Für Sheila
Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.
Matthäus 7,6, Lutherbibel 2017
Ein guter Rat: Falls Sie in meiner Nachbarschaft jemanden beschatten wollen, tragen Sie kein Rosa.
Am ersten Tag, als Angie und ich den kleinen rundlichen Kerl entdeckten, trug er ein rosafarbenes Hemd zu einem grauen Anzug und einem schwarzen Mantel. Der Zweireiher wirkte italienisch und war um mehrere hundert Dollar zu gut für meine Gegend. Der Mantel war Kaschmir. Gut möglich, dass die Leute hier sich Kaschmir leisten könnten, aber normalerweise geben sie derart viel Geld für Isolierband aus, damit die Auspuffrohre an ihren 82er Chevys nicht abfallen, da bleibt ihnen nicht mehr allzu viel übrig, mal abgesehen von dem jährlichen Abstecher in die Karibik.
Am zweiten Tag ersetzte der kleine rundliche Kerl das rosafarbene durch ein dezenteres weißes Hemd; Kaschmirmantel und italienischen Anzug hatte er abgelegt, aber da er einen Hut trug, war er immer noch so auffällig wie Michael Jackson in einem Kindergarten. Niemand in meiner Gegend – oder irgendwo sonst in Bostons Innenstadt – trägt auf dem Kopf etwas anderes als ein Baseballcap oder ab und an mal eine Schiebermütze aus Tweed. Doch unser Freund, wir nannten ihn das Stehaufmännchen, trug einen Bowler.
Er sah gut aus, dieser Bowler, verstehen Sie mich nicht falsch, aber es war ein Bowler.
»Vielleicht ist er nicht von hier«, sagte Angie.
Ich schaute zum Fenster des Avenue Coffee Shop hinaus. Der Kopf des Stehaufmännchens ruckte, dann beugte er sich vor und spielte mit seinen Schnürsenkeln herum.
»Nicht von hier«, sagte ich. »Und von wo genau? Frankreich?«
Angie sah mich stirnrunzelnd an und strich sich Frischkäse auf einen Bagel, der so voller Zwiebeln war, dass mir die Augen schon vom Hinschauen tränten. »Nein, du dumme Nuss. Aus der Zukunft. Hast du denn noch nie die alte Folge von Raumschiff Enterprise gesehen, in der Kirk und Spock in den Dreißigern auf der Erde landen und sich hoffnungslos danebenbenehmen?«
»Ich hasse Raumschiff Enterprise.«
»Aber du bist mit dem Konzept der Serie vertraut.«
Ich nickte und musste gähnen. Das Stehaufmännchen begutachtete einen Telefonmast, als hätte er noch nie einen gesehen. Vielleicht hatte Angie recht.
»Wie kann man Raumschiff Enterprise nicht mögen?«, fragte Angie.
»Ganz einfach. Ich schau es mir an, es nervt mich, ich schalte wieder aus.«
»Auch nicht Enterprise: Die Nächste Generation?«
»Was ist das denn?«, fragte ich.
»Ich wette, als du geboren wurdest«, sagte Angie, »da hat dein Vater dich genommen, deiner Mutter hingehalten und gesagt: ›Schau, Schätzchen, du hast gerade einen ganz bezaubernden, mürrischen alten Mann zur Welt gebracht.‹«
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte ich.
Am dritten Tag beschlossen wir, uns einen kleinen Spaß zu erlauben. Als wir morgens mein Haus verließen, ging Angie nach Norden und ich nach Süden.
Das Stehaufmännchen folgte Angie.
Lurch, der Butler aus der Addams Family, folgte mir.
Ich hatte Lurch zuvor noch nicht bemerkt, und vielleicht hätte ich das auch nie. Aber inzwischen war ich auf der Hut.
Bevor wir das Haus verließen, hatte ich meine Sonnenbrille aufgesetzt, die ich sonst zum Fahrradfahren benutze. An der linken Seite des Brillengestells war ein kleiner Rückspiegel zum Ausklappen befestigt. Nicht ganz so cool wie das Zeug, das Bond immer von Q bekam, aber immerhin. Und außerdem musste ich dafür nicht mit Ms. Moneypenny flirten.
Ein drittes Auge im Hinterkopf, und ich wette, ich war der erste Junge im Viertel, der so etwas hatte.
Ich entdeckte Lurch, als ich ganz plötzlich im Eingang zu Patty’s Pantry stehenblieb, um mir meinen Morgenkaffee zu holen. Ich las eine imaginäre Speisekarte an der Tür, klappte den Spiegel aus und drehte den Kopf, bis ich den Kerl, der aussah wie ein Leichenbestatter, auf der anderen Seite der Straße bei Pat Jay’s Pharmacy entdeckte. Er stand mit vor der Spatzenbrust verschränkten Armen da und starrte mir ganz unverhohlen auf den Hinterkopf. Furchen durchzogen seine eingefallenen Wangen wie trockene Flussläufe, und der spitze Haaransatz begann auf halber Stirnhöhe.
In Patty’s Pantry klappte ich den Spiegel zurück an die Brille und bestellte meinen Kaffee.
»Bist du plötzlich blind geworden, Patrick?«
Ich schaute Johnny Deegan an, der gerade Sahne in meinen Kaffee goss. »Was?«
»Die Brille«, sagte er. »Ich mein, es ist Mitte März oder so, und seit Thanksgiving hat keiner mehr die Sonne gesehen. Bist du blind, oder willst du nur hip sein oder so’n Scheiß?«
»Ich will nur hip sein oder so’n Scheiß, Johnny.«
Er schob mir meinen Kaffee über die Theke und nahm mein Geld.
»Funktioniert nicht«, sagte er.
Draußen auf der Straße beobachtete ich Lurch durch die Sonnenbrille, wie er sich ein paar Flusen vom Knie wischte und sich dann genau so zu seinen Schnürsenkeln hinunterbeugte wie das Stehaufmännchen am Vortag.
Ich dachte daran, was Johnny Deegan gesagt hatte, und nahm die Sonnenbrille ab. Bond war schon cool, klar, aber der musste ja auch seinen Kaffee nicht bei Patty’s Pantry trinken. Ach, zum Teufel, versuchen Sie mal, in diesem Viertel einen Wodka Martini zu bestellen. Ob geschüttelt oder gerührt, die würden Sie achtkantig aus der Bar schmeißen.
Ich überquerte die Straße, Lurch konzentrierte sich auf seine Schnürsenkel.
»Hi«, sagte ich.
Er richtete sich auf und sah sich um, als hätte jemand aus einiger Entfernung seinen Namen gerufen.
»Hi«, wiederholte ich und hielt ihm meine Hand hin.
Er sah sie an und schaute wieder die Straße entlang.
»Wow«, sagte ich, »im Beschatten sind Sie eine Niete, aber Ihre Umgangsformen sind vom Feinsten.«
Langsam drehte sich sein Kopf wie die Erde um ihre Achse, bis der Blick seiner dunklen Kieselaugen meinen kreuzte. Er musste dafür nach unten schauen, und der Schatten seines knochigen Schädels fiel mir auf Gesicht und Schultern. Dabei bin ich gar nicht sonderlich klein geraten.
»Kennen wir uns, Sir?« Seine Stimme klang, als müsse sie gleich wieder im Sarg verschwinden.
