Jürgen Heiducoff
Mein Mandat: Die Menschen achten!
Als Soldat in Tschetschenien und Afghanistan
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Inhaltsverzeichnis
Titel
In Memoriam Ernst August Paul Heiducoff (1884 – 1968) - Humanist, Kriegsgegner, Pazifist
Der Ernst des Lebens - Ankunft in der Hölle - Grosny 1995
Das Massaker von Gudermes
Die Evakuierung, das Interview und dessen Folgen
Die Lektion von Schali
Sernowodsk, Samaschki und andere tschetschenische Dörfer
Mut und Leichtsinnigkeit eines orthodoxen Priesters
Auf Tuchfühlung mit dem Untergrund
Der Tod beim Pionierlager
Gemeinsam in der Sauna
Immer wieder Ankunft auf dem Flugplatz Grosny
Melden macht frei und beruhigt die Seele
Besuch in Machatschkala
Straßenkontrollen, willkürliche Festnahmen, Filtrationslager
Empfang beim Imperator, Vermittlungsversuche
Die Einladung
Kaukasische Traditionen, Ehre und die Rolle der Familie
Zur Philosophie der tschetschenischen Tragödie
Abbruch meiner Mission, Heimkehr, Enttäuschung, Resignation, Krankheit
Mein erster Einsatz in Afghanistan – Dienst im Kontingent
Rückkehr an den Hindukusch – Erlebnisse und Gedanken
Arbeiten und Wohnen in Kabul, Angst und Freude
Kontraste im Alltag
Unglaubliche Tatsachen
Vertrauensbildung und Misstrauen
Im Hauptquartier ISAF
Unangenehme Divergenz
Die Defence Attaché Association Kabul
Gespräche hinter vorgehaltener Hand
Neue Nachbarn
Divergierendes Traditionsverständnis
Fliehende Soldaten und Polizisten in der Festung Kabul
Besuche von Abgeordneten des Deutschen Bundestages
Vertrauensverlust als Begründung der Ablösung vom Posten
Die Rolle der Friedensbewegung
Mein Kampf danach
Impressum neobooks
Das vorliegende Buch soll den Idealen meines verstorbenen Großvaters, Ernst August Paul Heiducoff gewidmet sein. Er hat mich in meiner Kindheit ganz im Sinne des Humanismus erzogen. Jedoch legte der alte Paul mir auch ans Herz, keine Scheu vor Menschen zu haben. Eine seiner Lehren war, dass der Frieden kein Geschenk ist, sondern immer wieder neu erkämpft werden muss. Als Teilnehmer beider Weltkriege hatte er gelernt, dass durch Kriege keine Konflikte gelöst werden können und dass Frieden nicht mit Waffengewalt erzwungen werden kann.
Darüber hinaus schrieb ich das Buch in tiefer Ehrfurcht vor all den Menschen, die ehrlich und ohne jedwedes finanzielles und Machtinteresse in die Kriegswirren Tschetscheniens und Afghanistans gerieten.
Dies waren vor allem die einfachen Menschen, die den Auseinandersetzungen zwischen Truppen und Rebellen nicht ausweichen konnten. Sie trugen die Hauptlast in diesen Kämpfen. Ihr Stolz und ihre Würde trugen dazu bei, all ihren Schmerz und ihr unendliches Leid zu ertragen. Terror von vielen Seiten, auch Luftterror, konnte sie nicht brechen. Sie vertrauten wegen des Desinteresses ihrer Regierungen letztlich auf ihre eigene Kraft. In ihrer Ausweglosigkeit blieb ihnen oft nichts anderes, als die Hilfe Allahs zu erhoffen oder selbst Verzweiflungstaten auszuführen. Und sie alle sind kriegsmüde, unendlich kriegsmüde.
Diese Menschen, in deren Heimat immer wieder der Krieg gekommen ist, sind die wahren Helden. Sie sind nicht kriegerisch.
Ihnen galt und gilt mein persönliches Mandat - „Die Menschen achten!“
Es werden jedoch auch Persönlichkeiten beschrieben, die auch in Führungsfunktionen vor allem Mensch geblieben sind, die dem eigenen Gewissen Vorrang vor inhaltsloser Karriere gaben, die Ehre nicht auf Ehrgeiz und Kampf um einen höher bezahlten Posten beschränkten.
