Über das Buch:
Die zurückgezogen lebende Musikprofessorin Wilhelmina Brewster ist ihr ganzes Leben auf Nummer sicher gegangen. Risiko, Abenteuer und Spontaneität sind Fremdwörter für sie. Doch dann lernt sie den lebenshungrigen und unternehmungslustigen Piloten Mike Dolan kennen. Eigentlich will sie ihm nur einen frommen Flyer zustecken, um sich dann wieder in ihr geordnetes Leben zurückzuziehen. Aber es kommt ganz anders: Plötzlich findet Wilhelmina sich in einem Heißluftballon-Wettbewerb wieder, sie geht mit Mike angeln und lässt sich auf allerlei andere verrückte Ideen von ihm ein.
Kann es sein, dass das Leben so viel mehr bereithält, als sie bisher gedacht hat? Und kann es sein, dass sie und Mike beide voneinander lernen können, worauf es wirklich ankommt?

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt am Lake Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.

Kapitel 8

Samstag, den 17. Oktober 1987

Als Wilhelmina am Samstag darauf erwachte, war ihr, als hätte sie die Nacht in ihrem Flügel verbracht und alle 88 Hämmer hätten auf ihren Kopf eingedroschen. Sie wünschte, es wäre der Beginn einer Grippe – Hauptsache, sie hatte eine Ausrede, den Feierlichkeiten am College fernzubleiben. Larry würde niemals verstehen, warum sie nicht hinging. Er würde von Pflicht und Verantwortung reden und ihr Schuldgefühle einreden, bis sie schließlich ein falsches Lächeln aufsetzte und einwilligte, ihn zu begleiten. Wilhelmina hatte noch nie im Leben einen Streit mit ihm gewonnen. Wenn das Homecoming-Wochenende vorbei war und Larry wieder zu seiner tollen Gemeinde in Springfield zurückgekehrt war, würde sie wochenlang Depressionen haben.

Sie nahm zwei Kopfschmerztabletten und holte saubere Bettwäsche für das Gästezimmer heraus. Wenn sie doch nur eine legitime Ausrede hätte, um zu Hause zu bleiben; eine, gegen die nicht einmal Larry etwas einwenden konnte. Sie überlegte immer noch krampfhaft, als ihr Telefon klingelte.

„Hallo, Professor. Mike Dolan hier. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“ Es war ein gutes Gefühl, Mikes Stimme zu hören, trotz ihres anhaltend schlechten Gewissens, dass sie es noch immer nicht geschafft hatte, ihm von Jesus zu erzählen.

„Nein, nein, Sie stören überhaupt nicht. Was kann ich für Sie tun, Mike?“

„Ich hoffe, Sie meinten es ernst, als Sie gesagt haben, Sie würden Lori Klavierunterricht geben. Seit Samstag haben nämlich ihr Vater und ich keine ruhige Minute mehr.“

„Natürlich war es mein Ernst. Ist ihr Vater einverstanden?“

„Nachdem ich ein bisschen nachgeholfen habe. Was ich Sie fragen wollte … ich habe Lori angeboten, dass sie Helens altes Klavier bekommen kann, aber ich bin nicht sicher, ob es überhaupt noch etwas taugt.“

„Soll ich es mir einmal ansehen?“

„Das wäre wirklich nett, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Seit Jahren hat niemand mehr darauf gespielt.“

„Wie wäre es mit heute Nachmittag?“

„Also, wenn Sie andere Pläne haben, will ich Ihnen die nicht kaputt machen. So eilig ist es nicht.“

„Nein, mir passt heute Nachmittag sogar sehr gut.“

„Fantastisch! Wie wäre es denn, wenn ich Sie gegen eins abhole?“

„Ich kann selbst fahren, Mike, das macht mir nichts aus.“

„Nein, Sie sollen für mich kein Benzin verschwenden. Ich bin gegen ein Uhr da.“ Dann legte er auf, bevor sie noch protestieren konnte.

Wilhelmina summte vor sich hin, während sie das Gästebett herrichtete. Noch eine Fahrt in Mikes Pick-up war nicht so schlimm wie ein ganzer Nachmittag gezwungene Geselligkeit am Faith College. Sie hatte eine gute Ausrede, um zu Hause zu bleiben. Alles andere war unwichtig.

Laurentius und seine Frau Marjorie trafen am späten Vormittag ein. Mit dem üblichen Pomp. Ihr Bruder rauschte wie königlicher Besuch in Wilhelminas Haus und übernahm sofort die Regie. Mehr denn je erinnerte er Wilhelmina mit seiner Patriziernase und dem düsteren Blick unter seinen vorstehenden Augenbrauen an einen großen Weißkopfseeadler. Larrys gewaltige Präsenz überschattete seine rundliche, grauhaarige Frau vollkommen. Marjorie nahm die biblische Anweisung, dass Frauen sich ihren Ehemännern unterordnen sollten, sehr wörtlich und soweit Wilhelmina wusste, hatte sie noch nie im Leben eine eigene Meinung geäußert. Und das würde sie sicherlich auch nicht tun, solange sie mit Larry verheiratet war, der in jeder Angelegenheit die oberste Autorität hatte.

Der Reverend Dr. Laurentius Horatio Brewster, Doktor der Theologie, holte seit 45 Jahren erfolgreich auf Abwege geratene Schäfchen ins Himmelreich. Während des Mittagessens beschloss Wilhelmina, sein umfangreiches Wissen anzuzapfen, um einige Tipps zu bekommen, wie sie am besten mit Mike über Gott reden konnte. Aber sie würde vorsichtig sein und die Fragen allgemein halten müssen, sonst würde Larry selbst anfangen, Fragen zu stellen. Sie reichte den Teller mit Schinkenbroten herum und fragte: „Sag mal, Larry, wie teilt sich deine Arbeit eigentlich auf zwischen denen, die schon Christen sind, und denen, die noch nicht gerettet sind?“

„Ich habe natürlich eine recht große Gemeinde, wie du weißt, also muss ich viele Aufgaben an meine Kollegen delegieren, die für bestimmte Bereiche zuständig sind. Derzeit habe ich einen sehr kompetenten Pastor für Evangelisation, dessen Aufgabe es ist, die Verlorenen anzusprechen.“

„Wie macht er das? Geht er an die Hecken und Zäune und ruft sie zusammen?“

„Natürlich nicht. Das ist jetzt ein Spezialgebiet der Theologie. Am Seminar kann man Evangelisation als Hauptfach belegen.“

Das war ein schwerer Schlag für Wilhelmina. Wenn Pastoren jetzt schon Universitätsseminare brauchten, um Ungläubigen wie Mike Zeugnis zu geben, wie sollte sie dann dabei erfolgreich sein? All die Karteikarten in ihrer Handtasche schienen ihr plötzlich albern verglichen mit einem Hochschulabschluss in Evangelisation.

„Nehmen wir an, dein Pastor für Evangelisation begegnet einem Ungläubigen … wie, ist ja auch egal. Was könnte er zu ihm sagen? Wie würde er anfangen?“

Larry biss in sein Sandwich und tupfte sich anschließend mit der Serviette den Mund ab. „Der erste Schritt wäre, diesem Sünder seine völlige Verderbtheit, die Ausschweifungen und die Verkommenheit seiner unsterblichen Seele bewusst zu machen, die Korruption und Unreinheit …“

„Komm schon, Larry. Wir reden nicht von einem Massenmörder, sondern von einem ganz normalen Mann von der Straße.“

Er sah sie durch halb geschlossene Augen geduldig an. „In der Bibel steht in Römer 3,23, dass alle Menschen gesündigt haben und der Herrlichkeit Gottes nicht gerecht werden. Also ist auch dein ganz normaler Mann von der Straße in Gottes Augen eine widerwärtige, nichtswürdige Kreatur, deren angemessene Strafe die Hölle und der Tod sind …“

„Jetzt rede doch nicht so geschwollen daher! Mike ist nicht widerwärtig oder nichtswürdig.“

Larry lächelte verschmitzt. „Sprechen wir jetzt von einer konkreten Person?“

Wilhelmina hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Larry hatte sie mal wieder ausgetrickst. Jetzt würde er keine Ruhe geben, bis er die ganze Geschichte kannte. Besser, sie hätte das Thema gar nicht erst angeschnitten. Sie reichte ihm den Teller mit den eingelegten Gurken in der Hoffnung, ihn abzulenken, aber Larry hatte abrupt aufgehört zu essen und starrte sie fragend an. Das würde er so lange tun, bis sie ihm seine Frage beantwortet hatte.

„Also gut! Was macht es schon, wenn es sich um eine konkrete Person handelt? Ich sehe nicht ein, warum man damit anfangen muss, ihm zu sagen, wie widerwärtig und gemein er ist. Er würde doch auf dem Absatz kehrtmachen und gehen. Und ich könnte es ihm noch nicht einmal übelnehmen.“

„Die Wahrheit muss trotzdem gesagt werden, Wilhelmina. Bevor er die riesige, tiefe Kluft erkennt, die ihn von Gott trennt, und die lodernde Strafe des Gerichts, das ihn erwartet, wird der Sünder keine Notwendigkeit für Reue oder für einen Retter sehen.“

Das konnte Wilhelmina nicht. Niemals würde sie mit Mike Dolan über moralische Verderbtheit oder Höllenfeuer und Schwefel reden können. Schon tat es ihr leid, dass sie Larry überhaupt um Rat gefragt hatte. „Möchte jemand ein Stück Kuchen?“, fragte sie daher, als Larry in seiner Predigt eine Pause einlegte.

Marjorie räusperte sich – ein Zeichen dafür, dass sie endlich auch etwas sagen würde. „Ich will dich ja nicht hetzen, Wilhelmina, aber es ist gleich ein Uhr. Du kannst dich ja schon mal umziehen und ich räume in der Zeit das Geschirr ab.“

Wilhelmina holte tief Luft. „Ich komme nicht mit, Marjorie. Ich habe einen anderen Termin.“

Larry ließ seine Gabel sinken. „Du kommst nicht mit? Wilhelmina!“

„Deine Predigt über Pflicht und Verantwortung kannst du dir sparen, Larry. Ich werde nicht mitgehen und das ist mein letztes Wort. Faith College wird ohne mich feiern müssen. Ich werde gleich abgeholt, deshalb müsst ihr mich entschuldigen. Lass das Geschirr einfach stehen, Marjorie, ich kümmere mich später darum.“

Sie nahm die Platten mit den Resten vom Mittagessen, um in die Küche zu gehen, aber Larry erhob sich von seinem Platz am Kopfende des Tisches und stellte sich ihr in den Weg.

„Was soll dieser Unsinn?“ Er klang und wirkte so sehr wie Vater, dass Wilhelmina beinahe gelacht hätte.

„Larry, wer hat letztes Jahr das Spiel zum Homecoming gewonnen? Oder das Jahr davor? Weißt du es noch? Interessiert es dich wirklich? Es ist eine Zeitverschwendung, zu solchen Events zu gehen, und dieses Jahr habe ich dafür wirklich keine Zeit. Ich habe schon eine andere Verabredung.“

Larrys strenge Miene wandelte sich in einen Ausdruck seelsorgerlichen Mitgefühls. Er legte einen Arm um ihre Schulter. „Ich glaube, ich weiß, was dieser kleine Aufstand soll, Wilhelmina. Dein Stolz ist verletzt, nicht wahr? Und deshalb hast du beschlossen, Faith College dieses Jahr zu meiden. Wir alle müssen uns hin und wieder schwierigen Situationen stellen, aber das Beste ist, sozusagen den Stier bei den Hörnern zu packen. Steh auf, klopft den Staub von deinem verletzten Stolz und …“

„Das hier hat nichts mit verletztem Stolz und irgendwelchen Hörnern zu tun, Larry. Ich habe versprochen, ein Klavier für eine Schülerin Probe zu spielen, und ich finde, das ist wichtiger als ein langweiliger Empfang und ein Footballmatch.“

Larry stockte, während er versuchte, mit der Tatsache fertigzuwerden, dass er bei seiner Predigt unterbrochen worden war. „Also wirklich! Das muss aber eine besonders begabte Schülerin sein, wenn du für sie deine Verpflichtungen am Homecoming-Wochenende vernachlässigst!“

Plötzlich erinnerte sich Wilhelmina an Loris kleine Finger mit dem abgeplatzten pinkfarbenen Nagellack. „Oh ja. Sie hat sehr viel Potenzial.“

„Aber es dauert doch nicht den ganzen Tag, ein Klavier anzusehen. Zum Bankett der Ehemaligen heute Abend wirst du doch sicher kommen können.“ Es war keine Frage, es war ein Befehl.

„Natürlich, Larry.“ Sie hatte ihre Freiheit für den Nachmittag erreicht und das war immerhin ein Teilsieg. Während sie sich umdrehte, um das Geschirr in die Küche zu bringen, hörte sie den lauten Auspuff von Mikes Pick-up. Dann ertönte die Hupe.

„Das ist meine Mitfahrgelegenheit. Bis später.“ Sie machte einen Bogen um ihren Bruder und stellte das Geschirr in die Küche in der Hoffnung, schnell verschwinden zu können. Aber Larry hatte aus dem Esszimmerfenster geschaut und stürzte sich jetzt auf Wilhelmina wie ein wütender Stier.

„Gütiger Himmel! Das ist ein … ein Pick-up!“

„Natürlich ist es ein Pick-up, Larry. Wie soll man denn sonst ein Klavier transportieren?“

„Aber du kannst doch unmöglich mit diesem Ding fahren! Das ist doch eine einzige Rostlaube! Und es sitzen Hunde darin!“

Als Wilhelmina die Tür öffnete, hörte sie Buster und Heinz laut zur Begrüßung bellen. Einen Moment lang war sie versucht, Larry an den Kopf zu werfen, was für ein arroganter Wichtigtuer er war. Aber dann erinnerte ihr Gewissen sie daran, dass ihre ursprüngliche Meinung über Mike und seinen Wagen der ihres Bruders gar nicht so unähnlich gewesen war.

„Ja, Larry, in dem Auto sitzen Hunde. Und weißt du was? Sie sind nicht reinrassig.“

* * *

„Ich hindere Sie hoffentlich nicht daran, Zeit mit Ihrem Besuch zu verbringen, oder?“ Mike zeigte auf die Limousine, die in Wilhelminas Auffahrt stand.

„Im Gegenteil. Sie retten mich.“ Ihre Wangen waren leuchtend rot und sie wirkte durcheinander. Mike half ihr neben seinem Enkel Mickey auf den Beifahrersitz und stieg selbst auf der Fahrerseite ein. Dann ließ er den Motor eine Weile im Leerlauf laufen.

„Ich will ja nicht neugierig sein, aber ich sehe, dass Ihr Besuch aus Massachusetts ist.“

„Das sind nur mein Bruder und seine Frau und sie sind ohnehin nicht gekommen, um mich zu besuchen, sondern für das Homecoming-Wochenende am College.“

„Oh.“ Das erklärte, warum Wilhelmina so erpicht darauf gewesen war, das mit dem Klavier heute zu machen. Während Mike den Rückwärtsgang einlegte und zurücksetzte, spürte er, wie Wut auf die College-Vertreter in ihm aufstieg, weil sie Wilhelmina auf so herzlose Weise abgewiesen hatten. Er konnte verstehen, dass sie den Ort mied. Er pfiff ohne besondere Melodie vor sich hin und überlegte, was er tun konnte, um sie aufzuheitern.

„Wollen Sie meiner doofen Schwester wirklich Klavierunterricht geben?“, fragte Mickey Wilhelmina.

„Hey! Du sollst nicht so über deine Schwester reden“, sagte Mike.

„Ach, Grandpa. Lori ist doch hohl. Eine totale Traumtänzerin. Die lernt nie Klavier spielen.“

„Na, wir sind wohl ein bisschen eifersüchtig, was?“, gab Mike zurück.

„Quatsch.“ Aber daran, wie Mickey auf seinem Sitz kleiner wurde, konnte Mike erkennen, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.

„War ja nur eine Frage. Manche Kinder haben ein Problem damit, wenn ihre Schwester etwas Neues bekommt – zum Beispiel ein Klavier und Klavierunterricht.“ Mickey verschränkte die Arme. „Professor Brewster hat mir erzählt, dass sie zwei Brüder hat. Ich frage mich, ob die beiden jemals eifersüchtig waren, weil sie Klavier gespielt hat.“ Er warf Wilhelmina einen Blick zu in der Hoffnung, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen, aber als er den traurigen Ausdruck sah, der über ihr Gesicht huschte, wünschte er, er könnte die Frage zurücknehmen.

„Wahrscheinlich waren sie schon manchmal ein bisschen eifersüchtig“, sagte sie, den Blick auf ihren Schoß gesenkt. „Aber sie haben auch bestimmte Fähigkeiten, die ich nicht habe, also gleicht es sich am Ende wieder aus.“ Sie sah Mickey an. „Ich glaube, du wärst glücklicher, wenn du Lori erlauben würdest, sie selbst zu sein, und dich stattdessen auf die Begabungen konzentrieren könntest, die nur du besitzt.“

Einige Minuten später hielt Mike vor seinem winzigen Bungalow. Er trat als Erster ein, froh darüber, dass er aufgeräumt hatte. Das Haus sah deutlich ordentlicher aus als beim letzten Mal, als Wilhelmina hier gewesen war. Aber trotz der Tatsache, dass keine schmutzigen Socken oder halb aufgegessene Butterbrote herumlagen, ärgerte es ihn, dass auf dem Klavierhocker genug Staub lag, um mit dem Finger seinen Namen daraufzuschreiben.

„Die Putzfrau hat wohl vergessen, Staub zu wischen.“ Er zog sein Taschentuch heraus und wischte über den Hocker. „Nur zu, Willymina. Tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Es ist ein schönes Klavier von einer guten Marke. Bestimmt ist es in Ordnung.“ Sie setzte sich und öffnete den Klavierdeckel. Dann stürzte sie sich in eine schwindelerregende Vorführung ihres Talents, bei der ihre Hände die gesamte Tastatur erkundeten.

„Wow! So ist das Ding bestimmt in seinem ganzen Leben noch nicht gespielt worden“, sagte Mike, als sie endete. „Wahrscheinlich fragt es sich gerade völlig verwirrt, was los ist.“

„Es ist ein gutes Instrument. Sollten Sie jemals beschließen, es zu verkaufen, wäre es sicherlich einiges wert.“ Sie spielte einen Teil eines Liedes, das Mike irgendwie bekannt vorkam.

„Es klingt weniger verstimmt als das im Beratungszentrum“, grinste er.

Wilhelmina blickte zu ihm auf. Fast lächelte sie. „Ja, das stimmt. Aber ich würde es an Ihrer Stelle trotzdem stimmen lassen, wenn Sie es zum Haus Ihres Sohnes transportiert haben. Ich kann Ihnen Mr Amatos Telefonnummer geben. Er ist sehr gut und seine Preise sind angemessen.“

Sie spielte noch ein, zwei Minuten auf den Tasten herum, so als würde sie ihren Job nur widerwillig beenden, dann experimentierte sie eine Weile mit den Pedalen. Schließlich schloss sie den Klavierdeckel wieder und stand auf. Dann nahm sie das gerahmte Foto von Helen in die Hand, das auf dem Klavier stand.

„Ist das Ihre Frau? Lori hat mir erzählt, dass sie Klavier gespielt hat.“

„Das hat sie, aber nicht so wie Sie. Sie hat vor allem nach Gehör gespielt. Schlager, Weihnachtslieder, solche Sachen. Wann immer wir Freunde oder Verwandte zu Besuch hatten, haben wir sie überredet zu spielen und wir haben alle dazu gesungen. Nichts Besonderes.“

Mickey seufzte voller jugendlicher Ungeduld. „Ist sie fertig, Grandpa? Können wir jetzt angeln fahren?“

„Ja, Mickey. Ich bin fertig. Dein Großvater kann mich wieder nach Hause bringen.“ Sie stellte das Foto von Helen an seinen Platz zurück.

Mike funkelte seinen Enkel an. Wilhelmina würde niemals einwilligen, länger zu bleiben, jetzt, wo sie wusste, dass Mike andere Pläne hatte. Er musste sie aufmuntern, aber er wusste nicht, wie. „Äh … was ist mit Noten, Willymina? Sollte Lori nicht ein Buch oder so was kaufen?“

„Am Anfang noch nicht. Außerdem habe ich jede Menge Bücher, die ich ihr leihen kann.“ Sie nahm ihre Handtasche und bewegte sich in Richtung Tür.

Mike konnte sie nicht nach Hause bringen, wenn er wusste, dass sie alleine dort sitzen und deprimiert sein würde. Aber Wilhelmina würde nie im Leben mit ihnen angeln gehen. „Ich, äh … ich glaube, in dem Hocker hier sind noch alte Noten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich die mal anzusehen, bevor Sie gehen? Ich komme gleich wieder.“

Er verschwand in der Küche, schnappte sich eine Plastiktüte und fing an hineinzustopfen, was er finden konnte. Eine Packung gefrorener Hotdogs. Einen halben Laib Brot. Vier altbackene Donuts. Drei Dosen Limo. Eine Plastikflasche mit Senf. Eine Tüte Chips. Mike warf einen Blick auf die Rolle mit dem Klebeband und überlegte kurz, ob er Mickey damit den Mund zukleben sollte.

„Grandpa hat versprochen, nachher mit mir angeln zu gehen“, hörte er Mickey sagen. Wilhelminas gemurmelte Antwort verstand er nicht. „Ja, deshalb bin ich froh, dass es nicht so lange gedauert hat, das Klavier anzugucken.“

Mike band die Tragegriffe der Plastiktüte zusammen und ging damit ins Wohnzimmer.

„Ist irgendwas davon brauchbar?“, fragte er.

„Ich würde die Noten jedenfalls nicht wegwerfen. Man weiß ja nie.“

„Das bedeutet, dass sie nichts taugen. Also gut. Fahren wir.“

Mike warf die Tüte mit den Snacks hinter dem Fahrersitz auf den Boden, dann lud er die Hunde und alle anderen ein und fuhr los. Zehn Minuten später fuhr er an der Einmündung zu Wilhelminas Straße vorbei.

„Halt, warten Sie! Das gerade war die Abzweigung zu meinem Haus.“

„Tut mir leid, Ma’am, Sie werden entführt. Sie können schreien, so viel Sie wollen, aber es wird nichts nutzen.“

„Aber ich sollte wirklich …“

„Der Kapitän und die Crew dieses Piratenschiffs sind für alles Flehen um Gnade taub, nicht wahr, Mickey, Matrose?“

Mickey runzelte die Stirn. „Hä?“

„Sehen Sie? Was habe ich gesagt?“ Mike warf Wilhelmina einen Blick zu und sah, dass sie ein wenig lächelte.

„Na ja, wenn wir nicht zu lange bleiben …“

„Ich will Sie mal was fragen, Willymina, und ich will eine ehrliche Antwort. Soll ich Sie wirklich nach Hause fahren, damit Sie mit Ihrem Bruder zu dem ganzen Gedöns im College gehen können?“

Sie schwieg einen Moment lang. „Nein. Eigentlich nicht.“

„Dachte ich mir.“ Er grinste breit und stimmte mit schiefem Gesang ein Seemannslied an.

„Mike …“, sagte sie, als er schließlich verstummte. „Ich … ich wollte nur Danke sagen. Dafür, dass Sie eine Frau in Not gerettet haben.“

* * *

Sie fuhren beinahe eine Stunde lang über schmale Straßen im Hinterland, die dem Flusslauf folgten, bis sie zu einem Naturschutzgebiet kamen. Vor einer oder zwei Wochen hatte es hier wahrscheinlich atemberaubend ausgesehen, aber jetzt war die Glanzzeit des Herbstlaubs vorbei. Die Bäume waren beinahe kahl und der Wald wappnete sich schon für den Winter. Mike lenkte den Wagen auf einen leeren Parkplatz.

„Sieht aus, als wären wir die Einzigen hier“, sagte er. „Ich hoffe, Sie haben bequeme Schuhe an.“

Wilhelmina trug eine Nylonstrumpfhose und ziemlich teure Lederpumps mit einem kleinen Absatz. Aber wie ein Gefangener, der Freiheit wittert, war es ihr gleichgültig, ob sie sich die Schuhe ruinierte. Mickey nahm seine Angel und lief mit den Hunden voraus. Mike nahm ihren Arm, während sie vorsichtig tastend dem schmalen, unebenen Pfad folgte.

„Tut mir leid, dass ich so langsam bin.“

„Ach, das macht gar nichts. Sie gehen wahrscheinlich nicht oft im Wald wandern, oder?“

„Du lieber Himmel, nein! Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, wann ich zuletzt im Wald war.“

Sie gingen eine Viertelstunde und die ganze Zeit über hielt Wilhelmina den Blick starr auf den Weg gerichtet, um nach Baumwurzeln, Schlangen und anderen unbekannten Gefahren Ausschau zu halten. Sie fing schon an zu bereuen, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, als Mike plötzlich aus vollem Herzen seufzte.

„Ahhh … der Wald ist so zufrieden und hat etwas an sich, das einen Menschen wieder aufbaut. Wissen Sie, was ich meine?“

Wilhelmina runzelte die Stirn. „Nein. Wie kann ein Wald zufrieden sein?“

„Wenn Sie mal damit aufhören, sich Sorgen zu machen, dass Sie eine Schlange sehen oder stolpern könnten, und sich stattdessen umsehen, werden Sie verstehen, was ich meine.“

„Es ist nicht so einfach, den Spaziergang zu genießen, Mr Dolan, wenn der Weg so uneben ist und ich nicht die richtigen Schuhe trage.“

„Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel, aber ich glaube nicht, dass es am Weg oder an den Schuhen liegt. Ich kann wirklich verstehen, dass Sie heute nicht zum College wollen. Aber gleichzeitig muss es schwer für Sie sein, an all das zu denken, was Sie verpassen. Ich glaube, ein Teil von Ihnen wäre gerne dort und ein anderer Teil nicht.“

Mike kannte sie kaum und doch verstand er sie besser als ihr eigener Bruder. Besser, als sie sich selbst verstand. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen zurück und blickte zum ersten Mal zu dem Baldachin aus Bäumen auf, der sie umgab. Die kahlen Äste schienen zu einem filigranen Muster verwoben wie schwarze Spitze. Und darüber bildete der leuchtend blaue Himmel einen auffälligen Kontrast.

„Woher wissen Sie, dass die Bäume zufrieden sind, Mike?“, fragte sie leise.

„Hören Sie eine Weile hin.“ Er blieb stehen und dann stand sie wortlos staunend da und lauschte der tiefen, durchdringenden Stille um sie herum. Die leise Bewegung der Bäume spielte einen Kontrapunkt zu dem entfernten Gesang von Vögeln, dem sanften Gurgeln des Wassers, dem Rascheln der trockenen Blätter im Wind. „Da kann man doch beinahe hören, wie sie zufrieden seufzen, nicht wahr, Willymina? Und man sieht auch nie, dass Bäume sich streiten oder versuchen, einander herumzuschubsen. Sie sind damit zufrieden, einfach zu leben und zu wachsen und sich mit den Jahreszeiten still zu verändern.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung und die Stille des Waldes und die Musik der flüsternden Blätter unter ihren Füßen kamen ihr vor wie das ansteigende Crescendo einer herrlichen Sinfonie. Als sie schließlich den kleinen Picknickplatz am Ufer des Flusses erreichten, fühlte sich Wilhelmina seelisch erfrischt und ein tiefer Friede überkam sie.

Während Mike und Mickey die Böschung zum Fluss hinunterkletterten, saß sie an dem Picknicktisch. Sie sah zu, wie die beiden den Köder an ihren Angeln befestigten und in die Mitte des Flusses auswarfen. Sie lauschte dem Murmeln ihrer Stimmen, während sie über die Fische sprachen, die sie fangen würden, und über den besten Köder. Als Mickey versorgt war, kam Mike die Böschung herauf und setzte sich neben sie auf die Bank.

„Ist es eigentlich erlaubt, in einem Naturschutzgebiet zu angeln?“, fragte sie.

„Er fängt nie etwas“, flüsterte Mike.

„Nie? Dann wundert es mich, dass er immer noch gerne angeln geht.“

„Na ja, er denkt, er hätte ein paar Fische gefangen.“

„Wieso sollte er das denken?“

„Weil ich gelegentlich einen oder zwei, die ich gefangen habe, an seine Angel gehängt habe, wenn er nicht hingesehen hat. Aber nie in einem Naturschutzgebiet“, fügte er eilig hinzu.

Wilhelmina dachte an Dekan Bradfords leere Versprechungen. „Finden Sie es richtig, Mickey so zu täuschen und ihm Hoffnungen zu machen?“

Mikes Lächeln schwand. „Hm, so habe ich es noch nie betrachtet. Ich wollte nicht lügen oder ihn betrügen. Ich wollte ihn nur ermutigen, es weiter zu versuchen. Früher oder später würde er schon selbst was fangen, wenn er nicht aufgab, dachte ich.“

„Es tut mir leid, Mike, ich hatte kein Recht, Sie zu verurteilen. Sie sind ein wunderbarer Großvater. Gott weiß, dass ich eine schreckliche Großmutter abgegeben hätte. Ich habe überhaupt keine Geduld im Umgang mit Kindern.“

„Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie gesehen hätten, wie Lori die ganze Woche auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer getanzt ist. Das Mädchen findet, dass Sie die Beste sind.“ Sie saßen nebeneinander und lauschten der Stille, während sie zusahen, wie Mickey geduldig immer wieder die Angel auswarf und sie dann langsam wieder einholte. Aber Wilhelmina nahm die friedliche Umgebung und die ruhige Stille des Nachmittags nicht wahr, weil in ihrem Kopf Bilder vom Faith College herumschwirrten und ihr Herz den Verlust betrauerte.

Mike holte tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. „Ahhh … ist das nicht ein herrlicher Duft, Willymina? Der Wald … das Moos und das trockene Laub … die Erde? Es ist das intensivste Parfüm, das je erfunden wurde.“

Wilhelmina schnupperte zögernd. „Ja, es riecht wirklich ganz gut. Das war mir bisher gar nicht aufgefallen.“

Der Wind nahm zu, als der Herbstnachmittag sich dem Ende entgegenneigte, und sie fröstelte in ihrem dünnen Pullover. „Hey, Sie frieren ja“, sagte Mike. „Hier, nehmen Sie meine Jacke.“

Bevor sie protestieren konnte, streifte er sich seine abgewetzte Fliegerjacke aus Leder ab und legte sie Wilhelmina um die Schultern.

„Jetzt werden Sie frieren.“

„Ich mache uns ein Feuer.“ Er lief auf der Lichtung herum und sammelte abgebrochene Äste, die er über dem Knie in kleine Stücke brach und dann neben dem Picknicktisch auf einem kahlen Stück Erde aufschichtete.

„Darf man denn in einem Naturschutzgebiet Feuer machen?“, wollte sie wissen.

„Weiß nicht.“

„Sollten Sie dann nicht lieber eine Erlaubnis einholen, bevor Sie ein Feuer machen?“

Mike biss sich auf die Unterlippe und sie wusste, dass er sich das Lachen verkniff. Er ging zu dem nächsten Baum und klopfte respektvoll an den Stamm. „Entschuldigen Sie, Sir. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir hier ein Feuerchen machen? Meiner Freundin ist ein bisschen kalt.“ Dann wandte er sich mit einem breiten Grinsen zu Wilhelmina um. „Er hat gesagt, es macht ihm nichts aus, solange wir vorsichtig sind.“

Mikes kleine Vorführung war so komisch, sein Lächeln so ansteckend und ihre eigene Frage so albern, dass Wilhelmina unwillkürlich laut auflachte. „Sie halten mich bestimmt für eine arrogante Langweilerin.“

„Nein, aber Sie halten mich bestimmt für einen schrecklichen Schurken. Warten Sie mal, wie viele Verbrechen habe ich heute schon begangen? Entführung, illegale Fischerei, Verführung eines Minderjährigen zu kriminellen Handlungen, Feuermachen, wo es nicht erlaubt ist …“

Wilhelmina lächelte. „Ach, hören Sie auf und machen Sie das Feuer. Sie haben mich nicht entführt. Ich bin freiwillig mitgekommen. Und der Fischerei kann man Sie nicht beschuldigen, solange Sie nicht tatsächlich etwas fangen. Außerdem habe ich gehört, wie Sie den groß gewachsenen Herrn da drüben um Erlaubnis gebeten haben, Ihr Feuer machen zu dürfen, also los.“

Mike kramte in seinen Taschen. „Ich kann nicht – ich habe keine Streichhölzer!“ Da mussten beide so lachen, dass Mickey seine Angel gehen ließ und die Böschung heraufgeklettert kam.

„Was ist denn so lustig, Grandpa?“

„Bleibst du bitte mal kurz bei Professor Brewster, während ich zum Wagen zurücklaufe und Streichhölzer hole?“

Buster und Heinz liefen voraus, als hätten sie genau verstanden, was Mike gesagt hatte. Mickey setzte sich neben Wilhelmina auf die Bank und starrte auf den Boden.

„Du kannst ruhig weiterangeln, wenn du willst“, sagte Wilhelmina zu ihm. „Du brauchst nicht hier oben bei mir zu bleiben.“

„Nein, ich bleibe. Weil Grandpa es will.“ Mickey wirkte mürrisch, als müsste er sich in ein schreckliches Schicksal fügen. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände.

„Das ist eine sehr verantwortungsbewusste Einstellung für einen jungen Mann.“

„Ich bin schließlich der Älteste. Alle erwarten, dass man vernünftig ist, wenn man der Älteste ist. Für Pete ist es okay, Dummheiten zu machen, weil er ein Baby ist, aber wenn ich was mache – auch wenn es aus Versehen passiert, wie die Sache mit der Fernbedienung, die ich kaputt gemacht habe –, sagt mein Dad: ‚Dafür musst du bezahlen. Wir erwarten, dass du dich deinem Alter entsprechend verhältst.‘ Pete und Lori dürfen viel mehr als ich. Ich muss immer auf Peter aufpassen und mich um Lori kümmern … und sie ist so eine Träumerin. Manchmal wünschte ich, ich wäre nicht der Älteste.“

Er nahm eine Handvoll Kies und fing an, Steine in Richtung Fluss zu werfen. Wilhelmina musste unwillkürlich an ihren älteren Bruder denken. Vater hatte Larry die Verantwortung übertragen, sie und Peter zur Schule und wieder zurück zu begleiten. Er hatte erwartet, dass Larry die Morgenzeitungen austrug, und zwar bei jedem Wetter. Larry sollte der Mann im Hause sein, wenn Vater auf seinen langen Predigtreisen war, und es schien, als wäre Larry von Geburt an ein kleiner Erwachsener gewesen. Wilhelmina konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals ein sorgenfreies, hüpfendes Kind gewesen war. Kein Wunder, dass er noch immer das Gefühl hatte, in jeder Situation die Führungsrolle übernehmen zu müssen. Sie betrachtete Mickeys ernste Miene, während er den letzten Stein in den Fluss warf.

„Weißt du, Mickey, ich war noch nie im Leben angeln. Ich habe nicht die geringste Ahnung davon. Aber wenn es dir nichts ausmacht, mir in diesen schrecklichen Schuhen die Böschung hinunterzuhelfen, würde ich es gerne lernen.“

„Klar! Kommen Sie.“ Er nahm ihre Hand und führte sie zum Fluss hinunter. „Vielleicht sollten Sie die Schuhe lieber ausziehen und die Böschung runterrutschen. Sie ist ganz trocken und sandig.“

Sie zögerte, streifte dann aber die Schuhe ab. Mickey hielt sie an beiden Händen und zog sie zum Fuß der Böschung hinunter. Wilhelmina hatte dabei ein ganz seltsames Gefühl, so als würden Hunderte Insekten über ihre Beine krabbeln, während ihre Zehen die Strumpfhose durchbohrten und die Laufmaschen ihre Beine hinaufkletterten. Aber immerhin hatte sie das Ufer erreicht, ohne sich etwas zu brechen.

„Und was mache ich jetzt?“

„Zuerst müssen Sie einen Köder an den Haken machen.“ Mickey drehte die Angel um, wobei der Haken sich aus Versehen in Wilhelminas Pullover verhedderte und ein großes Loch hineinriss. „Oh nein! Mann, das tut mir leid!“ Seine panischen Versuche, den Haken zu befreien, richteten nur noch mehr Schaden an. Seine Miene war ein Ausdruck purer Verzweiflung.

„Das macht nichts, Mickey. Ich konnte den Pullover sowieso nicht leiden. Hier, lass mich mal machen. Es gelang ihr, den Haken aus der Wolle zu befreien, aber der kaputte Pullover war nicht mehr zu retten. Er würde zusammen mit der Strumpfhose in den Müll wandern. „Okay, was jetzt?“

Er holte einen sich windenden Wurm voller Erde aus einer Blechdose und hielt ihn ihr hin. „Den müssen Sie an den Haken machen.“

„Äh … also, weil ich das noch nie gemacht habe, könntest du ihn vielleicht für mich am Haken befestigen?“

Mickey entfernte mit dem Fingernagel etwas von der Erde und spießte den todgeweihten Wurm dann herzlos auf.

„Ach, du liebe Güte. Das arme Tier!“

„Ist doch bloß ein dämlicher Wurm.“ Er reichte ihr die Angelrute. „Jetzt müssen Sie die Angel auswerfen, so.“ Er zeigte ihr die Bewegung, indem er eine imaginäre Angel auswarf. „Aber passen Sie auf, dass Sie den Griff nicht loslassen.“

Wilhelmina umklammerte den Griff, holte aus, wie Mickey es ihr gezeigt hatte, und warf den Köder genau in die Mitte des Flusses.

„Das war super! Sind Sie sicher, dass Sie noch nie geangelt haben?“

„Absolut sicher. Du bist offensichtlich ein guter Lehrer. Und jetzt?“

„Jetzt warten Sie. Wenn ein Fisch anfängt, an dem Wurm zu knabbern, spüren Sie ein Ziehen an der Angel und die Pose geht unter.“

„Was ist denn die Pose?“

„Sehen Sie das kleine rote Ding, das da schwimmt …? Hey! Es taucht ab! Da beißt einer an!“

„Was?“

„Schnell! Holen Sie die Angel ein! Schnell aufspulen!“

„Gütiger Himmel! Hier, Mickey, mach du das.“

„Kommt nicht infrage! Das ist Ihr Fisch, Professor. Drehen Sie einfach an der Kurbel.“

Kommt, folgt mir nach! Ich will euch zu Menschenfischern machen

„Der Wurm hat ihr auch leidgetan, Grandpa“, sagte Mickey.

Es stimmte. Wilhelmina hatte mehr Mitgefühl für den Fisch und für einen seelenlosen Wurm gehabt als für Mike. Zuerst hatte sie mit dem Mann gar nichts zu tun haben wollen. Und doch wollte Gott einem der Verse auf ihren Karteikarten zufolge nicht, dass jemand verloren ging. Bitte, Herr, tu es, betete sie. Mach mich zu einem Menschenfischer!

„Na, das war doch mal ein erstes Angelabenteuer!“, sagte Mike, als er den Fisch wieder in den Fluss warf. „Hey, was ist denn mit Ihrem Pullover passiert?“

Wilhelmina schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, den die Emotionen verursacht hatten. „Ich, äh … ich hatte einen kleinen Unfall mit dem Haken.“

„Ich verstehe.“ Er biss sich wieder auf die Unterlippe. „Jedenfalls habe ich Streichhölzer gefunden, also können wir anfangen, das Abendessen zu kochen, wenn wir wollen.“

„Abendessen! Ach, du liebe Zeit. Ich habe Larry gesagt, dass ich zum Bankett zurück sein würde.“

„Wenn wir gleich fahren, könnten wir in einer knappen Stunde bei Ihnen zu Hause sein.“

Wilhelmina sah auf ihre Armbanduhr. „Aber bis ich mich umgezogen habe, wäre es trotzdem zu spät. Ach, egal. Ich kann das Bankett dieses Jahr ruhig mal verpassen.“ Erstaunt stellte sie fest, wie erleichtert sie plötzlich war.

„Sie scheinen deshalb ja nicht allzu enttäuscht zu sein. Was gab es denn?“

„Hochrippe.“

„Na, das kann ich aber schlagen! Kommen Sie.“ Er nahm ihre Hand und half ihr die Böschung hinauf. Seine Hand war warm und von der Arbeit rau. Als sie oben ankamen, konnte sie nur einen Schuh finden.