»Sicher kennen wir uns«, sagte ich. »Sie sind Lurch.« Ich schaute nach oben und dann die Straße entlang. »Wo ist denn Ihr Cousin It, Lurch?«
»Sie sind lange nicht so witzig, wie Sie glauben, Sir.«
Ich hielt meinen Kaffeebecher hoch. »Warten Sie, bis ich mein Koffein hatte, Lurch. In einer Viertelstunde bin ich staatlich anerkannter Oberbrüller.«
Er lächelte zu mir herab, und die Furchen in seinen Wangen verwandelten sich in Canyons. »Wenn Sie doch nur nicht so durchschaubar wären, Mr. Kenzie.«
»Wie das, Lurch?«
Ein Kran schwang mir einen Betonpfeiler ins Kreuz, irgendetwas mit winzigen scharfen Zähnen biss mir rechts in den Hals, und Lurch taumelte durch mein Blickfeld, als der Bürgersteig sich aufbäumte und auf mein Ohr zukam.
»Hübsche Sonnenbrille, Mr. Kenzie«, sagte das Stehaufmännchen, als sein Gummigesicht an mir vorbeischwebte. »Das gibt so eine besondere Note.«
»Ganz schön Hightech«, meinte Lurch.
Jemand lachte, ein anderer startete einen Wagen, und ich kam mir sehr dumm vor.
Q wäre erschüttert gewesen.
»Mir brummt der Schädel«, sagte Angie.
Sie saß neben mir auf einem schwarzen Ledersofa, und wie meine waren auch ihre Hände hinter den Rücken gefesselt.
»Und wie steht’s mit Ihnen, Mr. Kenzie?«, fragte jemand. »Was macht Ihr Kopf?«
»Geschüttelt«, antwortete ich. »Nicht gerührt.«
Ich drehte meinen Kopf in die Richtung der Stimme, doch ich sah nur ein grelles gelbes Licht, umgeben von weicherem Braun. Ich blinzelte und spürte, wie der Raum leicht ins Schlingern geriet.
»Das mit der Betäubung tut mir leid«, sagte die Stimme. »Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte …«
»Da muss Ihnen nichts leidtun«, meinte eine Stimme, die ich als die von Lurch erkannte. »Es gab keine andere Möglichkeit.«
»Julian, geben Sie Ms. Gennaro und Mr. Kenzie bitte ein Aspirin.« Dann seufzte die Stimme hinter dem grellen gelben Licht. »Und binde sie los, bitte.«
»Und wenn sie sich rühren?«, fragte das Stehaufmännchen.
»Sorgen Sie dafür, dass sie es nicht tun, Mr. Clifton.«
»Jawohl, Sir. Mit dem größten Vergnügen.«
»Ich heiße Trevor Stone«, sagte der Mann hinter dem Licht. »Sagt Ihnen der Name etwas?«
Ich rieb mir die roten Striemen an den Handgelenken.
Angie tat das Gleiche bei sich und atmete tief ein. Ich vermutete, dass wir in Trevor Stones Arbeitszimmer waren.
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.«
Ich blickte in das gelbe Licht. »Stimmt. Schön für Sie.« Ich drehte mich zu Angie hin. »Wie geht es dir?«
»Die Handgelenke tun mir weh, und mir brummt der Schädel.«
»Und sonst?«
»Und sonst bin ich richtig mies drauf.«
Ich blickte wieder in das Licht. »Wir sind richtig mies drauf.«
»Das kann ich mir denken.«
»Sie können mich mal am Arsch lecken«, sagte ich.
»Geistreich«, meinte Trevor Stone hinter dem grellen Licht, und das Stehaufmännchen und Lurch kicherten leise.
»Geistreich«, wiederholte das Stehaufmännchen.
»Mr. Kenzie, Ms. Gennaro«, sagte Trevor Stone, »ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen keinen Schaden zufügen möchte. Ich würde es jederzeit tun, aber ich möchte es nicht. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Tja.« Ich stand mit wackligen Beinen auf und spürte, wie Angie sich neben mir erhob.
»Kann einer von euch Schwachköpfen uns nach Hause fahren?«, fragte Angie.
Ich nahm ihre Hand, als ich rückwärts gegen die Couch taumelte und das Zimmer sich ein wenig zu sehr nach rechts neigte. Lurch drückte mir seinen Zeigefinger so leicht gegen die Brust, dass ich ihn kaum spürte, und Angie und ich plumpsten wieder auf das Sofa.
Fünf Minuten noch, sagte ich zu meinen Beinen, dann versuchen wir es noch mal.
»Mr. Kenzie«, sagte Trevor Stone, »Sie können noch ein paarmal versuchen aufzustehen, und wir können Sie für,
ach, mindestens eine halbe Stunde wie eine Feder wieder umpusten. Also entspannen Sie sich.«»Entführung«, sagte Angie. »Freiheitsberaubung. Sind Sie mit diesen Begriffen vertraut, Mr. Stone?«
»Ja.«
»Gut. Und es ist Ihnen klar, dass beides schwere Straftaten sind, die mit saftigen Gefängnisstrafen einhergehen?«
»Hmhm«, machte Trevor Stone. »Ms. Gennaro, Mr. Kenzie, wie vertraut sind Sie mit der eigenen Sterblichkeit?«
»Wir haben sie ein paarmal gestreift«, sagte Angie.
»Das weiß ich«, sagte Stone.
Angie sah mich an und runzelte die Stirn.
»Aber nur gestreift, wie Sie schon sagen. Nicht mehr als ein flüchtiger Ausblick. Jetzt leben Sie, Sie sind jung und können vernünftigerweise damit rechnen, auch in dreißig, vierzig Jahren noch hier auf Erden zu wandeln. Die Welt – ihre Gesetze, Sitten und Gepflogenheiten, die hohen Strafen, die unweigerlich auf Schwerverbrechen folgen – alles das hat tatsächlich eine Bedeutung für Sie. Ich hingegen kenne dieses Problem nicht mehr.«
»Er ist ein Gespenst«, flüsterte ich, und Angie versetzte mir einen Rippenstoß.
»Ganz recht, Mr. Kenzie«, sagte Stone. »Ganz recht.«
Das gelbe Licht schwang zur Seite, und ich blinzelte in die schwarze Leere. Ein winziger weißer Punkt wirbelte darin zu mehreren größeren orangefarbenen Kreisen auf, die sich über mein Sichtfeld ausdehnten wie Leuchtspurmunition. Dann klarte es auf, und ich sah Trevor Stone.
Die obere Hälfte seines Gesichts wirkte wie aus heller Eiche geschnitzt – Augenbrauenklippen, die harte grüne
Augen beschatteten, eine Adlernase, ausgeprägte Wangenknochen, perlweiße Haut.Die untere Hälfte allerdings war völlig eingefallen. Der Kiefer war zu beiden Seiten zerbröckelt; die Knochen schienen irgendwo in seinen Mund geschmolzen zu sein. Das Kinn, von dem in der schlaffen Hauthülle nur noch ein winziger Rest übrig war, zeigte direkt zu Boden, und der Mund hatte jegliche Form verloren; er trieb in dem Durcheinander seiner unteren Gesichtshälfte herum wie eine Amöbe. Die Lippen waren weiß verdorrt.