Trotz der pazifistischen Grundüberzeugung meines Großvaters bin ich nach seinem Tod Berufssoldat geworden. Er hätte diesen Schritt nicht geduldet. Eigentlich war ich weder interessiert, noch geeignet für diesen Beruf. Ich war ein Individualist und mochte Teamwork überhaupt nicht. Mich interessierten weder die Kriegsspiele, die die Jungen meines Dorfes organisierten, noch die Vernichtungswirkung technischer Systeme.
Nun blicke ich auf mehr als 39 Jahre Dienst in zwei deutschen Armeen zurück. Ich verstand diese lange Zeit als Dienst für den Frieden. Dies war zu Zeiten der Konfrontation der Blöcke auch erklär- und vermittelbar. Jedoch seit dem Beginn des Umbaues der Bundeswehr zu einer Interventionsmacht im Rahmen der immer offensiver agierenden Bündnisse NATO und EU ist es schwieriger geworden, die Kampfeinsätze und Kriege als Friedensdienst zu verstehen.
Als Soldat im Einsatz habe ich begriffen, dass militärische Gewalt nicht geeignet ist, Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. Diese Erkenntnis wird nicht an Universitäten und Militärakademien gelehrt. Sie entsteht im Praktikum des Krieges. Sie reift überall dort, wo Menschenrechte im Interesse militärischer Erfolge missachtet werden. Sie entsteht im eigenen Erleben der Grenzbereiche zwischen Motivation, Hilflosigkeit, Angst und Resignation.
Ich erhielt meine Lektionen zum Thema Krieg und Leid in Tschetschenien und Afghanistan.
Von jedem dieser Einsätze, aus beiden Kriegen, die nicht so genannt werden durften, kam ich körperlich unversehrt, jedoch zutiefst enttäuscht und verändert nach Deutschland zurück.
Der erste Krieg war der Russlands in Tschetschenien. Deutschland war nicht aktiv beteiligt, aber entsandte mich 1995/96 im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Militärbeobachter an diese unsichtbare Front.
Der zweite Krieg war der der USA und NATO in Afghanistan. Dort war ich zwei Mal – einmal 2004/05 als Kontingentsoldat in Kabul und 2006 bis zu meiner vorzeitigen Ablösung 2008 als militärpolitischer Berater des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan.
Während meiner Einsätze fand ich keine Kriege zwischen regulären Streitkräften vor, sondern bewaffnete Konfrontationen zwischen militärischen Verbänden und Aufständischen. Da sich die meisten dieser Aufständischen aus der örtlichen Bevölkerung rekrutierten, war es schwer bis unmöglich, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Der gewaltsame Widerstand gegen die als Besatzer wahrgenommenen Militärs wurde kriminalisiert. Im Verhalten bei den täglichen unmittelbaren Begegnungen zwischen Militärs und moslemischer Bevölkerung widerspiegelte sich oft das gegenseitige Unverständnis von Tradition und Kultur.
Obwohl ich freiwillig in diese Einsätze ging, musste ich beide unfreiwillig früher beenden.
Ich wurde zurück gerufen, abgelöst. Beide Male. Ich hatte mich zu stark engagiert – für die Menschen in den Kriegsgebieten, für die Nichtkombattanten. Meine Kritik am Vorgehen der regulären Streitkräfte, an deren unangemessener militärischer Gewalt war nicht gewünscht.
Beide Male setzte ich den vorgegebenen Mandaten mein eigenes entgegen: „Die Menschen achten!“
Ich hätte nie in diese aus meiner Sicht sinnlosen Einsätze gehen dürfen. Auf diese Erfahrung hätte ich verzichten sollen. Doch jeder Mensch muss seine Erfahrungen selbst sammeln und dabei „Federn lassen“.
Ich kehrte nach Hause zurück: ungehört und unverstanden. Kaum jemand interessierte sich wirklich für das, was ich zu sagen gehabt hätte. Schriftliche Erfahrungsberichte an meine Vorgesetzten blieben ohne Kommentar. Es schien, als wolle man mich im Schweigen ersticken. Vielleicht hoffte man, ich könne verdrängen, verschweigen, vergessen, was in mir brannte. Doch da war mein Mandat: die Menschen achten!