„Ich frage mich, was mit dem anderen passiert ist.“

„Oh, oh. Buster! Komm her!“ Der Hund lief auf Mike zu, Wilhelminas nassen Schuh im Mund. „Gib mir den Schuh, du dummer Köter!“

Buster wollte spielen. Er wich ihnen aus und weigerte sich, den Schuh loszulassen, egal, wie laut Mike brüllte. Hilflos sah Wilhelmina zu, wie die Zähne des Hundes sich durch das Leder bohrten.

„Bitte, Buster. Ich brauche meinen Schuh“, flehte sie. Sofort ließ der Hund den Schuh vor ihr fallen. Mike nahm ihn und streifte ihn, angesabbert wie er war, über ihren Fuß.

„Mann, das tut mir wirklich leid, Willymina. Ich werde Ihnen ein neues Paar kaufen.“

„Seien Sie nicht albern. Es sind nur Schuhe.“

Es dauerte nicht lange, bis Mike ein loderndes Feuer entfacht hatte. Wilhelmina saß neben ihm, während er eine Wurst für sie briet, die er auf einen angespitzten Stock gespießt hatte. Als die Wurst genügend angesengt war, wickelte er eine Scheibe Brot darum und reichte ihr den Hotdog. „Bitte schön. Ist das nicht viel besser als Hochrippe?“

„Das weiß ich nicht … aber die Gesellschaft ist hier definitiv unterhaltsamer.“

Sie aßen die ganze Packung Wiener Würstchen auf. Wilhelmina konnte sich nicht daran erinnern, dass ein Hotdog ihr jemals so gut geschmeckt hätte. Mickey aß einen Großteil der Kartoffelchips und die Hunde die altbackenen Donuts. Dann saßen sie noch über eine Stunde am Feuer und redeten und lachten und hörten zu, wie Mike verrückte Lieder sang. Er überzeugte Wilhelmina und Mickey sogar, in den Refrain einzustimmen, bis sie sich alle vor Lachen bogen. Keiner von ihnen bemerkte den dunkler werdenden Himmel oder die bedrohlichen Gewitterwolken, bis die ersten Regentropfen fielen.

„Wir werden pitschnass!“, rief Mike. „Mickey, du und Willymina lauft zum Wagen zurück. Ich hole deine Angel und lösche das Feuer. Schnell!“

Mickey lief los und hatte Wilhelmina schon bald abgehängt. Sie stolperte allein durch die zunehmende Dunkelheit den Weg entlang und versuchte nicht daran zu denken, wie viele wilde Tiere wohl hinter den Bäumen lauerten. Der Regen wurde jetzt kräftiger. Zweimal erschreckten Buster und Heinz sie halb zu Tode, als sie durch den Wald zurückgelaufen kamen, um nach ihr zu suchen. Nach einigen Minuten waren ihr die Schlangen und anderen Kreaturen herzlich egal. Sie sehnte sich nur noch nach der Heizung des Wagens und Schutz vor dem Regen, der jetzt in Bindfäden niederfiel.

Als sie beim Parkplatz ankam, war Wilhelmina nass bis auf die Knochen. Sie stieg neben Mickey in die Fahrerkabine des Wagens, aber bevor sie die Tür schließen konnte, kletterten die beiden Hunde hinter ihr her.

„Oh nein! Ihr bösen Hunde! Verschwindet! Raus!“, schrie sie, aber sie weigerten sich, noch einmal in den Regen hinauszugehen. Der Gestank von nassem Hund war überwältigend. Während die Tiere ihre schmutzigen Pfoten auf ihren Schoß legten, fragte sie sich, ob der Rock es überleben würde oder ob auch er in den Müll wandern musste.

Als Mike schließlich aus dem Wald gerannt kam und die Fahrertür des Wagens öffnete, warf er einen Blick auf die vier nassen, erbärmlichen Geschöpfe, die in seinem Pick-up kauerten, und brach in schallendes Gelächter aus.

* * *

Als sie in Wilhelminas Auffahrt einbogen, sah es aus, als wäre jedes Zimmer in ihrem Haus erleuchtet. Das Auto ihres Bruders stand neben der Garage. Sie sah auf die Uhr. Das Bankett musste früher zu Ende gewesen sein als sonst. Sie wünschte Mike und Mickey eine gute Nacht und betrat dann durch die Hintertür das Haus in der Hoffnung, leise die Treppe hinaufschleichen und sich umziehen zu können, bevor ihr Bruder sie sah.

Aber Larry saß am Küchentisch, den Kopf in den Händen, noch immer in Anzug und Krawatte. Marjorie saß neben ihm und knetete ein zerknülltes Taschentuch. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Larry sah Wilhelmina an und sprang auf.

„Gütiger Himmel! Was ist denn mit dir geschehen? Hattest du einen Unfall?“

Sie blickte an ihrer Kleidung hinunter. Mikes abgewetzte Bomberjacke war vorne vom Regen ganz durchnässt und aus ihren strähnigen Haaren tropfte das Wasser. Ihr Rock war von schlammigen Pfotenabdrücken und Hundehaaren gezeichnet. Ein Faden hing von dem Loch in ihrem Pullover herunter und von ihrer Strumpfhose war nicht viel mehr übrig als ein paar Fetzen. Ihren rechten Schuh zierte der Abdruck von Busters Zähnen. Sie unterdrückte den Drang zu kichern, als sie die schockierte Miene ihres Bruders sah.

„Wo in aller Welt warst du denn? Wir haben uns furchtbare Sorgen um dich gemacht!“

„Tut mir leid. Ich dachte, ihr wärt am College. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ihr euch um mich sorgen könntet. Ist das Bankett schon vorbei?“

„Wir waren nicht beim Bankett.“

„Aber das ist doch albern. Ihr hättet auch ohne mich gehen können …“

„Wilhelmina. Das Pflegeheim hat angerufen, kurz nachdem du fort warst. Vater ist gestorben.“