Stone hätte alles sein können, von vierzig bis siebzig.
Hier und da bedeckten feuchte hellbraune Verbände seine Kehle. Er erhob sich hinter dem wuchtigen Schreibtisch und stützte sich auf einen Gehstock aus Mahagoni mit einem goldenen Drachenkopf als Griff. Die graue glencheckgemusterte Hose bauschte sich um seine dürren Beine, aber das blaue Baumwollhemd und die schwarze Leinenjacke lagen über seiner massigen Brust und den Schultern wie angewachsen. Die Hand, die sich an dem Stock festklammerte, wirkte, als könne sie Golfbälle zu Staub zermalmen.
Er zitterte nur ein wenig, als er sich vor uns aufbaute.
»Schauen Sie gut hin«, sagte Trevor Stone, »dann erzähle ich Ihnen etwas über Verlust.«
»Letztes Jahr«, sagte Trevor Stone, »fuhr meine Frau von einer Party im Somerset Klub in Beacon Hill nach Hause. Kennen Sie den Club?«
»Wir halten dort immer unsere Betriebsfeiern ab«, sagte Angie.
»Na, jedenfalls blieb ihr Wagen liegen. Ich wollte gerade mein Büro in der Innenstadt verlassen, da rief sie an, und ich holte sie ab. Komisch.«
»Was?«, fragte ich.
Stone blinzelte. »Mir fiel gerade ein, wie selten wir so etwas getan haben. Gemeinsam Auto fahren. Eines der Dinge, die meinen beruflichen Verpflichtungen zum Opfer gefallen sind. Etwas so Simples wie zwanzig Minuten nebeneinander in einem Auto zu sitzen; mit etwas Glück haben wir das vielleicht sechs Mal im Jahr geschafft.«
»Was ist passiert?«, fragte Angie.
Stone räusperte sich. »Als wir von der Tobin Bridge kamen, versuchte ein anderer Wagen, uns von der Straße zu drängen. ›Carjacking‹ nennt man das wohl. Ich hatte mir gerade einen neuen Wagen gekauft – einen Jaguar XKE –, und den wollte ich nicht einem Haufen Strolchen überlassen, die glauben, etwas zu wollen sei dasselbe, wie ein Anrecht darauf zu haben. Also …«
Er starrte einen Augenblick zum Fenster hinaus und verlor sich wohl im Knirschen des Blechs, dem Aufheulen der Motoren, dem Geruch jener Nacht.
»Mein Wagen kippte auf die Fahrerseite. Inez, meine Frau, schrie und schrie. Sie hatte sich die Wirbelsäule gebrochen, aber das wusste ich da noch nicht. Die Autodiebe waren sauer, schließlich hatte ich gerade ihren Hauptpreis ruiniert. Sie erschossen Inez, und ich mühte mich, bei Bewusstsein zu bleiben. Immer wieder schossen sie auf den Wagen. Ich wurde von drei Kugeln getroffen, von denen eine im Unterkiefer steckenblieb, die anderen richteten weiter keine schlimmen Schäden an. Dann haben die Männer eine ganze Weile versucht, den Wagen in Brand zu stecken, kamen aber nicht auf den Gedanken, den Tank zu durchlöchern. Nach einiger Zeit wurde ihnen langweilig, und sie verschwanden. Und ich lag da mit drei Kugeln im Leib, gebrochenen Knochen und meiner toten Frau neben mir.«
Wir hatten das Arbeitszimmer verlassen, Lurch und das Stehaufmännchen zurückgelassen und waren auf wackligen Beinen in Trevor Stones Hobbyraum oder Herrenzimmer gegangen, oder wie immer man auch einen Raum nannte, der so groß war wie ein Düsenjet-Hangar, mit einem Billard- und einem Snookertisch, Kirschholzvertäfelung hinter der Dartscheibe, einem Pokertisch und einem kleinen Puttinggrün in einer Ecke. Eine Mahagoni-Bar nahm die Ostwand des Raums ein; dort hingen genug Gläser über Kopf, um den Kennedys für einen ganzen Partymonat zu reichen.
Trevor Stone goss zwei Finger Single Malt in sein Glas,
kippte die Flasche erst in meine, dann in Angies Richtung, doch wir lehnten ab.»Die Männer – Jungen, eigentlich – wurden ziemlich bald vor Gericht gestellt und verurteilt, und nun sitzen sie lebenslang ohne Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung in Norfolk; mehr an juristischer Gerechtigkeit kann man wohl nicht erwarten, nehme ich an. Meine Tochter und ich haben Inez beerdigt, und das wäre es wohl gewesen, abgesehen von der Trauer.«
»Aber?«, fragte Angie.
»Als die Ärzte die Kugel aus dem Kiefer entfernten, entdeckten sie erste Anzeichen von Krebs. Und als sie genauer nachsahen, fanden sie ihn in meinen Lymphknoten. Als Nächstes werden sie wohl etwas im Dünndarm und dann im Dickdarm finden. Danach werden sie wohl nichts mehr zum Rausschneiden haben, nehme ich an.«
»Wie lange noch?«, fragte ich.
»Sechs Monate. Nach Meinung der Ärzte. Mein Körper sagt fünf. So oder so habe ich meinen letzten Herbst erlebt.«
Er drehte sich auf seinem Barhocker um und sah durchs Fenster hinaus aufs Meer. Ich folgte seinem Blick und sah einen felsigen Ausläufer auf der anderen Seite der Bucht. Die Felsen teilten sich wie Hummerscheren; über ihnen entdeckte ich einen Leuchtturm, den ich kannte. Trevor Stones Haus stand auf einem Steilufer mitten am Marblehead Neck, einer zerklüfteten Halbinsel an Bostons North Shore, wo der Preis für ein Haus nur knapp unter dem für eine durchschnittliche Kleinstadt lag.
»Trauer«, sagte er, »zerfrisst alles. Ob man wach ist oder
nicht, ob man dagegen ankämpft oder nicht. So ähnlich wie Krebs. Und eines Morgens wacht man auf, und die Trauer hat all die anderen Gefühle – Freude, Neid, Gier, ja sogar Liebe – verschlungen. Und dann ist man allein und nackt mit seiner Trauer. Sie beherrscht einen ganz und gar.«In seinem Glas klapperten die Eiswürfel, und er betrachtete sie.
»Das muss nicht so sein«, sagte Angie.
Er drehte sich um und lächelte mit seinem Amöbenmund. Seine weißen Lippen zitterten gegen die verwelkte Haut und den pulverisierten Knochen seines Kiefers an, dann verschwand das Lächeln wieder.
»Sie kennen den Kummer«, sagte er leise. »Ich weiß. Sie haben Ihren Ehemann verloren. Vor fünf Monaten, richtig?«
»Ex-Ehemann«, sagte sie und schaute zu Boden. »Ja.«
Ich wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie schüttelte den Kopf und legte die Hand in den Schoß.
