Einleitung

»Wer bin ich – und was geht da oben in meinem Kopf vor?«

Dank der enormen Fortschritte der Neurowissenschaften in den letzten Jahren bekommen das Gehirn und das Nervensystem des Menschen in der Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit. In unser aller Kopf schlummert ein faszinierendes Organ! Zunehmend mehr Menschen interessieren sich für die Ein- und Ausfälle unseres Gehirns und unseres Bewusstseins.

Der britische Neurologe Oliver Sacks war mit seinem Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte einer der ersten Autoren, die mit einem erzählenden, populären Sachbuch über Phänomene aus der Neurologie bekannt geworden sind. Sein Ansatz, auf humorvolle und spannende Art Einblicke in die skurrilsten Fälle aus seiner neurologischen Praxis zu ermöglichen, war ein neuer Weg, wissenschaftliche Erkenntnisse für interessierte Laien zugänglich zu machen. Es gibt mittlerweile eine wahre Flut von Informationen: populäre Fachzeitschriften, Romane über Einzelschicksale, Kinofilme und unendlich vielfältige Möglichkeiten, sich im Netz die gesamte Palette von neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen erklären zu lassen. Was es aber bisher nicht gibt, ist ein Besuch im realen »Gemischtwarenladen« der neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Häufig sitzen wir am Abendbrottisch und diskutieren über interessante und bewegende Fallgeschichten, die wir im Praxisalltag erlebt haben. Christian, der nun schon sein halbes Leben lang als Neurologe und Psychiater in der Praxis tätig ist, sagte irgendwann: »Über diese Fälle müsste man eigentlich mal in einem Buch berichten.« Nicole war sofort von dem Gedanken angetan: »Dann sollten wir die Geschichten aber einfach, verständlich und mitfühlend darstellen! Denn im Vordergrund steht ja der Mensch und seine Krankheit!«

Gesagt, getan! So entstanden nach und nach dreißig spannende und bewegende Erzählungen, die die Vielfalt der neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen und manchmal auch die Detektivarbeit der richtigen Diagnose zeigen. Wir sehen viel Tragisches, manches Skurrile, oft Herzerwärmendes und auch das Glück der Heilung und Genesung.

Nun öffnen wir unseren »Gemischtwarenladen« und laden Sie ein, uns für die Dauer eines fiktiven Jahres über die Schulter zu schauen.

Und warum tun wir das? Wir wollen Mut machen! Und wir wollen informieren und Einblicke gewähren, die sonst nur wenige haben. Wir möchten vermitteln, was uns als Ärzten und vor allem als Menschen während unserer Arbeit durch den Kopf geht. Aber vor allem versuchen wir zu schildern, wie die Patienten und auch deren Angehörige eine Krankheit erleben, die sie wortwörtlich »bis ins Mark« trifft. Unsere Arbeit ist immer spannend, oft dramatisch, manchmal todtraurig, häufig sonderbar – und immer wieder auch beglückend und bereichernd.

Auch wenn wir an manchen Tagen erschöpft sind und am liebsten alles hinschmeißen würden: Was wir tun, ist sinnvoll und wichtig. Und dieses Gefühl überstrahlt alles andere.

Hinweis:

Wir haben alle Kapitel dieses Buches gemeinsam formuliert, sie aber jeweils aus der Ich-Perspektive desjenigen erzählt, der oder die den direkten Kontakt mit dem jeweiligen Patienten hatte. Wer gerade »spricht«, ist jeweils unter der Kapitelüberschrift vermerkt. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieselbe Krankheit oft auch zu sehr ähnlichen Krankengeschichten führt. Um das jeweilige Krankheitsbild prägnant darzustellen und dabei die Persönlichkeitsrechte zu wahren, haben wir jeweils verschiedene Patienten und deren individuelle Geschichten zu einer neuen, fiktiven Patienten-Person montiert. Fiktiv sind auch die Namen aller im Text vorkommenden Menschen, außer die von uns selbst. Ähnlichkeiten mit realen Personen sowohl bezüglich des Namens als auch der dazugehörigen Geschichte sind damit rein zufällig.

Eine Ausnahme ist das Kapitel »Tschakka! Ich schaff das!« Der darin beschriebene reale Patient und seine Mutter haben ihr Einverständnis zur Veröffentlichung gegeben.

Wir verwenden in den Erzählungen meist nur die männliche Form der Begriffe »Arzt«, »Psychologe«, »Kollege«, »Psychotherapeut« und »Psychiater«, wenn wir von diesen Personengruppen im Allgemeinen sprechen. Wir haben festgestellt, dass der Lesefluss durch konsequent gendergerechtes Formulieren manchmal erheblich gestört wird – insbesondere wenn die Wörter im Plural stehen. Natürlich sind in den oben genannten Fällen immer beide Geschlechter gemeint.

Dies ist kein vollständiges »Lexikon« aller neurologischen Krankheiten und Symptome, sondern ein Streifzug durch unseren Praxisalltag.