Im Kaukasus und in Zentralasien geriet ich in fundamentale und existenzielle Auseinandersetzungen, die alle Ebenen und Bereiche des Lebens erfassten. Die militärischen Gefechte, die ich zu beurteilen hatte, waren nur ein Teil der gewaltigen Kämpfe. Die Gesetze der operativen Kunst und der Taktik schienen im Kaukasus und in Afghanistan nicht zu funktionieren. Vieles war anders, als in den Hörsälen der Militärakademien gelehrt wurde. Das Geschehene war so komplex und so anders, dass es nur möglich sein wird, Einzelaspekte anzudeuten.
So manche Nacht wache ich noch heute schweißgebadet auf. Ein Einschlafen ist dann nicht mehr möglich. Denn da läuft der „Film des anderen Lebens“ – des Lebens im Kaukasus oder am Hindukusch ab. Da ist die schreckliche Silhouette Grosnys, da erscheinen Murat, Selimchan, Achmet, Sawilbek, Muslim, Magomet, Ramsan, Ajdamar und die vielen anderen tschetschenischen Männer, aber auch Mutter Malkan und Lisa, die Frau Murats, unsere Köchin. Ich sehe die zerfetzten Leichen junger russischer Soldaten. Ich höre die barbarischen Flüche russischer Offiziere. Und ich werde das leidvolle Bild des kleinen paschtunischen Mädchens nicht los, das im Militärhospital in Kabul so sehr an den Schmerzen ihres von Splittern zersetzten Körpers litt. Da erscheinen mir aber auch die russischen Beamten der Ziviladministration und die Geheimdienstmänner. Alles scheint, als sei es gestern gewesen. Plötzlich sehe ich die schmerzverzerrten Gesichter der Tschetscheninnen nach dem Anschlag gegen das Verwaltungsgebäude in Grosny. Dann kommen mir die Erinnerungen an den verhassten Ami in Kabul, der die Waffe durchlud und gegen mich richtete. Ich denke an die Bettler von Kabul oder die schmutzverschmierten Kinder von Tarin Kowt. Da ist das Dröhnen und schrille Geräusch der Jagdbomber und Kampfhubschrauber, die ich mit voller Bewaffnung im Tiefflug über die Ruinenstädte und Dörfer Tschetscheniens und Afghanistans fliegen sah. Und das Schlimmste: Jagdbomber, Kampfhubschrauber und Kampfdrohnen fliegen noch immer und bringen den Menschen Angst, Tod und unendliches Leid – auf Befehl von gewissenlosen Menschen, die weder Konfliktkultur, noch Angemessenheit der Gewalt kennen.
Ich geriet in Widerspruch zu dem, was die Offiziellen in meinem Land verlautbarten und dem, was sich in mir sträubte. Ich fühlte mich unverstanden, Fehl am Platz, unerwünscht.
Dies war nicht mein Land, nicht meine Heimat – dies war ein fremdes Land! Die Mischung aus Arroganz und Ignoranz, mit der viele meiner Landsleute die Welt betrachteten, widerte mich an.
Immer klarer wurde mir, dass mein Großvater im Recht war, wenn er Krieg und Gewalt als unmenschlich verabscheute.
Meine Vorgesetzten wollten meine Kritik an den Einsätzen nicht zur Kenntnis nehmen und selbst viele meiner Freunde und Bekannten zeigten selten Interesse. War ich ein Außenseiter?
Meine Ehe ist vollkommen zerbrochen. Auch alte Freundschaften verödeten.
Hatte sich das Land geändert oder habe ich mich geändert? Egal: Ich und mein Land – das passte nicht mehr zusammen.
Was tun? Resignieren? Auswandern?
Die folgenden Schilderungen tragen autobiografische Züge. Hier sind bewusst Tatsachen mit Darstellungen vermischt, die sich so zugetragen haben könnten. Namen der vorkommenden Personen sind verändert.
Ich war bereits fast 25 Jahre Soldat, als ich den ersten Krieg erlebte – den Tschetschenien-krieg im Nordkaukasus. Und damit begann für mich der Ernst des Lebens. Bisher war mir alles wie im Spiele zu geflogen. Das Lernen, das Abitur, das Studium an einer Militärhochschule, den Dienst in den Einheiten und Stäben der Luftverteidigung im Norden Deutschlands und das Studium an einer Militärakademie bei Moskau meisterte ich wie im Spiel. Viele Jahre war ich Student – Lernender ohne Verantwortung für andere Menschen. Das war die Theorie. Doch bei Grosny und Kabul kam die Praxis. Und die unterschied sich wesentlich von der Theorie. Um es vorweg zu nehmen: niemand hat mich gezwungen, nach Tschetschenien oder Afghanistan zu gehen. Ich entschied mich zu diesem Schritt, weil ich eine echte Herausforderung suchte.
Des Soldaten Praxis ist der Krieg – was sonst. Darauf wird er vorbereitet – ausgebildet – gedrillt. Wozu braucht die Welt Soldaten? Für den Krieg! Haben wir keine Kriege, wenn es in einigen Ländern keine Soldaten gibt? Doch!
Im Dezember 1994 begann der Tschetschenienfeldzug der russischen Streitkräfte. Kurze Zeit später beschloss die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), eine Unterstützungsgruppe nach Grosny zu entsenden. Eine Anfrage nach interessierten Offizieren kam in meiner Dienststelle an. Ich äußerte meine Bereitschaft.
Eine sechsmonatige allgemeine Ausbildung zum Militärbeobachter sollte bald beginnen. Da die Bundeswehr noch kein Personal mit Erfahrungen in Krisen- und Kriegseinsätzen hatte, wurden wir von norwegischen und österreichischen Offizieren ausgebildet.
Die Lehrgänge zur Vorbereitung auf den Einsatz im russischen Nordkaukasus führten mich auch nach Bad Ems. Diese Stadt an der Lahn zeigt viele Spuren einer gemeinsamen deutsch – russischen Geschichte. Ich fühlte mich in dieser Stadt sehr wohl.
Ich dachte darüber nach, was mich in Tschetschenien erwarten würde. Russland war mir ja nicht fremd, aber der Nordkaukasus hatte schon seine Besonderheiten.
In der Phase der Vorbereitung auf die Entsendung ins Kriegsgebiet Tschetschenien und später nach Afghanistan erwartete ich eine konkrete Einweisung durch meine Vorgesetzten in meine Aufgaben, Rechte und Pflichten. Jedoch blieb diese Erwartung unerfüllt. Es begann sogar ein Streit, wem ich während meines Einsatzes unterstellt sein würde.
Die Vorbereitung umfasste allgemeine Unterrichtungen über das Einsatzgebiet und Verhaltensregeln.
Es gab politische Mandate für den jeweiligen Einsatz: die UN Sicherheitsratsbeschlüsse, ein Mandat der OSZE für die Unterstützungsgruppe in Tschetschenien, in deren Bestand ich arbeiten sollte. Für meine Einsätze in Afghanistan gab es Mandate des Bundestages. Aber all das war zu politisch und zu allgemein, um mir eine Leitlinie für den Alltag in Tschetschenien und in Afghanistan zu geben.
So erteilte ich mir selbst mein Mandat: Die Menschen achten!
Dieses Mandat soll aber auch eine Botschaft sein, die weiter getragen werden soll – an alle, die aus unserer Heimat in ein Krisen- und Kriegsgebiet gehen.
Alles, was wir Westler – unsere Entwicklungshelfer, unsere Diplomaten, unsere Soldaten oder Polizisten in anderen Kulturen tun, erfolgt im Namen unserer Tradition, unserer Werte und der Demokratie – ob dies gewollt ist oder nicht. Soll die Überlegenheit unserer Kultur überzeugen, müssen wir überlegen arbeiten und handeln.
Die Lehren meines Großvaters, wie man sich den Menschen gegenüber verhalten sollte, schienen lange Jahre für mich nicht relevant gewesen zu sein.
Dies änderte sich schlagartig, als ich mit Menschen zu tun bekam, die meinten, ein Mandat zum Töten anderer Menschen zu haben, die gottgläubig waren und sich selbst berufen fühlten, die Rolle Gottes bei der Bestimmung des Lebensendes anderer Menschen übernehmen zu können.
Ich hatte mein Gepäck für sechs Monate schon längst gepackt. Die beiden Tropenkisten standen zu Hause marschbereit im Korridor. Doch meine Entsendung nach Tschetschenien wurde mehrmals verschoben. Die letzten Tage vor dem Beginn meines Einsatzes in Tschetschenien waren vom Abschied geprägt. Dabei ging es weniger um den Abschied von Angehörigen und Freunden, sondern um den Abschied von meinen Wurzeln. Ich hatte das Bedürfnis, an die Stätten meiner Kindheit zurück zu kehren – allein. Ich wollte Abschied nehmen, indem ich die alte Dorfgasse entlang gehe, am Bach einhalte, das Haus und den Garten meines Großvaters sehe. