit aus dem Schädel, und Lucki läuft mit schnellen Schritten über den Hof. Vorbei am Nussbaum, den sein Opa einst gepflanzt hat, vorbei an seinem kleinen Hofladen, den er hier eröffnet hat, bis zum Haupthaus in der Mitte, dem Herz von Schergengrub.

STOI steht in großen silbernen Lettern an der Fassade. „Das ist japanisch und bedeutet Wirtshaus“, pflegt er oft bei Interviews zu sagen. „Schmarrn. Das ist das bayerische Wort für Stall. STOI ist aber auch russisch und heißt so viel wie: Halt. Stopp. Hierbleiben.“ Auch das passt gut.

So simpel dieser Name klingt, so erfolgreich ist das Konzept, das dahintersteht: Fine Dining im Bayerischen Wald. In mühevoller und kräftezehrender Arbeit hat er vor einigen Jahren dieses Bauwerk von Grund auf saniert und zu einer einzigartigen Location gemacht. Der STOI hat sich in Rekordgeschwindigkeit zu einem Ort progressiver Gastlichkeit und zu einem Hotspot in der deutschen Kulinarikszene entwickelt. Hier wurden schon etliche Fernsehformate gedreht, hier haben sich Menschen aus den verschiedensten Branchen kennengelernt und zusammen gegessen, hier hat das Wort Genuss ein neues Zuhause gefunden.

Zwischen den alten Mauern und auf dem ausgedehnten Vorplatz finden in regelmäßigen Abständen lockere und gleichzeitig extravagante Events statt. Hier trifft sich das Who’s who der Gastroszene, aber auch alle, die gern mal auf Sterneniveau essen gehen wollen, ohne sich vorher in einen Smoking zwängen zu müssen. Hochwertigste Kulinarik in unkomplizierter Wohlfühlatmosphäre – dafür wurde dem STOI im Jahr 2019 vom Rolling Pin der Titel für das „beste deutsche Gastronomiekonzept“ verliehen, und Port Culinaire pries das Lokal als kulinarischen Hotspot Nummer eins in Deutschland.

An der Hauswand hängen einige Plaketten, die den Betrieb für seine Besonderheiten würdigen. Ganz oben steht in weißen Buchstaben auf einer schwarzen Alu-Dibond-Platte: „100 best Chefs“, eine Auszeichnung, die Lucki als höchsten Neueinsteiger aller Zeiten auf Platz 27 der 100 besten Köche Deutschlands kürt. „Nicht schlecht“, meint er und muss grinsen. „Nicht schlecht dafür, dass ich nie Koch werden wollte.“

Das klingt seltsam für jemanden, der als gefragter und kreativer Koch in der deutschsprachigen Kulinarikszene bekannt ist. Doch es stimmt: Er wollte das nie. Er wollte nie in die Fußstapfen seines Vaters treten und seine Arbeitszeit in einer Restaurantküche verbringen. Er hat gesehen, wie mühsam dieses Leben ist, wie wenig Freiraum es lässt. Darum hat er sich alles Mögliche überlegt, um ja nicht in der Gastronomie zu landen. Zweiradmechaniker wollte er werden, Gitarrenbauer, Bierfahrer oder Pferdewirt. Und am allerliebsten Musiker. Mit Freunden auf der Bühne zu sein und damit so viel Geld verdienen, dass es für ein schönes Leben reicht – das war seine pubertäre Vision vom Glück.

Und jetzt steht er hier, in Gummistiefeln und Arbeitsklamotten, vor der Tür seines renommierten Restaurants, und ist ziemlich zufrieden mit sich und der Welt. Heute ist er froh darüber, wie alles gelaufen ist. Und im Nachhinein macht alles einen Sinn. Er ist trotz aller Vorbehalte letztlich doch Koch geworden, hat aber gezeigt, wie man das komplett anders machen kann und seine Freiheit nicht aufgeben muss. Nicht ganz, zumindest.