Am Ende eines Kapitels haben wir Fachwissen-Boxen für diejenigen Fallgeschichten erstellt, bei denen im Text das Krankheitsbild nicht ausführlich genug erläutert wurde.

Christian und Nicole Knobloch, im Juli 2021

1 | Eine Schwäche

Nicole, Januar

»Man hat schon alles Mögliche mit mir veranstaltet, Frau Doktor. Aber dieses Schwächegefühl in den Armen geht einfach nicht weg. Ich kann nicht mal eine leichte Einkaufstasche hochheben, geschweige denn meine kleine Tochter.«

Die hübsche Frau mit dem blonden Pferdeschwanz, die sich heute zum ersten Mal bei mir vorstellt, sieht mich entnervt an. Sie wirkt erschöpft und ratlos. »Letztens wollte ich Mia zum Anziehen auf die Kommode heben, da ist sie mir fast aus den Armen gerutscht.«

»Und Ihr Hausarzt hatte Sie wegen der Schwäche und der Schmerzen im Arm schon in eine Klinik überwiesen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Eigentlich hatte ich nur diese Schwäche in den Armen. Eher keine Schmerzen. Im Krankenhaus hat man mich im November neurologisch komplett durchuntersucht. Mit Nadeln in die Muskeln gestochen, Strom auf die Nerven gegeben und dieses MRT der Halswirbelsäule gemacht. Das war alles schon belastend genug. Aber es kam ja noch viel schlimmer: Die Neurochirurgen im Haus haben eine Verengung in meinem Wirbelkanal in der Halswirbelsäule gesehen und wollten mich sofort operieren.«

»Ah, ja, ich sehe es hier im Arztbrief. Spinalkanalstenose.«

»Ja, genau. Natürlich musste ich das zuerst mit meinem Mann besprechen, der ja dann die ganze Zeit auf Mia aufzupassen hatte. Wissen Sie, er baut sich gerade ein eigenes Unternehmen auf und kann sich keine Ausfallzeit erlauben. Na ja, auf jeden Fall hat man uns gesagt, es müsse dringend operiert werden, die neurologischen Untersuchungen hätten das auch nahegelegt. Dann habe ich mich halt schweren Herzens für die OP entschieden. Das war eine schreckliche Woche da im Krankenhaus! Ich hatte nach der OP starke Schmerzen und konnte mich kaum bewegen. Nach der anschließenden vierwöchigen ambulanten Reha bin ich jetzt seit zwei Wochen wieder zu Hause und merke, dass die Beschwerden überhaupt nicht besser geworden sind, eher sind meine Arme noch schwächer geworden. Können Sie sich vorstellen, wie Weihnachten bei uns war? Mein Mann musste mir sogar das Gemüse auf dem Teller zerteilen, so wenig Kraft hatte ich.« Sie schaut mich verzweifelt an.

»Ach, Sie Ärmste, das klingt aber wirklich nach einer schlimmen Tortur, die Sie da hinter sich haben. Vor allem weil es letztlich überhaupt nicht besser geworden ist. Ich kann gut verstehen, dass Sie sich jetzt Sorgen machen und wissen möchten, was mit Ihnen eigentlich los ist. Dafür muss ich Sie leider noch mal gründlich neurologisch untersuchen, Frau Kilian. Dann sehen wir weiter. Und keine Sorge: Es wird nicht so unangenehm wie in der Klinik.«

Bei der Untersuchung stelle ich eine ausgeprägte Schwäche der Schulter- und Oberarmmuskulatur auf beiden Seiten fest. War die Spinalkanalstenose wirklich die Ursache für diese Schwäche? Ich bezweifle es inzwischen. Außerdem fällt mir seit der ersten Begrüßung auf, dass die Stimme der jungen Frau merkwürdig kraftlos klingt. Steckt vielleicht etwas ganz anderes hinter den Symptomen? Ist sie am Ende völlig umsonst operiert worden?

»Sagen Sie, Frau Kilian, hat Ihre Stimme sich in letzter Zeit verändert? Haben Sie da etwas bemerkt?«

Sie sieht mich verwundert an. »Mein Mann hat auch schon gesagt, dass ich so belegt spreche. Ich dachte, vielleicht hatte ich eine leichte Halsentzündung … Oder kommt das von der Intubation bei der Operation? Dabei wird man doch beatmet, oder?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, davon ist es bestimmt nicht. Sie klingen so heiser. Das kommt bei manchen Muskelerkrankungen vor. Hatten Sie schon mal Probleme beim Schlucken?«

»Nein, das habe ich noch nicht bemerkt.«

»Wissen Sie was? Ich werde jetzt nicht auch noch in Ihren Muskeln herumpieksen, sondern schicke Sie am besten gleich einmal in eine neurologische Klinik zur weiteren Abklärung.«

Die junge Frau schaut entsetzt hoch. »Noch mal in die Klinik? Oh nein! Das ist ja … damit hab’ ich nicht gerechnet. Wie soll ich das machen? Ich habe keine Eltern und Schwiegereltern hier, die auf Mia aufpassen könnten. Und mein Mann kann unmöglich noch einmal so lange ausfallen. Was denken Sie, wie lange es dauern wird?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht genau sagen. Aber ich lasse da jetzt anrufen und frage, ob man Sie schnellstmöglich aufnehmen kann.«

Ich bitte Anja, unsere junge medizinische Fachangestellte, eine Verbindung zur Klinik herzustellen.