»Ich habe alle Zeitungsmeldungen darüber gelesen«, sagte Stone. »Ich habe sogar Wahre Verbrechen gelesen, dieses unsägliche Taschenbuch. Sie haben mit dem Bösen gerungen. Und gewonnen.«
»Es war unentschieden«, entgegnete ich und räusperte mich. »Glauben Sie mir.«
»Vielleicht«, räumte er ein und sah mich mit seinen harten grünen Augen unverwandt an. »Vielleicht war es für Sie beide ein Unentschieden. Doch denken Sie daran, wie viele mögliche Opfer Sie vor diesen Monstren bewahrt haben.«
»Mr. Stone«, sagte Angie, »bei allem Respekt, aber bitte hören Sie auf damit.«
»Warum denn?«
Angie hob den Kopf. »Weil Sie keine Ahnung haben und sich anhören wie ein Vollidiot.«
Seine Finger strichen leicht über den Knauf seines Stocks, dann beugte er sich vor und berührte Angie mit der anderen Hand am Knie. »Sie haben recht. Verzeihen Sie mir.«
Und dann lächelte sie ihn an, wie ich sie seit Phils Tod nicht hatte lächeln sehen. So als seien Trevor Stone und sie alte Freunde und als wären sie beide an Orten gewesen, wohin Licht und Güte niemals dringen.
»Ich bin allein«, hatte Angie vor einem Monat zu mir gesagt.
»Nein, bist du nicht.«
Sie lag auf einer Matratze, die wir in meinem Wohnzimmer auf den Boden gelegt hatten. Ihr eigenes Bett und der Großteil ihrer Habe befanden sich noch in ihrem Haus in der Howes Street, weil sie nicht fähig war, dorthin zu gehen, wo Gerry Glynn sie niedergeschossen hatte und Evandro Arujo in der Küche verblutet war.
»Du bist nicht allein«, sagte ich und schlang meine Arme von hinten um sie.
»Doch, das bin ich, und all dein Festhalten und deine Liebe können daran im Augenblick nichts ändern.«
Angie sagte: »Mr. Stone –«
»Trevor.«
»Mr. Stone«, wiederholte sie, »ich habe ja Verständnis für Ihre Trauer. Wirklich. Aber Sie haben uns entführt. Sie –«
»Es geht nicht um meine Trauer«, unterbrach er sie. »Nein, nein. Ich meinte damit nicht meine Trauer.«
»Wessen denn?«, fragte ich.
»Die meiner Tochter. Desiree.«
Desiree.
Er sprach ihren Namen aus wie den Refrain eines Gebets.
Trevor Stones hell erleuchtetes Arbeitszimmer war ein Schrein in Desirees Namen.
Wo ich zuvor nur Schatten gesehen hatte, entdeckte ich nun Fotos und Gemälde von einer Frau in nahezu jedem Lebensabschnitt – Fotos vom Babyalter bis zur Grundschule, Jahrbuchfotos aus der Highschool, College-Abschluss. Alte, nicht sehr pfleglich behandelte Polaroids steckten in neuen Teakholzrahmen. Ein Schnappschuss von Desiree und einer Frau, die ganz offensichtlich ihre Mutter war, wohl bei einem Barbecue aufgenommen, denn beide Frauen standen bei einem Gasgrill, Pappteller in den Händen, und schauten nicht in die Kamera. Jemand hatte irgendeinen unbedeutenden Augenblick fotografiert, unscharf an den Rändern, ohne darauf zu achten, dass die Sonne links von den Frauen stand und deshalb einen ziemlichen Schatten auf die Linse warf. Die Art von Foto, die man nicht unbedingt in ein Album klebt. Doch in Trevor Stones Arbeitszimmer wirkte es in dem Sterling-Silberrahmen auf einem schlanken Elfenbeinständer geradezu wie ein Heiligenbild.
Desiree Stone war eine schöne Frau. Ihre Mutter war eine Latina gewesen, und ihre Tochter hatte das kräftige honigfarbene Haar geerbt, die grazile Kinn- und Halspartie, den
Knochenbau, die schmale Nase und einen Teint, als würde sie von einem Sonnenuntergang beleuchtet. Von ihrem Vater hatte Desiree die jadegrünen Augen und die vollen, wild entschlossenen Lippen. Die Symmetrie der Erbeinflüsse wurde am deutlichsten auf einem Foto auf Trevor Stones Schreibtisch. Desiree stand am Tag ihres College-Abschlusses im violetten Talar zwischen Mutter und Vater, den Hauptcampus des Wellesley College hinter sich, ihre Arme um die Schultern ihrer Eltern, deren Gesichter nah an ihres gezogen. Alle drei lächelten, wirkten wohlhabend und gesund. Die zarte Schönheit der Mutter und die außerordentliche Aura der Macht des Vaters schienen sich im Gesicht der Tochter zu treffen und zu verschmelzen.»Zwei Monate vor dem Zwischenfall«, sagte Trevor Stone und nahm das Foto für einen Augenblick in die Hand. Er sah es sich an, und die untere Hälfte seines zerstörten Gesichts zuckte zu einem Lächeln zurecht, vermutete ich. Er stellte es zurück. »Kennt einer von Ihnen einen Privatdetektiv namens Jay Becker?«
»Wir kennen Jay«, bestätigte ich.
»Arbeitet für Hamlyn & Kohl Worldwide Investigations«, sagte Angie.
»Korrekt. Ihre Meinung über ihn?«
»Beruflich?«
Trevor Stone zuckte mit den Schultern.
»Er ist sehr gut«, sagte Angie. »Hamlyn & Kohl nehmen nur die Besten.«
Stone nickte. »Meines Wissens haben die beiden vor ein paar Jahren angeboten, Ihre Detektei aufzukaufen, wenn Sie für sie arbeiten würden.«
»Woher haben Sie das?«, fragte ich.
»Also stimmt es?«
Ich nickte.
»Und es handelte sich um ein recht großzügiges Angebot, nach allem, was ich mitbekommen habe. Warum haben Sie abgelehnt?«
»Mr. Stone«, sagte Angie, »falls Sie das noch nicht bemerkt haben, aber wir sind nicht die Richtigen für Power Suits und Vorstandsetagen.«
»Aber Jay Becker schon?«
Ich nickte. »Er hat ein paar Jahre beim FBI gearbeitet, bevor er entschied, dass ihm das Gehalt in der Privatwirtschaft besser gefiel. Er mag gute Restaurants, nette Klamotten, hübsche Wohnung, all das. Er sieht gut aus in einem Anzug.«
»Und er ist ein guter Ermittler, sagen Sie.«
»Sehr gut sogar«, sagte Angie. »Er ist derjenige, der die Verbindungen der Boston Federal Bank zum Mob aufzuklären half.«
»Ja, ich weiß. Was glauben Sie, wer ihn dafür angeheuert hat?«
»Sie«, antwortete ich.
»Und noch ein paar andere bedeutende Geschäftsleute, die ziemliche Summen verloren hatten, als 1988 der Immobilienmarkt einbrach und die Krise der Bausparkassen begann.«
»Wenn Sie ihn schon früher eingesetzt haben, wozu bitten Sie uns dann um ein Leumundszeugnis?«
»Weil ich Mr. Becker und Hamlyn & Kohl damit beauftragt habe, meine Tochter zu suchen, Mr. Kenzie.«
»Zu suchen?«, fragte Angie. »Wie lange wird sie denn schon vermisst?«
»Seit vier Wochen«, antwortete Stone. »Seit zweiunddreißig Tagen, um genau zu sein.«
»Und hat Jay sie gefunden?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht«, sagte Stone. »Mr. Becker wird ebenfalls vermisst.«
An jenem Vormittag war es in der City kalt, aber angenehm gewesen, nicht zu windig, Temperaturen um die null Grad. Das Wetter machte auf sich aufmerksam, aber nicht so sehr, um es zu hassen.
Auf Trevor Stones Rasen hinter dem Haus allerdings pfiff der Wind vom Atlantik herein, die aufgewühlte See trug Schaumkronen, und die Kälte traf mich im Gesicht wie Schrot. Ich stellte den Kragen meiner Lederjacke auf, Angie vergrub ihre Hände tief in den Taschen und zog die Schultern hoch, doch Trevor Stone legte sich in den Wind. Er hatte einen leichten grauen Regenmantel übergezogen, bevor er uns hier hinausführte, doch der flatterte ihm nur um den Körper, als er aufs Meer hinausschaute und die Kälte herauszufordern schien.
»Hamlyn & Kohl haben mir die Anzahlung zurückgegeben und die Sache fallenlassen«, sagte er.
»Mit welcher Begründung?«
»Das sagen sie nicht.«
»Das ist sittenwidrig«, sagte ich.
»Welche Möglichkeiten habe ich denn?«
»Zivilgericht«, antwortete ich. »Sie könnten sie durch die Mangel drehen.«
Stone drehte sich um und schaute uns an, bis wir verstanden.
»Der Rechtsweg ist nutzlos.«
Stone nickte. »Bis irgendetwas verhandelt wird, bin ich schon tot.« Wieder stellte er sich dem Wind entgegen, sprach mit dem Rücken zu uns, und seine Worte wurden von der steifen Brise mitgerissen. »Ich war mal ein mächtiger Mann, niemand wagte es, mir gegenüber respektlos zu sein. Furcht kannte ich nicht. Jetzt bin ich machtlos. Alle wissen, dass ich sterben werde. Alle wissen, dass ich keine Zeit mehr habe, gegen sie anzutreten. Alle lachen, da bin ich mir sicher.«
Ich stellte mich neben ihn. Kurz vor seinen Füßen endete der Rasen, und zerklüftete schwarze Felsen fielen steil nach unten ab. In den tobenden Fluten glänzten sie wie Elfenbein.
»Und warum dann wir?«, fragte ich.
»Ich habe mich umgehört«, sagte Stone. »Alle, mit denen ich gesprochen habe, meinten, Sie beide besitzen die Qualitäten, die ich brauche.«
»Welche Qualitäten?«, fragte Angie.
»Sie sind ehrlich.«
»Soweit das –«
»– in einer korrupten Welt etwas zu bedeuten hat, ja, Mr. Kenzie. Aber Sie sind ehrlich zu denen, die Ihr Vertrauen gewonnen haben. Und genau das habe ich vor.«
»Uns zu entführen war vielleicht nicht die beste Art, das zu erreichen.«
Stone zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein verzweifelter Mann, dem die Zeit davonläuft. Sie haben Ihr Büro
geschlossen, nehmen keine Fälle an und treffen sich nicht mal mit möglichen Klienten.«»Das ist richtig«, sagte ich.
»Ich habe Ihre Privatnummer und Ihr Büro in der letzten Woche mehrmals angerufen. Sie gehen nicht ans Telefon und haben keinen Anrufbeantworter.«
»Habe ich schon«, entgegnete ich. »Er ist im Augenblick nur nicht angeschlossen.«
»Ich habe Briefe geschickt.«
»Er öffnet seine Post nicht, nur die Rechnungen«, sagte Angie.
Stone nickte, so als sei das in gewissen Kreisen üblich. »Also musste ich verzweifelte Maßnahmen ergreifen, um bei Ihnen Gehör zu finden. Wenn Sie meinen Fall nicht übernehmen wollen, bin ich bereit, Ihnen zwanzigtausend Dollar für Ihre Zeit hier und für die Unannehmlichkeiten zu zahlen.«
»Zwanzigtausend Dollar«, sagte Angie.
»Ja. Geld bedeutet mir nichts mehr, und wenn ich Desiree nicht finde, habe ich auch keine Erben. Außerdem werden Sie bei Ihren Nachforschungen feststellen, dass zwanzigtausend Dollar im Vergleich zu meinem Gesamtvermögen unerheblich sind. Sie können in mein Arbeitszimmer zurückgehen, wenn Sie wollen, das Geld aus der oberen rechten Schreibtischschublade nehmen und weiter Ihr Leben leben.«
»Und wenn wir bleiben«, fragte Angie, »was sollen wir dann tun?«
»Finden Sie meine Tochter. Dass sie tot ist, habe ich bereits in Erwägung gezogen. Es ist sogar höchst
wahrscheinlich. Aber ich werde nicht sterben, ohne zu wissen, was mit ihr geschehen ist.«»Sie haben die Polizei eingeschaltet«, sagte ich.
»Und die hat ein Lippenbekenntnis abgelegt«, sagte er und nickte. »Für sie ist sie nur eine junge, von Kummer geplagte Frau, die beschlossen hat, eine Spritztour zu machen und wieder zu sich zu finden.«
»Und Sie sind sicher, dass dies nicht der Fall ist.«
»Ich kenne meine Tochter, Mr. Kenzie.«
Er machte auf dem Stock kehrt und ging über den Rasen zurück zum Haus. Wir folgten ihm, und ich sah unser Spiegelbild in den großen Glasfronten seines Arbeitszimmers – der verfallende Mann, der den Rücken gegen den Wind durchdrückte, während der Regenmantel ihn umflatterte und der Stock nach Halt auf dem gefrorenen Rasen suchte; links von ihm eine kleine schöne Frau mit dunklem Haar, das ihr über Wangen und Gesicht flog, welches noch Spuren eines großen Verlustes zeigte; und rechts von ihm ein Mann Anfang dreißig, mit Baseballcap, Lederjacke und Jeans, der etwas verwirrt die beiden stolzen, aber verwundeten Menschen neben sich betrachtete.
Als wir zur Veranda kamen, hielt Angie die Tür auf und hakte nach: »Mr. Stone, Sie sagten, wir würden Qualitäten besitzen, nach denen Sie am meisten suchten.«
»Ja.«
»Die eine war Ehrlichkeit. Was ist die andere?«
»Ich habe gehört, Sie geben nie auf«, antwortete er und ging ins Arbeitszimmer. »Niemals.«
»Fünfzig«, sagte Angie, als wir in der U-Bahn von der Wonderland Station zur Innenstadt saßen.
»Ich weiß«, sagte ich.
»Fünfzigtausend Piepen«, wiederholte sie. »Ich fand ja schon zwanzigtausend Dollar verrückt genug, aber jetzt schleppen wir fünfzigtausend mit uns herum, Patrick.«
Ich sah mich in der U-Bahn um und entdeckte drei Meter entfernt ein paar räudige Saufbrüder, etwas weiter drängten sich die Mitglieder einer Gang zusammen, die den Notfallgriff in der Ecke des Wagens beäugten, und neben mir hielt sich ein Irrer mit blondem Igelschnitt und einem völlig entrückten Blick an der Handschlaufe fest.
»Sag’s noch etwas lauter, Angie. Ich bin mir nicht sicher, ob die Jungs da hinten dich verstanden haben.«
»Ups.« Sie beugte sich zu mir und flüsterte: »Fünfzigtausend Dollar.«
»Ja«, erwiderte ich flüsternd, und der Zug nahm bockend und metallisch kreischend eine Kurve, die Neonröhren über meinem Kopf gingen flackernd aus, dann an, dann aus, dann wieder an.
Lurch, der eigentlich Julian Archerson hieß, wie wir herausfanden, hatte sich bereit erklärt, uns nach Hause zu fahren, doch als wir in den stockenden Verkehr auf der 1 A gerieten, nachdem wir zuvor bereits eine Dreiviertelstunde im dicksten Verkehr auf der Route 129 gestanden hatten, hatten wir uns so nah wie möglich an der U-Bahn absetzen lassen und waren zur Wonderland Station gegangen.
RouteNun klemmten wir mit all den anderen Sardinen in einem altersschwachen Waggon, der sich durch das Tunnelgewirr wuchtete, das Licht ging an und wieder aus, und wir hatten fünfzigtausend von Trevor Stones Dollars bei uns. Angie hatte den Scheck über dreißig Riesen in der Innentasche ihrer Collegejacke stecken, ich hatte das Bargeld zwischen Magen und Gürtelschnalle gestopft.
»Sie brauchen Bargeld, wenn Sie sofort anfangen wollen«, hatte Trevor Stone gesagt. »Scheuen Sie keine Kosten. Das ist nur Betriebskapital. Rufen Sie an, wenn Sie mehr brauchen.«
»Betriebskapital.« Ich hatte keine Ahnung, ob Desiree Stone noch lebte oder nicht, aber wenn ich fünfzig Riesen ausgeben sollte, um sie zu finden, musste sie sich schon eine ziemlich entlegene Gegend auf Borneo oder in Tanger als Versteck ausgesucht haben.
»Jay Becker«, sagte Angie und pfiff.
»Ja«, sagte ich. »Kein Scherz.«
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
»Vor sechs Wochen vielleicht«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Wir führen kein Buch darüber.«
»Ich habe ihn seit den Big Dick Awards nicht mehr gesehen.«
Der Irre zu meiner Rechten hob die Augenbrauen und schaute mich an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Und wenn sie sich noch so herausputzen, man kann sie nirgendwohin mitnehmen.«
Er nickte und starrte dann wieder sein Spiegelbild in der dunklen U-Bahn-Fensterscheibe an, als würde ihm das alles auf die Nerven gehen.
Beim Big Dick Award handelte es sich eigentlich um die höchste Auszeichnung der Boston Investigators Association für hervorragende Detektivarbeit. Doch alle in der Branche nannten ihn so.
Jay Becker hatte dieses Jahr gewonnen, schon zum dritten Mal in Folge, und für eine Weile schwirrte das Gerücht herum, dass er sich von Hamlyn & Kohl trennen und sein eigenes Büro eröffnen würde. Ich kannte Jay gut, und ich war nicht sonderlich überrascht, als sich die Gerüchte als falsch erwiesen.
Nicht, dass Jay allein am Hungertuch genagt hätte. Im Gegenteil, er war sicherlich der bekannteste Privatschnüffler in Boston. Er sah gut aus, war überaus smart und hätte Honorarpauschalen im mittleren fünfstelligen Bereich verlangen können, wenn er gewollt hätte. Einige von Hamlyn & Kohls reichsten Klienten hätten gern die Straßenseite gewechselt, wenn Jay dort seine Pforten geöffnet hätte. Doch alles Geld von New England hätte nichts daran geändert, dass er ihre Fälle nicht übernehmen konnte. Jeder Ermittler, der bei Hamlyn & Kohl anheuerte, unterschrieb nämlich zugleich auch eine Ausschlussklausel. Nach Verlassen der Detektei durfte man drei Jahre lang keine Klienten annehmen, mit denen man bei Hamlyn & Kohl zusammengearbeitet hatte. Drei Jahre in dieser Branche waren so gut wie zehn im normalen Leben.
Hamlyn & Kohl hatte ihn also ziemlich fest im Griff. Doch wenn es einen Detektiv gab, der gut genug war und sich den nötigen Respekt verdient hatte, um von Bord des Schiffs zu gehen, dann war es Jay Becker. Allerdings konnte Jay nicht mit Geld umgehen, schlimmer als alle, die ich je kennengelernt hatte. Kaum hatte er welches, gab er es schon wieder aus – für Klamotten, Autos, Frauen, Ledercouchgarnituren und all das. Hamlyn & Kohl übernahmen seine Betriebskosten, stellten ihm ein Büro, überschrieben ihm Geschäftsanteile und verwalteten sie für ihn, zahlten in die Rentenkasse ein und pflegten sein Portfolio an Staatsanleihen. Sie kümmerten sich väterlich um ihn, und das war es, was Jay Becker brauchte, einen Vater.
In Massachusetts müssen angehende Privatermittler zweieinhalbtausend Stunden bei einer staatlich zugelassenen Detektei abarbeiten, bevor sie selbst eine Zulassung erhalten. Jay hatte wegen seiner FBI-Erfahrungen nur tausend Stunden abarbeiten müssen, und das bei Everett Hamlyn. Angie hatte ihre Stunden bei mir geleistet. Ich meine wiederum bei Jay Becker.
Hamlyn & Kohls Anheuerungstechnik bestand darin, einen ehrgeizigen, vielversprechenden Jungspund einzustellen und ihn, hungrig, wie er war, mit einem erfahrenen Ermittler zusammenzutun, der ihm alle Tricks beibrachte, ihm seine zweieinhalbtausend Stunden verschaffte und ihm natürlich die Augen für die goldene Welt von Hamlyn & Kohl öffnete. Alle mir Bekannten, die ihre Lizenz auf diese Weise erworben hatten, arbeiteten weiterhin für Hamlyn & Kohl. Alle außer mir.
Was Everett Hamlyn, Adam Kohl oder ihren Anwälten
gar nicht gefiel. Eine Weile gab es Nörgeleien von ihrer Seite, normalerweise auf feinem Papier mit dem Briefkopf der Anwälte von Hamlyn & Kohl, gelegentlich auch auf dem Briefpapier der Firma selbst. Ich hatte allerdings nie etwas unterschrieben, nie auch nur mündlich angedeutet, dass ich vorhatte, bei ihnen einzusteigen, und als Cheswick Hartman, mein eigener Anwalt, dies auf seinem Briefpapier festhielt (einem sehr feinen malvenfarbenen Papier), landeten in meinem Briefkasten keine weiteren Nörgeleien mehr. Irgendwie schaffte ich es dann, eine eigene Detektei aufzumachen, deren Erfolg meine Erwartungen weit übertraf, und ich arbeitete für eine Klientel, die sich die Dienste von Hamlyn & Kohl nicht leisten konnten.Zuletzt hatten wir die Detektei jedoch geschlossen. Es muss am aberwitzigen Irrsinn eines Evandro Arujo, Gerry Glynn und Alec Hardiman gelegen haben – ein Irrsinn, der Angies Ex Phil das Leben gekostet hatte. Seitdem hatten wir nichts Wichtiges unternommen, es sei denn, man zählt Gespräche um immer dieselben Themen, alte Filme und zu viel Alkohol zu den wichtigen Dingen.
Keine Ahnung, wie lange das noch so weitergegangen wäre – einen Monat vielleicht, vielleicht auch, bis uns unsere Lebern unter Berufung auf ungebührlich grausame Behandlung die Freundschaft aufgekündigt hätten –, doch dann hatte ich Angies vertraulichen Blick gesehen, und da wusste ich, dass wir den Fall übernehmen würden, auch wenn Trevor Stone so unhöflich gewesen war, uns zu betäuben und zu entführen. Die fünfzig Riesen taten das ihre, um über Stones anfänglich schlechtes Benehmen hinwegzusehen.
Findet Desiree Stone.
Ganz einfach. Wie einfach, blieb noch abzuwarten. Sicher war ich mir nur, dass wir uns an Jay Beckers Fersen heften mussten. Jay, mein Mentor, hatte mir folgendes Credo mitgegeben:
»Niemand«, sagte er mir gegen Ende meiner Lehrzeit, »und damit meine ich niemand, kann sich für immer verstecken, wenn nur die richtige Person nach ihm sucht.«
»Und was ist mit den Nazis, die nach dem Krieg nach Südamerika geflohen sind? Niemand hat Josef Mengele aufgestöbert, erst als er friedlich und in Freiheit verstorben war.«
Jay warf mir den Blick zu, an den ich mich in unseren gemeinsamen drei Monaten bereits gewöhnt hatte. Es handelte sich um seinen »FBI-Blick«, wie ich ihn nannte, der Blick eines Mannes, der seine Zeit in den dunkelsten Fluren der Regierung verbracht hatte, eines Mannes, der wusste, wo die Leichen verbuddelt und welche Papiere geschreddert worden waren und warum, eines Mannes, der wahrer Macht näher gekommen war, als den meisten von uns je vergönnt sein würde.
»Und du glaubst, man wusste nicht, wo Mengele war? Willst du mich verkohlen?« Er beugte sich über unseren Tisch im Bay Tower Room und hielt sich, makellos wie immer, die Krawatte gegen den Bauch, obwohl unsere Teller bereits abgeräumt und die Krümel fortgewischt worden waren. »Patrick, ich kann dir eins versichern, Mengele hatte drei Riesenvorteile vor den meisten anderen, die verschwinden wollen.«
»Und die wären?«
»Erstens«, sagte er und hob den Zeigefinger, »Mengele
hatte Geld. Zu Anfang Millionen. Doch Millionäre kann man aufspüren. Zweitens« – sein Mittelfinger folgte dem Zeigefinger – »hatte er Informationen – über andere Nazis, über Schätze, die in Berlin vergraben lagen, über alle möglichen medizinischen Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, indem er Juden als Versuchskaninchen benutzt hatte –, und diese Informationen gingen an mehrere Regierungen, die angeblich nach ihm suchten, auch an unsere.«Er hob die Augenbrauen und lehnte sich lächelnd zurück.
»Und der dritte Grund?«
»Ah, ja. Drittens, das Wichtigste – Josef Mengele hatte niemals mich an den Hacken. Denn niemand kann sich vor Jay Becker verstecken. Und jetzt, wo ich dich ausgebildet habe, D’Artagnan, mein junger Gascogner, kann sich auch niemand mehr vor Patrick Kenzie verstecken.«
»Habt Dank, mein Athos.«
Er machte eine schnörkelige Handbewegung und senkte den Kopf.
Jay Becker. Kein lebender Mensch hatte je mehr Stil.
Jay, dachte ich, als die U-Bahn aus dem Tunnel in das wächsern grüne Licht von Downtown Crossing kam, ich hoffe, du hattest recht. Denn jetzt geht es los. Eins, zwei, drei – ich komme, hinter mir und vor mir, über mir und unter mir gilt nicht.
Ich versteckte die zwanzig Riesen in meiner Wohnung. Hinter einer Fußleiste in der Küche befand sich ein Hohlraum, wo ich auch meine Ersatzwaffen aufbewahrte. Angie und ich wischten den Esszimmertisch ab und breiteten aus,
was wir seit dem Vormittag zusammengetragen hatten. In der Mitte lagen die Fotos von Desiree Stone, daneben die Tagesberichte, die Trevor Stone von Jay erhalten hatte, bis er vor dreizehn Tagen selbst verschwunden war.»Warum haben Sie so lange damit gewartet, einen weiteren Detektiv einzuschalten?«, hatte ich ihn gefragt.
»Adam Kohl versicherte mir, er habe einen zweiten Mann darauf angesetzt, aber ich glaube, das war nur Verzögerungstaktik. Eine Woche später ließen sie mich als Klienten fallen. Ich habe fünf Tage damit zugebracht, mir jeden einzelnen Ermittler in der City anzuschauen, der als ehrlich gilt, bis ich mich schließlich für Sie entschieden habe.«
Im Esszimmer dachte ich darüber nach, Hamlyn & Kohl anzurufen und Everett Hamlyn um seine Sicht der Dinge zu bitten, doch ich hatte so das Gefühl, dass ich bei ihnen vor eine Wand laufen würde. Wenn man einen Klienten von Trevor Stones Format fallenlässt, hängt man das nicht an die große Glocke oder plaudert mit einem Konkurrenten darüber.
Angie zog Jays Berichte zu sich, und ich schaute mir noch einmal die Notizen an, die wir in Trevors Büro gemacht hatten.
»Nach dem Tod ihrer Mutter«, hatte Trevor uns erzählt, »erlebte Desiree innerhalb eines Monats gleich zwei traumatische Ereignisse, von denen jedes einzelne eine junge Frau schon zur Verzweiflung gebracht hätte. Erst meine Diagnose, Krebs im Endstadium, dann der Tod eines jungen Mannes, mit dem sie im College ausgegangen war.«
»Wie?«, fragte Angie.
»Ertrunken. Ein Unfall. Aber Desiree, verstehen Sie,
war, nun ja, den Großteil ihres Lebens von ihrer Mutter und mir vor allem bewahrt worden. Sie hatte ein sehr behütetes Leben geführt und nicht die kleinste Tragödie erlebt. Sie hat sich immer für stark gehalten. Wahrscheinlich, weil sie so eigensinnig und dickköpfig ist wie ich, hat sie das mit jener Art von Feuereifer verwechselt, den man unter extremem Widerstand entwickelt. Sie ist nie auf die Probe gestellt worden, verstehen Sie? Als ihre Mutter starb und ich auf der Intensivstation lag, da war sie entschlossen, allem standzuhalten. Und das hätte sie wohl auch geschafft. Doch dann kam noch die Krebsdiagnose hinzu, kurz darauf der Tod eines früheren Verehrers. Bumm. Bumm. Bumm.«Trevor zufolge zerbrach Desiree unter dem Gewicht dieser Tragödien. Sie litt an Schlaflosigkeit, verlor dramatisch an Gewicht und sprach kaum noch einen vollständigen Satz.
Ihr Vater drängte Desiree, sich in Therapie zu begeben, doch sie ging zu keinem der vier Termine, die er für sie ausgemacht hatte. Stattdessen, so informierten ihn Lurch, das Stehaufmännchen und ein paar Freunde, wurde sie immer wieder in der Innenstadt gesehen, wo sie den Großteil des Tages verbrachte. Sie stellte ihren Saab Turbo, den ihre Eltern ihr zur Abschlussprüfung geschenkt hatten, in einem Parkhaus in der Boylston Street ab und streifte durch jenes zehn Kilometer lange Parksystem, das die Innenstadt und die Back Bay umgibt. Einmal wanderte sie sogar bis zu einem Abschnitt der Fens hinter dem Museum of Fine Arts, doch meistens hielt sie sich an die schattige Promenade, die den Mittelstreifen der Commonwealth Avenue bildete, und den sich daran anschließenden Public Garden.
Dort, so hatte sie selbst Trevor erzählt, war sie einem Mann begegnet, der ihr endlich etwas von jenem Trost bot, nach dem sie so lange gesucht hatte. Der Mann, sieben oder acht Jahre älter als sie, hieß Sean Price; auch er war durch eine Tragödie schwer getroffen worden. Während einer Dienstreise waren seine Frau und seine fünfjährige Tochter ums Leben gekommen, so erzählte er Desiree, als eine defekte Klimaanlage Kohlenmonoxid in ihr Haus in Concord geleitet hatte. Sean Price fand sie bei seiner Rückkehr am nächsten Abend.
»Ganz schön lang«, sagte ich und schaute von den Notizen auf.
Angie löste sich von Jay Beckers Berichten und hob den Kopf. »Was denn?«
»Meinen Notizen zufolge hat Desiree Trevor berichtet, dass Sean Price Frau und Kind fast vierundzwanzig Stunden nach ihrem Tod entdeckte.«
Angie streckte die Hand nach ihren eigenen Notizen aus und blätterte. »Ja. Das hat Trevor gesagt.«
»Kommt mir ziemlich lang vor«, sagte ich. »Eine junge Frau und ihre fünfjährige Tochter sind einen ganzen Tag lang wie vom Erdboden verschluckt, und keiner wundert sich?«
»Heutzutage werden die Menschen immer unfreundlicher und interessieren sich immer weniger für ihre Nachbarn.«
Ich runzelte die Stirn. »Na ja, okay, in der Innenstadt vielleicht oder in den weniger gut betuchten Vororten. Aber in Concord? Land der viktorianischen Anwesen und Kutschenhäuser und der Old North Bridge? Blütenweißes
Oberschicht-Amerika. Sean Prices Kind ist fünf. Keine Tagesbetreuung? Kein Kindergarten, kein Ballettunterricht, gar nichts? Seine Frau macht kein Aerobic, hat keinen Job, keine Verabredung mit einer anderen jungen Mutter der oberen Mittelschicht?«»Das stört dich.«
»Ein wenig. Es kommt mir merkwürdig vor.«
Angie lehnte sich zurück. »Unter Profis nennt man dieses Gefühl eine ›Vorahnung‹.«
Ich beugte mich mit einem Stift über meine Notizen. »Wie schreibst du das? Mit oder ohne ›h‹?«
»Nein, mit ›b‹, wie ›Blödmann‹.« Sie lächelte mir zu. »Sean Price überprüfen«, sagte sie und schrieb es auf. »Und Tod durch Kohlenmonoxid in Concord, 1995 bis ’96.«
»Und der tote Freund. Wie hieß er noch gleich?«
Angie blätterte um. »Anthony Lisardo.«
»Richtig.«
Sie warf einen Blick auf die Fotos von Desiree und verzog das Gesicht. »Ziemlich viele Menschen, die um sie herum sterben.«
»Ja.«
Angie nahm eines der Fotos in die Hand, und ihr Gesicht entspannte sich. »Meine Güte, ist sie schön. Und es ergibt ja durchaus Sinn, Trost bei jemandem zu suchen, der selbst einen Verlust erlitten hat.« Sie sah zu mir herüber. »Weißt du?«
Ich schaute ihr in die Augen, suchte nach den Anzeichen von Verletzungen und Schmerz, die irgendwo dahinter lagen, sowie nach der Angst, sich zu sehr um jemanden zu sorgen und erneut verletzt zu werden. Doch alles, was ich
sah, war der Hauch des Erkennens und des Mitleids, der bereits darin aufgeblitzt war, als sie Desirees Vater angeschaut hatte.»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
»Aber jemand könnte das ausnutzen«, fuhr sie fort und wandte sich wieder Desirees Gesicht zu.
»Wie das?«
»Wenn du jemanden manipulieren willst, der nahezu starr ist vor Kummer, wie würdest du dann vorgehen?«
»Wenn ich manipulativ und zynisch zugleich wäre?«
»Ja.«
»Dann würde ich versuchen, eine Gemeinsamkeit herzustellen.«
»Indem du zum Beispiel vorgibst, selbst einen schweren Verlust erlitten zu haben?«
Ich nickte. »Das wäre wohl die erfolgreichste Methode.«
»Schätze, wir sollten auf jeden Fall mehr über diesen Sean Price herausfinden.« Ein begeistertes Strahlen schlich sich in ihre Augen.
»Was steht denn in Jays Berichten über ihn?«
»Hm, mal sehen. Nichts, was wir nicht schon wissen.«
Angie blätterte, hielt plötzlich inne und sah mich lächelnd an.
»Was?«, fragte ich und spürte, wie ich selbst zu lächeln begann, so ansteckend war ihre Begeisterung.
»Das ist cool«, sagte sie.
»Was denn?«
Sie nahm ein Blatt Papier in die Hand und deutete auf das ganze Durcheinander auf dem Tisch. »Das hier. Das alles. Wir sind wieder auf der Jagd, Patrick.«
»Ja«, sagte ich, und bis zu diesem Augenblick war mir noch gar nicht aufgefallen, wie sehr ich das alles vermisst hatte – Knoten entwirren, die Fährte aufnehmen, den ersten Schritt machen, das zu enträtseln, was zuvor unbekannt und unzugänglich gewesen war.
Im nächsten Augenblick jedoch verging mir beinahe das Lächeln, denn es war genau diese Begeisterung gewesen, diese Sucht, Dinge auszubuddeln (bei denen es manchmal besser gewesen wäre, sie wären verbuddelt geblieben), die mich Auge in Auge mit der moralischen Verkommenheit von Gerry Glynns Psyche gebracht hatte.
Durch dieselbe Sucht hatte sich Angie eine Kugel eingehandelt, ich hatte davon Narben im Gesicht und einen Nervenschaden an einer Hand. Und Angies Exmann Phil war in meinen Armen gestorben, nach Luft schnappend und völlig verängstigt.
»Alles wird gut«, hatte ich zu ihm gesagt.
»Ich weiß«, hatte er gesagt. Und war gestorben.
All das Suchen, Aufdecken und Jagen konnte erneut zu der eisigen Erkenntnis führen, dass eben nicht alles wieder gut wurde, für keinen von uns. Unsere Herzen und Gedanken waren verborgen, weil sie zerbrechlich waren, aber sie waren auch deswegen verborgen, weil das, was in ihnen schwärte, trostloser und verkommener war als alles, was andere noch ertragen konnten.
»He«, sagte Angie, die noch immer lächelte, wenn auch nicht mehr so selbstgewiss, »was ist denn?«
Ich hatte ihr Lächeln schon immer gemocht.
»Ach, nichts«, sagte ich. »Du hast recht. Das ist cool.«