Lucki atmet tief ein, saugt eine Prise Natur auf. Zu gern mag er den Blick über das Land, den man von hier aus hat. Nichts als Felder und Wiesen rundherum, nur eine einzige Straße führt in angenehmem Abstand vorbei. Wer Glück hat, kann in der Morgendämmerung ein paar Rehe sehen, die schnell über das hohe Gras zurück in den schützenden Wald springen. So soll es sein. Hier will er sein.

Der große, jetzt wieder in seinem ursprünglichen Gelb gestrichene Bau ist schon seit dem Jahr 1906 im Familienbesitz seiner Mama. Erste Aufzeichnungen gehen zurück ins Jahr 1484 – eine Zahl, die sich überall auf dem Hof wiederfindet. Lucki weiß alles über die Geschichte dieses Ortes, der ein Teil des natürlichen Grenzwalles zwischen Bayern und Böhmen war. Trotz der massiven Veränderungen, die hier passiert sind, sieht er in diesem Haus noch immer das alte Wohn- und Wirtschaftsgebäude von früher. Wo einst die große Stube war, ist jetzt sein Besprechungsraum. Wo früher Schweine und Rinder gefüttert wurden, servieren heute Spitzenköche raffinierte Menüs.

Hier hat er als Kind mit seinem großen Bruder Sepp die besten Sommer seines Lebens verbracht, hier war der Kontrastpunkt zu einem turbulenten Leben im gastronomischen Betrieb seiner Eltern. Während er den einen Teil seiner Kindheit als Hotelierssohn mehr oder weniger in der Öffentlichkeit lebte, genoss er an den Wochenenden und in den Ferien die Ruhe und Abgeschiedenheit hier in Schergengrub. Das war für ihn Freiheit: immer draußen sein, sich jeden Tag eine neue Schürfwunde holen und kein Mensch weit und breit, der einen dabei hätte stören können.

„NICHT SCHLECHT DAFÜR, DASS ICH NIE KOCH WERDEN WOLLTE.“

Jeden Tag wartete hier ein neues Abenteuer. Stundenlang haben die Buben damit verbracht, unterirdische Tunnel zu suchen, die zu der nahe gelegenen Burg führen sollten. Die Vorstellung, irgendwo unter der Erde wäre vielleicht ein echtes Ritterschwert versteckt, trieb sie immer wieder an. Lucki hat den Hof schon als Kind geliebt, und wenn die Menschen sagen, dass dieser Ort ein ganz besonderer ist, nickt er stets und sagt: „Ich weiß.“

Viele Momente haben sich in seinem Kopf eingebrannt. „Das klingt brutal nach Rosamunde-Pilcher-Romantik, aber wenn du als Kind auf dem Bulldog mit zum Futtermähen rausdarfst, die Wiesen satt und saftig außenrum, die Vögel zwitschern, und die Eichhörnchen springen über den Weg – da geht dir das Herz auf“, findet er.

Dass Bulldogfahren überhaupt als Arbeit anerkannt wird, hat ihn schon als Bub fasziniert. Heute hört er dabei AC/DC und kann sich kaum eine schönere Beschäftigung vorstellen. „Ich dachte immer, Arbeit ist das, was meine Eltern gemacht haben: kochen, Gäste bewirten, zack, zack, zack!“ Die Landwirtschaft hingegen war das reinste Vergnügen. Und auch das Leben, das dazugehört: aufstehen um 5 Uhr morgens, noch im Schlafanzug in die warme Stube huschen und die Füße am Ofentürl aufwärmen, gemeinsam mit den Großeltern eingebrockte Semmeln vom Vortag aus einer großen Milchschüssel löffeln und dann in den Stall gehen. „Für uns Buben hat meine Oma immer noch extra Kaba-Pulver in die Morgensuppe gerührt“, erinnert er sich. „Damit wir groß und stark werden.“ Hat funktioniert.

Die Gerichte seiner Kindheit stehen noch heute auf der Liste seiner Lieblingsspeisen. „Brotna Reisch“ zum Beispiel. Übersetzt: gebratener Reis, eines der signature dishes seiner Oma. Weil’s in einer laufenden Landwirtschaft unkompliziert zugehen musste, durfte die Essensvorbereitung nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. Für dieses Rezept füllte die Oma zwei Drittel Reis, ein Drittel Milch und etwas Salz in ein Reindl und schob es ins Ofenrohr. Das Essen hat sich quasi von selbst gekocht, während alle draußen gearbeitet haben. Dazu gab es eingeweckte Zwetschgen, direkt vom Hof – ein Genuss. Im Sommer, wenn es heiß war und alle mit dem Heumachen beschäftig waren, wurden Sulzen vom Metzger geholt. Lucki schätzt diese einfachen bäuerlichen Mahlzeiten noch heute. Nach einem langen und heißen Arbeitstag freut er sich noch immer auf eine eiskalte, richtig saure Sulz mit einer schönen Halben Bier. Ein göttlicher kulinarischer Moment voller Glückseligkeit.

Er erinnert sich gern an diese Tage, die er so intensiv mit seinen Großeltern verbracht hat: „Meine Oma war so eine richtige Oma eben, wie man sie sich wünscht. Mit Kittelschürze und einem Herz am rechten Fleck. Und mein Opa, der hat sich immer gewünscht, dass Bayern wieder ein Königreich wird. Ein Königreich mit einem Kini – und am besten natürlich mit einem, der Ludwig heißt. So wie er und so wie ich.“ Der Opa hat sich lange gefragt, wie es möglich ist, dass die Leute in den Fernseher reinkommen. Aber dieser Mann hat ihm auch Sachen beigebracht, für die Lucki ihm heute noch dankbar ist: Er hat ihm erklärt, wie man Vogelarten bestimmt, wie man einen Dachsbau entdeckt und vor allem wie man eine Landwirtschaft führt.

In Luckis Brust schlagen mehrere Herzen, und eins davon schlägt ganz allein für seine Tiere. Er lässt den STOI links liegen, denn er hat es schon beim Aufwachen gehört: Heute Nacht hat eine seiner Mutterkühe ein Kalb bekommen. Mittlerweile kann er an den Lauten seiner Tiere erkennen, was sie brauchen. Haben sie Durst? Wollen sie Futter? Sucht eine Mutter nach ihrem Kalb?

So leise wie möglich schiebt er das große hölzerne Stalltor auf und hält kurz inne. Das ist einer der wenigen Momente in seinem Leben, wo er nervös wird. Ansonsten ist Lucki meistens cool und ausgeglichen. Er steht auf großen Bühnen, in Fernsehshows und vor Publikum, verhandelt mit Geschäftskunden, gibt wöchentlich Interviews, selten bringt ihn etwas aus der Ruhe. Aber der Morgen, wenn er ein neugeborenes Kalb erblickt, ist mit nichts zu vergleichen. „Da geht mir die Pumpe, aber so richtig.“

Natürlich hatte er recht. In der linken hinteren Ecke des Stalls wacht eine Mutterkuh vor einem kleinen Bündel, das gerade mühsam versucht, sich auf die Beine zu hieven. Alles ist ruhig. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages blinzeln durch das geöffnete Tor herein. Vorsichtig geht Lucki auf die mächtigen, tiefschwarzen Tiere zu und erinnert sich an einen alten Cowboyspruch: „Never trust a Bull“ – traue niemals einem Bullen. Das Gleiche gilt für eine Kuh, die gerade ein Junges bekommen hat. „Du darfst niemals leichtsinnig sein, musst immer gut aufpassen und allergrößten Respekt haben.“ Diese Kuh kann hochgradig aggressiv werden, wenn er sich jetzt dem Kalb nähert. Er spürt, wie sie nervös wird und schützend vor ihrem Jungen tänzelt. Lucki hat verstanden. Er wird heute Morgen keine Chance haben, das Kälbchen zu fangen, um es mit einer Ohrmarke zu piercen, so wie es am Tag der Geburt vorgesehen ist. Also beschließt er, die beiden in Ruhe zu lassen. Er genießt lieber den kurzen, friedlichen Augenblick, in dem dieses kleine Wesen seine ersten zaghaften Schritte macht. Sobald es das Euter der Mutter findet und anfängt zu säugen, ist ein erster Meilenstein in der Entwicklung dieses jungen Lebens geschafft, denn die sogenannte Biestmilch ist überlebenswichtig für das Tier.

BROTNA REISCH
MIT EINGEWECKTEN ZWETSCHGEN

500 g Rundkornreis

1 TL Salz

1 l Milch

40 g Butter

Eingeweckte Zwetschgen nach Maria Pfeffer:

500 g Zwetschgen

150 g Zucker

½ l Wasser

Den Reis in eine Bratreine geben. Das Salz in die Milch einrühren und den Reis damit übergießen. Für circa 1 Stunde bei 180 °C Umluft im Ofen backen. Den Reis aus dem Ofen nehmen, die Butter in kleine Flocken stechen und unter den heißen Reis rühren.

Die Zwetschgen entkernen und halbieren. Anschließend in ein Weckglas füllen. Den Zucker im Wasser aufkochen und ebenfalls in das Weckglas geben. Für circa 40 Minuten einwecken.

Den Reis zusammen mit den Zwetschgen servieren.

„Wenn jemand sagt, ich bin ein guter Koch, dann freut mich das. Aber wenn jemand sagt, ich bin ein guter Bauer, dann macht mich das stolz und glücklich“, stellt Lucki fest. Die Rinder, die hier im niederbayerischen Nirgendwo leben, sind ganz besondere Tiere. Wagyu-Rinder, die exklusivste Nutztierrasse der Welt, die das teuerste Fleisch der Welt liefern. „Ich würde niemals sagen, das sind meine Tiere. Ich bin vielleicht der Halter, aber nicht der Besitzer. Ich bin der Bauer, dem es wichtig ist, dass diese Tiere ein gutes Leben führen können.“ Er versteht seine Zucht als Symbiose, als Kreislauf, zu dem er seinen Teil beiträgt. Er streichelt einer Kuh über die Blesse. „Na du, alles klar bei dir?“ Sie kaut zufrieden, und damit ist alles gesagt.

Lucki war der Erste in Europa, der sich vorgenommen hat, diese Tiere, die ursprünglich aus Japan stammen, auf ökologischer Basis zu züchten, in Mutterkuhhaltung, frei lebend nach allen EU-Bio-Richtlinien. Dabei war es ein langer Weg von seinem Kindheitstraum bis zum heutigen Tag. Zwischen der romantischen Vorstellung, einen Bauernhof zu führen, und der Realität liegen viele harte Jahre und einige schlaflose Nächte.

Es war bei Familie Maurer klar gewesen, dass einer der beiden Söhne den gastronomischen Betrieb übernehmen würde und einer das Anwesen in Schergengrub. Lucki hatte nie Interesse daran gehabt, das Hotel zu erben. Er wollte schon immer den Bauernhof. Mit gerade mal Mitte 20 hatte er als Koch so viel von der Welt gesehen, dass es ihm erst mal reichte. Er hatte in seinen ersten Berufsjahren auf Events in ganz Deutschland, Europa und sogar in Australien gearbeitet und sich ein riesiges Netzwerk in der deutschen Kochelite aufgebaut. Aber er wollte wieder in seine Heimat und sich hier auf dem alten Hof seiner Großeltern mit seiner Frau niederlassen. Nach den wilden Jahren in der weiten Welt war ein eigenes Zuhause für ihn die nächste Stufe von Freiheit. Er träumte von einem Haus mit einem Probenraum für die Band im Keller, einer offenen Wohnküche und einer riesigen Badewanne, von der aus man fernsehen konnte.

Seine Eltern standen diesem Vorhaben anfangs skeptisch gegenüber. Lucki war Koch, ein guter Koch zwar, aber das war’s auch schon. Er war kein Unternehmer, und er war vor allem kein Landwirt und hatte keine Ahnung davon, was es bedeutet, einen solchen Betrieb zu führen. Um überhaupt in Schergengrub eine Baugenehmigung für ein neues Haus zu bekommen, mussten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Lucki musste Eigentümer des Hofes werden und eine landwirtschaftliche Ausbildung machen. Beides schaffte er schnell.