»Und was die Betreuung Ihrer Kleinen betrifft: Haben Sie nicht eine Freundin oder Nachbarin, die Ihre Mia in der Zeit tagsüber nehmen könnte?«

Sie denkt nach, während sie sich langsam und mit viel Mühe die Hose wieder hochzieht.

»Mmh, tja, vielleicht die nette ältere Dame aus unserem Haus. Die freut sich immer so, wenn sie Mia sieht. Ich glaube, die war früher Erzieherin. Ich muss sie mal fragen, ob sie sich das vorstellen könnte. Zum Schlafen kann Mia dann in ihr eigenes Bettchen gehen. Das schafft mein Mann dann schon.«

Das interne Telefon klingelt. »Frau Doktor, die Klinik für Sie, ich lege auf«, sagt Anja am anderen Ende.

»Danke, Anja, ich übernehme.«

Frau Kilian ist so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht wirklich mitbekommt, wie ich dem Neurologen am Telefon meine Verdachtsdiagnose mitteile. »Ja, hallo, Herr Kollege«, sage ich mit gesenkter Stimme. »Ich habe hier eine junge Patientin mit einer generalisierten Muskelschwäche und einer leichten Sprechstörung. Ich denke zwar am ehesten an eine Muskelerkrankung, aber natürlich ist auch eine ALS nicht sicher auszuschließen … Ja, klar, das überlasse ich natürlich Ihnen.«

Die Kollegen in der Klinik haben es nicht so gern, wenn man sich zu einem Vorverdacht aufschwingt. Sollen sie halt alle Register der Diagnostik ziehen. Wichtig ist, dass der Frau schnell geholfen wird. Nach der Klärung einiger organisatorischer Fragen lege ich auf. Frau Kilian kann schon am nächsten Tag aufgenommen werden.

»Ich glaube, die Idee mit der Nachbarin ist sehr gut, Frau Kilian. Ihrer Tochter wird es gefallen, sie ist ja auch schon ein Kindergartenkind, nicht? Da wird sie ein paar Stunden am Tag mit der Nachbarin gut auskommen, zumal wenn die früher Erzieherin war. Und Ihr Mann kriegt das bestimmt auch gut hin. Ich schreibe Ihnen jetzt die Einweisung in die Klinik und hoffe, dass wir uns dann bald wiedersehen, um den Befund zu besprechen. Sagen wir in zwei Wochen?«

Sie schlurft zur Tür. »Ja, gut, vielen Dank, Frau Doktor. Und drücken Sie mir die Daumen.«

Ich winke ihr noch nach und lächle sie dabei aufmunternd an. »Mache ich, Frau Kilian, alles Gute.«

Aber als ich mich umdrehe und in mein Sprechzimmer zurückgehe, ist das Lächeln auf meinem Gesicht schlagartig weg.

So ein Mist! Hoffentlich steckt nicht wirklich eine jugendliche Form der ALS dahinter! Die amyotrophe Lateralsklerose ist eine der schlimmsten und gemeinsten neurodegenerativen Erkrankungen, die man sich vorstellen kann. Auch der berühmte Physiker Stephen Hawking litt darunter. Bei ALS werden durch bisher noch nicht eindeutig geklärte Mechanismen nach und nach diejenigen Nervenzellen zerstört, die normalerweise das gesamte Muskelsystem mit Input versorgen. Durch die fehlende Stimulation der Nerven verkümmert die Muskulatur des gesamten Körpers. Dies führt über kurz oder lang zu einem Schwund der Muskeln in den Armen und Beinen, im Kopf- und Halsbereich und dann schließlich zu einer Lähmung der Atemmuskulatur.

Das Kind nicht mehr auf den Arm nehmen zu können, nicht mehr laufen zu können und im Rollstuhl sitzen zu müssen! Nicht mehr richtig sprechen und schlucken zu können und die Gesichtsmuskeln nicht mehr zu einem Lächeln bewegen zu können. Zum Schluss möglicherweise beatmet werden zu müssen. Genau das hieße diese Diagnose für die junge Mutter. Falls sie die Krankheit hätte, würde sie innerhalb weniger Jahre sterben.

Die Befunde aus dem Krankenhaus, die mir Frau Gerber, unsere langjährige erste Kraft, nach einer Woche auf den Schreibtisch legt, sind niederschmetternd.

In der Mittagspause beim Italiener erzähle ich Christian von dem Befund und zitiere aus dem Bericht der Klinik: »Die Summe der Ergebnisse aller bisher erfolgten Untersuchungen legt die Diagnose ALS nahe.«

»Oh nein! Die arme Frau! Ist denn jegliche andere Erkrankung, die mit einer Muskelschwäche einhergeht, ausgeschlossen worden?« Christian ist auch betroffen.

