Das Parfum

1

Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouchés, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen berühmteren Finstermännern an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterläßt: auf das flüchtige Reich der Gerüche.

Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken

Und natürlich war in Paris der Gestank am größten, denn Paris war die größte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es einen Ort, an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte, zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, nämlich den Cimetière des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die Toten des Krankenhauses Hôtel-Dieu und der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht, achthundert Jahre lang

Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei über dem Friedhof und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Horn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr, daß ihr Geruch den Leichengeruch überdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tötete alle Empfänglichkeit für äußere Sinneseindrücke. Sie wollte nur noch, daß der Schmerz aufhöre, sie wollte die eklige Geburt so rasch als möglich hinter sich

Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei. Immer noch liegt die Frau mit dem

Was ihr geschehen sei?

»Nichts.«

Was sie mit dem Messer tue?

»Nichts.«

Woher das Blut an ihren Röcken komme?

»Von den Fischen.«

Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.

Da fängt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwarm von Fliegen und zwischen Gekröse und abgeschlagenen Fischköpfen das Neugeborene, zerrt es heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie geständig ist und ohne weiteres zugibt, daß sie das Ding bestimmt würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit vier anderen getan habe, macht man ihr den Prozeß, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindermords und schlägt ihr ein paar Wochen später auf der Place de Grève den Kopf ab.

Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme gewechselt. Keine wollte es länger als ein paar Tage behalten. Es sei zu gierig, hieß es, sauge für zwei, entziehe den anderen Stillkindern die Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da rentables Stillen bei einem einzigen Säugling unmöglich sei. Der zuständige Polizeioffizier, ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind schon zur Sammelstelle für Findlinge

2

Einige Wochen später stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte dem öffnenden Pater Terrier, einem etwa fünfzigjährigen kahlköpfigen, leicht nach Essig riechenden Mönch »Da!« und stellte den Henkelkorb auf die Schwelle.

»Was ist das?« sagte Terrier und beugte sich über den Korb und schnupperte daran, denn er vermutete Eßbares.

»Der Bastard der Kindermörderin aus der Rue aux Fers!«

Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht des schlafenden Säuglings freigelegt hatte.

»Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenährt.«

»Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat bis auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluß. Jetzt könnt Ihr ihn selber weiterfüttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rübensaft. Er frißt alles, der Bastard.«

Pater Terrier war ein gemütlicher Mann. In seine Zuständigkeit fiel die Verwaltung des klösterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme und Bedürf‌tige. Und er erwartete, daß man ihm dafür danke sagte und ihn

»Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf du hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, daß es diesem Säugling durchaus nicht schaden würde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Brüsten läge.«

»Ihm nicht«, schnarrte die Amme zurück, »aber mir. Zehn Pfund habe ich abgenommen und dabei gegessen für drei. Und wofür? Für drei Franc in der Woche!«

»Ach, ich verstehe«, sagte Terrier fast erleichtert, »ich bin im Bilde: Es geht also wieder einmal ums Geld.«

»Nein!« sagte die Amme.

»Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht es ums Geld. Einmal wünschte ich mir, daß ich öffnete, und es stünde ein Mensch da, dem es um etwas anderes ginge. Jemand, der beispielsweise eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibrächte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar Nüsse. Es gibt doch im Herbst eine Menge Dinge, die man vorbeibringen könnte. Blumen vielleicht. Oder wenn bloß jemand käme und freundlich sagte: ›Gott

»Nicht von mir«, sagte die Amme.

»Aber ich sage dir eines: Du bist nicht die einzige Amme im Sprengel. Es gibt Hunderte von erstklassigen Ziehmüttern, die sich darum reißen werden, diesen entzückenden Säugling für drei Franc pro Woche an die Brust zu legen oder ihm Brei oder Säfte oder sonstige Nährmittel einzuflößen …«

»Dann gebt ihn einer von denen!«

»… Andrerseits ist es nicht gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer weiß, ob es mit anderer Milch so gut gedeiht wie mit deiner. Es ist den Duft deiner Brust gewöhnt, mußt du wissen, und den Schlag deines Herzens.«

Und abermals nahm er einen tiefen Atemzug vom warmen Dunst, den die Amme verströmte, und sagte dann, als er merkte, daß seine Worte keinen Eindruck auf sie gemacht hatten:

»Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache mit dem Prior besprechen. Ich werde ihm vorschlagen, dir künftig vier Franc in der Woche zu geben.«

»Nein«, sagte die Amme.

»Also gut: fünf!«

»Wieviel verlangst du denn noch?« schrie Terrier sie an. »Fünf Franc sind ein Haufen Geld für die untergeordnete Aufgabe, ein kleines Kind zu ernähren!«

»Ich will überhaupt kein Geld«, sagte die Amme. »Ich will den Bastard aus dem Haus haben.«

»Aber warum denn, liebe Frau?« sagte Terrier und fingerte wieder in dem Henkelkorb herum. »Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er schreit nicht, er schläft gut, und er ist getauft.«

»Er ist vom Teufel besessen.«

Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.

»Unmöglich! Es ist absolut unmöglich, daß ein Säugling vom Teufel besessen ist. Ein Säugling ist kein Mensch, sondern ein Vormensch und besitzt noch keine voll ausgebildete Seele. Infolgedessen ist er für den Teufel uninteressant. Spricht er vielleicht schon? Zuckt es in ihm? Bewegt er Dinge im Zimmer? Geht ein übler Gestank von ihm aus?«

»Er riecht überhaupt nicht«, sagte die Amme.

»Da hast du es! Das ist ein eindeutiges Zeichen. Wenn er vom Teufel besessen wäre, müßte er stinken.«

Und um die Amme zu beruhigen und seinen eigenen Mut unter Beweis zu stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.

»Ich rieche nichts Absonderliches«, sagte er, nachdem er eine Weile geschnuppert hatte, »wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings, als ob da etwas aus der Windel röche.« Und er hielt ihr den Korb hin, damit sie seinen Eindruck bestätige.

»Weil er gesund ist«, rief Terrier, »weil er gesund ist, deshalb riecht er nicht! Nur kranke Kinder riechen, das ist doch bekannt. Bekanntlich riecht ein Kind, das Blattern hat, nach Pferdedung, und eines, welches Scharlachfieber hat, nach alten Äpfeln, und ein schwindsüchtiges Kind, das riecht nach Zwiebeln. Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll es denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?«

»Nein«, sagte die Amme. »Meine Kinder riechen so, wie Menschenkinder riechen sollen.«

Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zurück, denn er fühlte, wie die ersten Wallungen von Wut über die Widerborstigkeit der Person in ihm aufstiegen. Es war nicht auszuschließen, daß er im Fortgang des Disputes beide Arme zur freieren Gestik benötigte, und er wollte nicht, daß der Säugling dadurch Schaden nähme. Vorerst allerdings verknotete er seine Hände hinter dem Rücken, streckte der Amme seinen spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: »Du behauptest also zu wissen, wie ein Menschenkind, das ja immerhin auch – daran möchte ich erinnern, zumal wenn es getauft ist – ein Gotteskind ist, zu riechen habe?«

»Ja«, sagte die Amme.

»Und behauptest ferner, daß, wenn es nicht röche, wie du meintest, daß es riechen solle – du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue Saint-Denis! –, es dann ein Kind des Teufels sei?«

»Das will ich nicht gesagt haben«, antwortete sie ausweichend. »Ob die Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das müßt Ihr selbst entscheiden, Pater Terrier, dafür bin ich nicht zuständig. Ich weiß nur eins: daß mich vor diesem Säugling graust, weil er nicht riecht, wie Kinder riechen sollen.«

»Aha«, sagte Terrier befriedigt und ließ seinen Arm wieder zurückpendeln. »Das mit dem Teufel nehmen wir also wieder zurück. Gut. Aber nun sage mir gefälligst: Wie riecht ein Säugling denn, wenn er so riecht, wie du glaubst, daß er riechen solle? Na?«

»Gut riecht er«, sagte die Amme.

»Was heißt ›gut‹?« brüllte Terrier sie an. »Gut riecht vieles. Ein Bund Lavendel riecht gut. Suppenfleisch riecht gut. Die Gärten von Arabien riechen gut. Wie riecht ein Säugling, will ich wissen?«

Die Amme zögerte. Sie wußte wohl, wie Säuglinge rochen, sie wußte es ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende genährt, gepflegt, geschaukelt, geküßt … sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den Säuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch nie mit Worten bezeichnet.

»Na?« bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernägeln.

Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal mit dem Finger über die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den Finger wie zufällig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.

»Nicht direkt«, sagte die Amme. »Aber ich war einmal in einem großen Hotel in der Rue Saint-Honoré und habe zugesehen, wie es gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, daß ich es nicht mehr vergessen habe.«

»Jaja. Schon recht«, sagte Terrier und entfernte den Finger von der Nase. »Bitte schweige jetzt! Es ist für mich überaus anstrengend, mich weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du weigerst dich, aus welchen Gründen auch immer, den dir anvertrauten Säugling Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ernähren, und erstattest ihn hiermit seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zurück. Ich finde das betrüblich, aber ich kann es wohl nicht ändern. Du bist entlassen.«

Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloß. Dann ging er in sein Büro.

3

Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und beschäftigte sich nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines kritischen Geistes. Zwar wäre er nicht so weit gegangen, wie manche es taten, die

»Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verdächtigungen, die gegen es erhoben werden. Du röchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt die unverschämte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu? Duziduzi!«

Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem Säugling mit dem Finger über den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit »duziduzi«, was er für einen auf Kleinkinder zärtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt. »Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!«

Nach einer Weile zog er den Finger zurück, hielt ihn sich unter die Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags gegessen hatte.

Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und

Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein und schnaubte sie in kurzen Stößen aus, wie bei einem unvollkommenen Niesen. Dann rümpf‌te sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier überzogen und offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck, daß sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. Während die matten Augen des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu fixieren, und Terrier hatte das

Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er wollte das Ding loshaben, möglichst schnell, möglichst gleich, möglichst sofort.

Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riß seinen roten Schlund auf und kreischte so widerwärtig schrill, daß Terrier das Blut in den Adern erstarrte. Er schüttelte den Korb mit ausgestreckter Hand und schrie »Duziduzi«, um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brüllte nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor Brüllen zerplatzen.

Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem … ›Teufel‹ wollte er sagen und riß sich zusammen und verkniff es sich, … weg mit diesem Unhold, mit diesem unerträglichen Kind! Aber wohin? Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhäuser im Quartier, aber das war ihm zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg mußte das Ding, so weit, daß man’s nicht hörte, so weit, daß man’s ihm nicht jede Stunde wieder vor die Türe stellen konnte, nach Möglichkeit mußte es in einen anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros, in den Faubourg Saint-Antoine, das war’s!, dahin kam der schreiende Balg, weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloß.

Und er raffte seine Soutane und ergriff den brüllenden

4

Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. Äußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, nämlich wie die Mumie eines Mädchens; innerlich aber war sie längst tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken über die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den Geruchssinn verloren und jedes Gefühl für menschliche Wärme und menschliche Kälte und überhaupt jede Leidenschaft. Zärtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweif‌lung. Sie empfand nichts, als

Auf der anderen Seite … oder vielleicht gerade wegen ihrer vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die Hose schiß, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger. Exakt die Hälfte des Kostgelds verwandte sie für die Zöglinge, exakt die Hälfte behielt sie für sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren Gewinn zu erhöhen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Geschäft hätte sich sonst für sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und darüberhinaus noch so viel besitzen, daß sie es sich leisten konnte, zuhause zu sterben und nicht im Hôtel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem öffentlichen

Für den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard ein Segen. Wahrscheinlich hätte er nirgendwo anders überleben können. Hier aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zähe Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall überlebt hatte, ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte tagelang wäßrige Suppen essen, er kam mit der dünnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemüse und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit überlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbrühung der Brust mit kochendem Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht verkrüppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war zäh wie ein resistentes Bakterium und genügsam wie ein Zeck, der still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen Blutströpfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er für

Selbstverständlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu wählen. Aber er entschied sich

Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu bieten hat als ein immerwährendes Überwintern. Der kleine häßliche Zeck, der seinen bleigrauen Körper zur Kugel formt, um der Außenwelt die geringstmögliche Fläche zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht, um nichts zu verströmen, kein bißchen von sich hinauszutranspirieren. Der Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert, meilenweit, das Blut vorüberwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft niemals erreichen wird. Der Zeck könnte sich fallen lassen. Er könnte sich auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum Sterben legen, es wäre nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis ihm der höchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zurückhaltung auf, läßt sich fallen und krallt und bohrt und beißt sich in das fremde Fleisch …

So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot; kein Lächeln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft. Jede andere Frau hätte dieses monströse Kind

Die andern Kinder dagegen spürten sofort, was es mit Grenouille auf sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die Kiste, in der er lag, und rückten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen, als wäre es kälter geworden im Zimmer. Die jüngeren schrien manchmal des Nachts; ihnen war, als zöge ein Windzug durch die Kammer. Andere träumten, es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die älteren zusammen, um ihn zu ersticken. Sie häuf‌ten Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nächsten Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdrückt und blau, aber nicht tot. Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwürgen, am Hals, mit eigenen Händen, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine sicherere Methode gewesen wäre, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht berühren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man nicht mit eigner Hand zerquetschen will.

Als er größer wurde, gaben sie die Mordanschläge auf. Sie hatten wohl eingesehen, daß er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie ihm aus dem Weg, liefen davon, hüteten sich in jedem Fall vor Berührung. Sie haßten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersüchtig oder futterneidisch auf ihn. Für solche Gefühle hätte es im Hause Gaillard nicht den geringsten Anlaß gegeben. Es störte sie ganz einfach, daß er da war. Sie konnten ihn nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.