Heute schüttelt er den Kopf, wenn er daran denkt, wie blauäugig sie doch damals waren. Mit einem Haufen Schulden, aber ohne richtiges Konzept kamen sie hierher. Sie hatten eigentlich nicht viel. Und es wurde immer weniger. Lucki und Steffi versuchten, sich anfangs mit „Schergengruber Bio-Lamm“ über Wasser zu halten, aber der Betrieb machte von Jahr zu Jahr mehr Miese. Auch die Tannenbaumkulturen, die es damals auf dem Hof gab, warfen nicht viel ab.

Eines Abends dann nahm er sich vor, endlich eine Lösung für das Problem zu finden. Er setzte sich allein mit einem Glas Wein und einem großen Block an den Küchentisch, und sein Ziel war, nicht eher wieder aufzustehen, bevor er einen Plan hatte. Es musste einen Weg geben, wie er und Steffi das hier mit der Landwirtschaft schaffen konnten – er wollte es ja allen und vor allem sich selbst beweisen, dass er dazu fähig war.

Aus dem Glas Wein wurden schließlich drei Flaschen, und in seinem Kopf entwickelte sich der Hof in Schergengrub innerhalb weniger Stunden vom Wellnessbauernhof mit Reitstall bis hin zur großflächigen Marihuanaplantage. Er überlegte hin und her, was er mit seinen fast 40 Hektar Land anstellen könnte, und zerknüllte jeden Entwurf.

Bärwurz pflanzen? Schwachsinn. Es wachsen ja nicht mal Kartoffeln hier. Tabak anbauen? Auch nicht rentabel. Unterm Strich kam er immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: „Ich habe keine Zeit, kein Equipment und keine Ahnung.“

Nach vielen Stunden in Gesellschaft seiner Sorgen und seines Lieblingsweins wurde ihm eines klar: Das Einzige, was er momentan sicher in der Tasche hatte, war seine Profession als Koch. Er musste irgendetwas finden, einen landwirtschaftlichen Zweig, den er mit seinem kulinarischen Netzwerk verknüpfen konnte. Er hatte sich in den vergangenen Jahren gute Kontakte in der Kochwelt erarbeitet. Tim Mälzer, Stefan Marquard, Frank Buchholz, Wolfgang Otto – sie alle waren seine Freunde und brauchten immer wieder exklusive Lebensmittel. Er musste etwas Ausgefallenes produzieren, was bei Spitzenköchen höchst gefragt war. Für Austern, Hummer oder Champagnerreben war der Bayerische Wald allerdings wenig tauglich.

Tage später war Lucki als Koch gebucht und sollte im Auftrag von Otto Gourmet in der Münchner Olympiahalle grillen. Er baute gerade seine Station auf, als ihn jemand informierte:

„Hey Lucki, du machst heute Wagyu-Burger, gell.“

Lucki hielt inne. „Wagyu Burger …?“

Wagyu – das war doch dieses ganz besondere Fleisch. Er hatte es vor einiger Zeit bei einem Auftrag in Dänemark verarbeitet, und schon damals war ihm aufgefallen, wie extrem schmelzig und zart es war. Wie ein kalifornischer Rotwein, der nach Sonne schmeckt. Doch es gab noch mehr Vorteile:

„Wagyu-Burger, 50 Gramm 12,50 Euro“, stand auf dem Schild vor seinem Stand, und Lucki rechnete nach. Wenn er hier, auf diesem Festival, 50 Gramm für 12,50 Euro verkaufen konnte, dann würde ein Kilo Hackfleisch etwa 250 Euro kosten? Das war ja irre. Konnte das funktionieren? Hatte überhaupt jemand Interesse an so teurem Fleisch?

Er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Die Schlange vor seinem Stand wollte und wollte nicht enden. Jeder wollte dieses Fleisch probieren, und schon auf der Heimfahrt ratterte es in Luckis Kopf:

„Wagyu. Wagyu. Wagyu. Vielleicht ist es das. Was spricht dagegen, dass ich das auch mache?“, fragte er sich. „Wagyu-Rinder. Was, wenn ich der Erste bin, der bei uns hierzulande Wagyus züchtet, aber ökologisch.“ Auf seinem Hof angekommen, stürmte er sofort ins Haus und weckte Steffi mit den Worten: „Schatz, jetzt habe ich einen Masterplan!“ „Oh nein … nicht schon wieder einen Masterplan“, antwortete sie verschlafen. „Erzähl es mir morgen …“

Doch am Morgen war Lucki schon wieder verschwunden, um zu recherchieren. Damals gab es in Schergengrub noch kein Internet, und er fuhr ins Hotel seiner Eltern, um sich die Informationen zum Thema „Wagyu-Zucht“ zu holen, die er brauchte. Er wusste: Das ist es. Das ist sein Ding. Er fragte sich durch, besuchte andere Höfe in der Region, stellte Anfragen, kalkulierte. Es dauerte drei bis vier Monate, bis er endlich einen Züchter gefunden hatte, der ihm seinen ersten Bullen verkaufte – für eine unvorstellbar hohe Geldsumme. Dieser Bulle hieß Tango, und zusammen mit drei Angus-Damen, die verhältnismäßig leicht aufzutreiben waren, wurde er zum Urvater von Luckis Zucht, die heute mehr als 60 Tiere umfasst. „So fing es an“, denkt er zurück. „Mit drei Kühen, einem Bullen und null Ahnung.“

SULZ

500 g Schweinshaxerl

500 g Schweinenacken

3 l Wasser

Salz

250 ml Weißweinessig

2 Zwiebeln

1 EL schwarzer Pfeffer

10 Wacholderbeeren

10 Pimentkörner

4 Lorbeerblätter

Für die Garnitur:

2 gekochte Eier

2 Essiggurken

Petersilie

je nach Wunsch Karotten oder Paprika

SCHWEINSHAXERL und -nacken gut wässern. Mit dem Wasser, Salz, Essig, den Zwiebeln und den Gewürzen für circa 2 Stunden kochen, bis das Fleisch weich ist. Das Fleisch und die Haxerl herausnehmen und kalt werden lassen. Den Fond passieren, das Fett abschöpfen und nochmals einreduzieren lassen. Mit Salz und Essig nachschmecken. Der Fond muss brutal salzig und sauer sein, da er beim Erkalten noch mal viel Geschmack verliert.

DIE HAXERL abfieseln und den Nacken in circa 1 cm dicke Scheiben schneiden und in einen tiefen Teller geben. Mit den gekochtem Ei, Gewürzgurken und Petersilie garnieren und mit dem lauwarmen Fond aufgießen. Über Nacht kalt stellen. Kurz vor dem Servieren noch mal mit frischem schwarzem Pfeffer aus der Mühle verfeinern.

„Muuuuuuuhhhh!!“ Eine Kuh reißt ihn aus seinen Gedanken und katapultiert ihn zurück in die Gegenwart. Er tätschelt ihr liebevoll die Flanke. Jetzt stehen sie hier, seine Wagyus, und fast wöchentlich kommt derzeit ein Kälbchen zur Welt – für ihn ein Zeichen, dass es den Tieren gut geht und alles stimmt in diesem Kreislauf. Die Wagyus sind zu einer wichtigen Existenzgrundlage geworden. Lucki ist nicht nur als Fleischexperte, sondern mittlerweile auch als Rinderzüchter ein gefragter Ansprechpartner.

Er geht zurück in Richtung STOI. Montag ist Bürotag, und er muss dringend ein paar Aufträge abarbeiten, telefonieren, E-Mails schreiben. Seit er vor einigen Monaten gegen Tim Mälzer in einer Folge der VOX-Sendung Kitchen Impossible gewonnen hat, gehen die Anfragen in seinem Büro durch die Decke. Fernsehsender, Magazine, Zeitungen, Firmen – alle wollen mit ihm zusammenarbeiten, wollen ihn als Experten gewinnen oder als Typ, der wiederum das Publikum begeistert.

Hinter Luckis Erfolg stecken drei Geheimnisse. Erstens: Er ist sich immer treu geblieben, hat sich nie verkauft und auf jede Frage eine schlagfertige Antwort – das mögen die Medien. Zweitens: Lucki ist eine Multitasking-Maschine, die fast rund um die Uhr auf Hochtouren läuft. Wo andere noch überlegen, zögern, abwarten, hat er bei Projekten, die ihn interessieren, schon längst zugesagt und einen Plan erstellt, wie man die Idee am schnellsten umsetzen kann. Geht nicht? Gibt’s nicht. Lösungen liegen meistens auf dem Weg.

Und drittens: Hinter jedem starken Mann steht bekanntlich eine starke Frau – hinter einem Mann wie Lucki Maurer stehen aber mindestens zwei. Seine Frau Steffi und seine Assistentin Lisa, die von ihm scherzhaft als „die linke und die rechte Hand des Teufels“ bezeichnet werden. Ohne die beiden wäre er manchmal ganz schön verloren. Sie warten heute schon im Büro auf ihn. Die beiden Frauen schmeißen den Laden im Hintergrund und behalten den Überblick über seine vielen Termine und die lange To-do-Liste.

Im Besprechungsraum auf dem großen Holztisch haben sie einige Exemplare seines neuesten Kochbuches bereitgelegt, die Lucki heute noch signieren soll. Sie werden dann sofort verpackt und verschickt. Später setzt er sich mit seiner Köchin Eva Brandl und seinem Koch Julian Koller an diesem Tisch zusammen, um die Woche zu planen. Am Samstag wird ein großes Event im STOI mit 35 Gästen unter dem Titel „Das beste Fleisch der Welt“ stattfinden, und da muss jeder Handgriff sitzen.

Am heutigen Nachmittag wartet außerdem einer seiner Lieblingsjobs auf ihn: Tierarzt Dr. Bruno Sigmund wird vorbeikommen, um die Wagyus fit für die Weide zu machen. Es gibt für Lucki kaum einen bewegenderen Anblick als den, wenn „seine“ Rinder im Frühjahr zurück ins Freie können. Davor werden sie erst einmal entwurmt, durchgecheckt und bekommen einen Bolus zur Versorgung mit ausreichend Nährstoffen. Gras allein reicht bei Weidehaltung nicht aus, bestimmte Spurenelemente wie Zink oder Selen würden den Tieren fehlen. Der Bolus sieht aus wie ein Stück Seife und wird in den Pansen der Rinder gesetzt. Das ist aber auch schon der größte Eingriff in das natürliche System.

Luckis Hof ist ein Bio-Betrieb. „Heute mache ich das aus Überzeugung, auch wenn mir dieses Bio manchmal Steine in den Weg legt“, sagt er. Andere Bauern sind oft ganz früh im Jahr unterwegs, um Kunstdünger auf ihre Felder auszubringen. Er selbst muss da noch mehrere Wochen warten, weil es natürlich in einer ökologischen Landwirtschaft nur organische Düngemöglichkeiten wie Kalk sowie Mist oder Kompost aus dem eigenen Betrieb gibt. Als er seine Landwirtschaft übernommen hat, sah er sich selbst in einer Zwickmühle. Er hat sich dafür entschieden, Fleischrinder zu produzieren. Und so krass sich das anhört, so ehrlich ist es. Seine Tiere sind Fleischrinder. Sehr exklusive zwar, aber das ändert nichts an der Tatsache. Und natürlich hat er sich die Frage gestellt: Darf man in einer Zeit, in der es immer mehr Veganer und Vegetarier gibt, überhaupt noch Fleisch essen? Ist Karnivore zu einem Schimpfwort geworden?

Lucki war viel in der Welt unterwegs, hat in anderen Kulturkreisen gekocht und sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt. „Für mich ist das noch immer eine heftige Geschichte“, gibt er zu. „Wir züchten diese Tiere –
und ich kann nur damit leben, weil wir das in einer Form machen, die für mich vertretbar ist.“ Lucki hofft, dass er seinen Beitrag zu einer bewussten Ernährung mit Fleisch leisten kann. Wenn schon Fleisch essen – dann sollte man sich zumindest darüber Gedanken machen. Sein oberstes Ziel ist es, diesen Lebewesen alles zu geben, was sie brauchen.