»Ich muss mich da jetzt erst mal auf die Einschätzung der Klinik verlassen. Heute Nachmittag habe ich die unangenehme Pflicht, die Patientin darüber aufzuklären.« Ich schaue auf die Uhr. »Ich hasse das! Noch zwei Stunden, dann kommt sie.«

Frau Kilian schleicht in mein Sprechzimmer. Gequält schaut sie aus dem Stuhl zu mir hoch. »Nicht, Frau Doktor, ich habe was ganz Schlimmes, oder?«

Ich schlucke. »Frau Kilian, die Ergebnisse der Untersuchungen haben leider gezeigt, dass Sie eine Erkrankung haben, bei der die Nervenzellen zerstört werden, die Ihre Muskeln versorgen. Durch deren Ausfall kommt es nach und nach zu einem Muskelschwund am ganzen Körper. ALS heißt die Krankheit. Amyotrophe Lateralsklerose. Obwohl sehr viel geforscht wird, gibt es bis heute leider noch keine befriedigende Therapie. Aber ein Medikament, das den Krankheitsverlauf verlangsamt, ist schon verfügbar. Das werde ich Ihnen auf jeden Fall verordnen.«

Frau Kilian bricht in ein Schluchzen aus. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, und für einige Minuten hocke ich neben ihr, den Arm um ihre Schultern gelegt. Ich spüre, wie das Schluchzen und die Verzweiflung ihren zarten Körper schütteln, und kann nichts zu ihrem Trost sagen.

»Wie lange habe ich noch?«, stößt sie zwischen dem Schluchzen hervor.

Ich drücke sie noch einmal fest und gehe zurück zu meinem Schreibtisch. »Das kann man nicht genau sagen. Es ist sehr unterschiedlich. Aber die Krankheit wird am Anfang nur langsam voranschreiten. Sie werden Ihr Schicksal irgendwann annehmen und alles tun, um Ihr Kind und Ihren Mann gut versorgt zu wissen, so wie ich Sie einschätze. Frau Kilian, Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Manchmal kommt auch bei so schwerwiegenden Krankheitsbildern alles anders, als man denkt oder als die Schulmedizin zu wissen glaubt.«

Zum ersten Mal hebt sie den Kopf.

Ich reiche ihr ein Taschentuch und ein Glas Wasser. Sie putzt sich die Nase, trinkt einen kleinen Schluck und setzt das Glas ab.

Dann fasst sie sich etwas. »Ich gehe jetzt nach Hause und rede mit meinem Mann. Oh Gott, was wird er sagen?«

Ich stehe auf und helfe ihr aus dem Stuhl. »Bitte kommen Sie in einer Woche noch einmal mit Ihrem Mann zu mir in die Praxis. Und danach auch in regelmäßigen Abständen, am besten einmal wöchentlich, wenn Sie das irgendwie einrichten können. Ich bin auch jederzeit für Sie am Telefon zu sprechen, okay, Frau Kilian?« Sie nickt und wirkt sehr schwach. Es scheint, als mache ihr jeder Schritt Mühe. Kein Wunder, nach so einer Nachricht.

Eine Woche später schiebt ihr Mann sie im Rollstuhl ins Sprechzimmer. Sie wirkt erbarmungswürdig. Ihre Augenlider hängen herunter. Alles an ihr sieht schwach und entkräftet aus. Ich bin erschüttert. So einen schnellen Verlauf bei einer ALS habe ich noch nie erlebt. »Hallo, liebe Frau Kilian. Herr Kilian! Schön, dass wir uns kennenlernen.«

Der sympathische junge Mann mit den dunkelblonden Locken schüttelt mir fest die Hand. »Ich habe den Rollstuhl schnell bei Bekannten ausgeborgt. Meine Frau kann seit gestern gar nicht mehr laufen! Selbst die Arme kann sie nicht mehr heben! Ich weiß nicht, was ich im Moment ohne die nette Frau Huber aus dem Haus machen würde. Sie betreut Mia ganztägig, und ich kann meine Frau Luisa dann versorgen.« Er hat Tränen in den Augen.

»Gut, dass Sie sich rechtzeitig darum gekümmert haben. Hat Mia denn irgendwas von Mamas Erkrankung mitbekommen?«, frage ich, um irgendwie den Zugang zu der jungen Mutter zu bekommen.

»Ja. Und sie macht das ganz großartig. Sie ist so lieb bei der Frau Huber. Abends fragt sie dann, ob ich ihr noch etwas vorlese, aber meine Stimme wird abends immer schwächer. Wir haben ihr erzählt, dass ich eine ganz dolle Grippe habe, die mich schwächt. Aber dass es mir hoffentlich bald besser geht. Und damit kommt sie gut klar.« Ein kleines, liebevolles Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Sie sieht mich mit Schlafzimmeraugen an. »Nur ICH komme nicht gut klar. Morgens geht es noch, aber abends werde ich immer schwächer.«

Plötzlich stutze ich. Wie sie mich gerade angesehen hat mit diesem Schlafzimmerblick! Den hatte sie doch vorher nicht gehabt! Mensch, Nicole! Wach mal auf! Da stimmt doch etwas nicht mit der Diagnose! Für eine ALS ist sie eigentlich viel zu jung. Dann dieser rapide Abbau der Muskelkraft innerhalb von wenigen Tagen, jetzt die hängenden Augenlider! Diese Schwäche, die abends und nach Belastung schlimmer wird. Alles untypisch für eine ALS! Beides passt doch viel eher zu einer Myasthenie! Gib dich nicht mit dieser ALS-Diagnose zufrieden!

»Frau Kilian, mir kommt gerade ein Gedanke. Ich möchte es nicht auf sich beruhen lassen mit der ALS-Diagnose aus nur einer Klinik. Ich würde Sie gern schnellstmöglich noch einmal in einem Spezialzentrum für Muskelerkrankungen vorstellen, um Sie auf eine Myasthenie hin untersuchen zu lassen.«

Herr Kilian hat die Hand seiner Frau genommen. »Was ist denn das, Myasthenie?«

Ich gehe herum zu den beiden und hocke mich vor den Rollstuhl. »Das ist eine autoimmun gesteuerte Muskelerkrankung, die aber eine andere Ursache hat als die ALS und die man heute sehr gut behandeln kann. Ich will Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch keine falschen Hoffnungen machen, aber versuchen sollten wir es auf jeden Fall in dieser Klinik. Ich rufe da sofort an und mache einen Termin.«

Während ich zurück zu meinem Schreibtisch gehe, sehe ich, wie die beiden sich umarmen und er ihr Gesicht in seine Hände nimmt.

Einige Tage später bekomme ich die erlösende Nachricht: Im Zentrum für Muskelerkrankungen hat man eine Reihe von Spezialuntersuchungen durchgeführt und die Krankheit Myasthenie zweifelsfrei nachweisen können. Sie hat also keine ALS!

In der Klinik beginnt man schon in derselben Woche die Therapie mit einem Spezialmedikament zur Stärkung der Muskelkraft und gibt ihr noch zusätzlich ein Kortisonpräparat zur Unterdrückung des krankhaften Autoimmunprozesses. Geplant sind nach der Entlassung noch weitere ambulante Vorstellungstermine in der Klinik. Und man wird der Patientin sehr wahrscheinlich bald die Thymusdrüse entfernen. Der Thymus ist ein kleines lymphatisches Organ hinter dem Brustbein, das bei der Entwicklung des Immunsystems eine große Bedeutung hat. Bei der Myasthenie ist der Thymus ursächlich oft daran beteiligt, dass irrtümlicherweise Antikörper gebildet werden, die sich gegen den Körper wenden, den sie eigentlich schützen sollen. Also ein »Verrücktspielen« des Immunsystems. Die Antikörper blockieren die Weiterleitung der elektrischen Impulse vom Nerv zum Muskel und führen so zu den Lähmungserscheinungen.

Beim nächsten Termin kommen die beiden Arm in Arm ins Sprechzimmer. Die Muskelkraft der jungen Frau hat offenbar schon deutlich zugenommen, und den Rollstuhl braucht sie auch nicht mehr. »Frau Doktor, mir geht es so viel besser, die Therapie hat schon jetzt ein kleines Wunder bei mir bewirkt.« Frau Kilian lächelt glücklich.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass Sie meine Luisa gerettet haben«, strahlt Herr Kilian und schüttelt mir mit beiden Händen die Hand.

»Danken Sie nicht mir, danken Sie lieber den hübschen Schlafzimmeraugen Ihrer Frau, die mich auf die richtige Fährte gebracht haben«, lache ich. »Am Anfang hatte mich gerade das in die Irre geführt, dass Ihre Frau eben dieses doch häufige Krankheitssymptom der hängenden Augenlider nicht hatte. Aber dann war es auf einmal da, und bei mir hat es klick gemacht.«

»Dann war es ja wirklich Glück, dass ich jetzt so aus der Wäsche gucke. Ich gewöhne mich bestimmt bald an meinen neuen, verschlafenen Look«, lächelt Frau Kilian.

Herr Kilian schaut seine Frau verliebt an. »Ich liebe deine Schlafzimmeraugen, und von mir aus können die für immer so bleiben. Und ich trage dich auch abends alle Treppen rauf und wieder runter, falls du es nicht mehr schaffst! Wenn du nur bei mir bist! Und auch immer bleibst!«

2 | Absturz

Christian, Januar

Vor mir sitzt eine 25-jährige Frau, die vollkommen in Tränen aufgelöst ist. Von vielen Pausen unterbrochen erzählt sie, dass ihr Vater vor drei Monaten beim Absturz seines Ultraleichtfliegers ums Leben gekommen ist.

»Papa war immer so megakonzentriert … und er war so ein routinierter Pilot … so umsichtig … hat immer auf den Wetterbericht geachtet … ich kann es einfach noch immer nicht verstehen … es war ja auch kein Wind, kein Regen, die Sicht war komplett frei … es war so unendlich furchtbar, ihn da vom Himmel fallen zu sehen. Er hat auch keinen Funkspruch losgelassen. Ich war oft gleichzeitig auf dem Flugplatz, weil ich auch fliege, seit ich 17 bin … und an dem Tag war ich auch da.«

Die zarte Frau mit den kurzen dunkelbraunen Haaren, die viel jünger aussieht, als sie ist, wirkt vollkommen entwurzelt und allein gelassen. Immer wieder schnäuzt sie sich in ein großes Stofftaschentuch. Dann sieht sie mich aus ihren verweinten dunklen Augen an.

»Hört der Schmerz jemals auf? Ich kann es mir nicht vorstellen. Mein Freund hat mich hierhergeschickt und gemeint, ich solle das mal mit Ihnen besprechen. Jan sagt, ich hätte eine posttraumatische Belastungsstörung. Kann das sein? Ich kann gar nicht mehr schlafen, und wenn ich doch mal eindöse, habe ich die schlimmsten Albträume. Auch tagsüber habe ich ständig das Bild meines Vaters vor Augen. Wie ein Film, der ohne dass ich es will, vor meinen Augen abläuft. Wie er plötzlich so ganz steil herunterschoss … ich hab von Weitem seinen Sturz auf die Erde gesehen … ich fühlte mich so unendlich hilflos, wie er da aufprallte … ich krieg die Bilder nicht aus dem Kopf … wie er dalag … wie der Notarzt und die Sanitäter ihn eingesammelt haben … Ich bin immer noch so schreckhaft, ich zucke total zusammen, wenn ich draußen einen Krankenwagen höre … Ich hab auch das Gefühl, ich muss mein Studium aufgeben … und ich hab oft Kopfschmerzen und kann mich null konzentrieren … weiß auch gar nicht mehr, wofür ich das alles mache. Hab ja immer mit meinem Papa zusammen über den Büchern gehangen. Er ist … war ja im Flugzeugbau beschäftigt. Ich habe mein Ingenieurstudium vor vier Jahren angefangen. Jetzt ist mir das alles so egal geworden. Es interessiert mich nicht mehr.«

Ich lasse Julia weitererzählen und stelle keine Zwischenfragen, weil ich merke, dass dies alles jetzt zum ersten Mal aus ihr herausbricht. Sie muss es einmal komplett und umfassend loswerden. Danach erst werde ich mich einschalten.

»Meine Mutter hat direkt am Unglückstag gesagt, dass sie sofort kommt, aber sie lebt in Amerika, und ich weiß, dass sie mitten in einem Forschungsprojekt steckt. Sie ist Pharmazeutin … ist schon seit fünf Jahren weg, seit meine Eltern sich getrennt haben. Sie kommt einmal im Jahr nach Deutschland. Ich habe zu ihr gesagt, sie muss nicht kommen. Sie ist dann doch zur Beerdigung ein paar Tage da gewesen. Die habe ich mit Jan und ein paar von Papas Freunden zusammen organisiert. Ich bin so froh, dass ich Jan habe.« Wieder schnaubt sie in ihr Taschentuch und fährt sich anschließend mit den Fingern durch die Haare, die jetzt in alle Richtungen abstehen wie bei einem kleinen Monchichi. Ihr Anblick rührt mich sehr.

»Und jetzt haben Sie also Schlafstörungen, Albträume und auch tagsüber immer wieder diese Flashbacks? Und Sie sind schreckhaft und unkonzentriert? Und verständlicherweise auch noch traurig.«

Sie nickt und schaut auf ihre Schuhspitzen.

»Ich denke, Ihr Freund hat da ganz recht, Julia. Das klingt wirklich nach einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es ist gut, dass Sie so frühzeitig damit zu mir gekommen sind, weil man diese Traumatisierung dann ziemlich gut behandeln kann. Auch dass Sie sich jetzt schon einmal getraut haben, mir die ganze schreckliche Geschichte zu erzählen, war schon ein wichtiger erster Schritt. Ich denke, ich werde Sie sehr bald schon bei einer guten Traumaspezialistin vorstellen können. Sie arbeitet mit zwei Kollegen zusammen in einer Praxis für Psychotherapie. Trauen Sie sich das schon zu? Was meinen Sie?« Ich schaue sie abwartend an.

»Ich glaube ja. Ich möchte auch so schnell wie möglich raus aus dieser schrecklichen Situation. Diese Bilder loswerden. Diese Ängste!«

Ich nicke. »Das verstehe ich, und die Therapeutin wird mit Ihnen zusammen die beste Methode herausfinden, wie man Ihnen schon bald helfen kann. Vertrauen Sie mir, Julia. Es gibt einen Weg!«

»Okay, das ist dann zumindest schon mal ein Anfang, und ich bin meinen Gedanken nicht mehr so ausgeliefert«, seufzt Julia.

»Und bitte, rufen Sie mich jederzeit an oder kommen Sie vorbei, wenn es Ihnen schlechter geht oder Sie noch mal Gesprächsbedarf haben, ja?«

Sie steht auf und reicht mir ihre zarte Hand. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Auch wenn ich es noch nicht ganz glaube, dass mir jemand helfen kann, versuche ich es.«

Es tut mir in der Seele weh, die kleine, verloren wirkende Person mit hängendem Kopf den Gang entlanggehen zu sehen. Ihr Freund, ein großer, breitschultriger junger Mann mit kurzem dunklem Haar, erwartet sie schon. Er legt sofort den Arm um sie und sieht mich fragend an.

»Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung, Jan. Ich darf Sie doch so nennen? Ich kümmere mich um eine Vorstellung in der Praxis Wallenberg. Wir rufen Sie an, wenn wir einen Termin haben.« Ich versuche, aufmunternd zu klingen, aber es misslingt. Jan nickt und drückt Julia an sich, als sie zur Tür gehen.

Zurück in meinem Sprechzimmer greife ich sofort zum Hörer. »Frau Gerber, können Sie mich mit der Praxis Wallenberg verbinden? Frau Wallenberg persönlich, bitte.«

Nach ein paar Sekunden habe ich Bettina Wallenberg, eine gute Freundin, in der Leitung.

»Bettina, ich freue mich, dass wir uns mal wieder sprechen, wenns auch nur beruflich ist.«

Ich höre, wie sie einen Schluck trinkt. »Ja, hallo Christian. Für viel anderes reicht die Zeit bei uns ja leider doch selten. Was gibts denn?«

Ich erzähle ihr Julias Geschichte und höre, wie sie Notizen in den PC tippt. Dann seufzt sie. »Oje! Das arme Mädchen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir ihr mit kognitiver Verhaltenstherapie und mit der EMDR gut helfen können.«

Ich muss kurz in meinem Gedächtnis kramen. »EMDR? Hat das nicht diese Amerikanerin entwickelt, in den Neunzigern? Man lässt die Patienten … warte mal … vertikale Augenbewegungen machen …«

»Fast richtig«, lacht Bettina. »Horizontale. Und dabei sollen sie versuchen, sich die traumatischen Erfahrungen genau in Erinnerung zu rufen.«

»Ach ja, genau. Ich habe mich immer schon gefragt, wie das eigentlich funktioniert.«

»Der Wirkmechanismus ist tatsächlich nicht bekannt. Aber es hilft sehr gut. Seit 2015 haben wir die Therapie im Leistungskatalog der Krankenkassen, und seitdem praktizieren wir sie mit wachsendem Erfolg. Ist zwar nicht unumstritten, weil eben nicht hundertprozentig belegt, aber wir kombinieren es ja auch meistens mit einer anderen Verhaltenstherapie und schauen bei deiner Patientin einfach mal, wie sie darauf reagiert. Wir bleiben in Kontakt, okay? Sie kann übrigens dann übermorgen um zehn Uhr zu uns zum Erstgespräch kommen.«

Ich bin froh. »Danke, dass du sie so schnell übernehmen kannst! Du hast was gut bei mir.«

Als ich aufgelegt habe, lasse ich den ganzen Fall noch einmal Revue passieren. Wie tragisch, dass das Mädchen den Unfallhergang mitansehen musste! Und warum ist der Vater wohl so sang- und klanglos vom Himmel gestürzt? Ist er vielleicht bewusstlos geworden? Hat er einen Herzinfarkt gehabt? Man wird das nie mehr ergründen.

Nach vier Wochen sehe ich Julia zum ersten Mal wieder. Sie sieht etwas frischer aus und weint auch nicht mehr während des Gespräches.

»Ich verstehe ja nicht, wie die Sache mit dem Hin- und Herbewegen der Augen funktioniert, aber irgendwie scheint es allmählich zu wirken, Herr Doktor. Ich bin echt überrascht! In der ersten Sitzung haben wir uns lange unterhalten, die Frau Wallenberg und ich. Da hat sie mir die EMDR-Therapie erklärt.« Julia schmunzelt. »Natürlich zuerst mal diese schwierige Abkürzung und Übersetzung: Eye Movement Desensitization and Reprocessing! Ein Zungenbrecher, oder? Heißt zu Deutsch: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen. Mein Kopf sollte dabei geradeaus gerichtet bleiben, sodass ich nicht den Kopf, sondern nur die Augen bewegen konnte, während ich ihren Finger mit den Augen immer fixieren musste. Den Finger bewegte sie dann relativ schnell vor meinem Gesicht hin und her. Während sie das tat, sollte ich mich auf die schrecklichen Dinge konzentrieren, die ich erlebt hatte. Alle Szenen und Bilder zulassen.«

»Ja genau, darüber habe ich mich jetzt auch noch mal weiter informiert. Durch die visuelle Fokussierung auf den Finger und das gleichzeitige Erinnern entsteht eine Art geteilter Aufmerksamkeit. Schritt für Schritt soll so dem furchtbaren Ereignis seine emotionale Bedeutung genommen werden. Ich finde dieses psychotherapeutische Verfahren auch sehr spannend.«

»Ja, das macht Sinn, was Sie sagen«, überlegt Julia. »Bevor wir dann die ersten richtigen Sitzungen gemacht haben, hat Frau Wallenberg mir vorgeschlagen, mir eine schöne Situation als Rückzugsort zu überlegen, falls ich es nicht mehr aushalte, mir die schlimmen Sachen vorzustellen. Dann könnte ich schnell in die Situation springen, die ich mir ausgesucht habe.«

Ich bin neugierig. »Darf ich fragen, welche Situation das war? Und hat das Hineinspringen dann funktioniert?«

Julia lächelt traurig. »Es sind zwei Situationen: Samstagmorgens, wenn Papa und ich manchmal zusammen gefrühstückt und uns dabei die Fachzeitschriften über das Ultraleichtfliegen angeschaut haben. Und der Tag, als ich zum ersten Mal selbst geflogen bin und eine Gans neben mir auftauchte und zu mir herüberschaute, als ob wir gemeinsam unterwegs wären. Das war wunderschön.«

Ich bin froh, dass sie schon wieder so über ihren Vater sprechen kann.

»Und haben Sie denn schon mal einen von diesen Rückzugsorten nutzen müssen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Irgendwie nicht. Es ging tatsächlich ohne. Wie gesagt, ich begreife nicht, wie es wirkt, aber es geht mir echt schon ein bisschen besser. Außer meine Kopfschmerzen. Die sind immer noch da. Die werden sogar schlimmer.«

»Ja? Das könnte eine vegetative Reaktion auf den ganzen psychischen Stress sein.«

Sie schaut mich nachdenklich an. »Eigentlich habe ich die immer schon gehabt. Immer mal wieder wahnsinnig starke Schmerzen, unabhängig von Stress oder Entspannung. In letzter Zeit sehe ich dann auch manchmal ganz verschwommen. Ich nehme dann Ibuprofen. Dann gehts oft wieder. Papa hatte das auch. Habe ich wohl geerbt.«

Ich stutze. »Wie, Ihr Vater und Sie hatten beide schon längere Zeit solche starken Kopfschmerzen und haben das nie untersuchen lassen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich dachte immer, das ist Migräne.«

Ich beuge mich vor. »Ja, das wäre auch das Wahrscheinlichste. Aber das müssen wir unbedingt abklären. Auch wenn das jetzt zusätzlich zu Ihrer Traumatherapie ist. Ich möchte da mal ein MRT machen lassen, ein genaues Bild vom Kopf in dieser Röhre, da haben Sie bestimmt schon mal von gehört, oder?«

»Ja, das kenne ich. Na klar, Herr Doktor, wenn Sie meinen.«

Ich stehe auf, um mit ihr zur Anmeldung zu gehen, wo Frau Gerber einen Termin für das MRT verabredet. »Mit Angiografie«, rufe ich noch in ihr Gespräch hinein, obwohl ich weiß, dass sie so was hasst. Aber eine Gefäßdarstellung ist in diesem Fall dringend angezeigt, und wenn jemand schon diese Untersuchung in der engen Röhre ertragen muss, kann man sich außer der Hirnstruktur auch die Blutgefäße im Gehirn mit anschauen.

»Dann sehen wir uns nächste Woche, nachdem das MRT gelaufen ist, Julia.« Wir geben uns die Hand.

»Und dazwischen habe ich auch noch zwei Therapiestunden.« Sie scheint sich darauf zu freuen und wirkt insgesamt deutlich zuversichtlicher als beim ersten Kontakt.

Ein paar Tage später halte ich den MRT-Befund in den Händen und muss schlucken. Julia hat ein Aneurysma! Eine lebensbedrohliche Aussackung einer Gefäßwand! Das Aneurysma ist zwei Zentimeter groß und liegt im Bereich der vorderen Hirnbasisarterie! Das muss natürlich möglichst schnell operiert werden, um den jederzeit drohenden Riss des Aneurysmas und eine Hirnblutung zu verhindern.

»Anja, können Sie mich bitte mit der Neurochirurgie in den städtischen Kliniken verbinden? Ich muss den Chefarzt persönlich sprechen.«

Nach einer Stunde kommt der Rückruf von Professor Diekenbrock.

»Herr Professor, ich habe hier eine 25-jährige Patientin mit einem zwei Zentimeter großen Aneurysma der Arteria communicans anterior. Es ist gerade diagnostiziert worden. Sie hat häufig Kopfschmerzen und sieht in letzter Zeit manchmal verschwommen. Der Vater der Patientin hatte wohl unter ähnlichen Symptomen gelitten. Er ist kürzlich aus ungeklärter Ursache beim Absturz eines Ultraleichtfliegers ums Leben gekommen. Möglich, dass er auch ein Aneurysma hatte, das während des Fluges gerissen ist und zu einer Hirnblutung geführt hat. Ich denke, wir sollten jetzt bei der Patientin keine Zeit verlieren.«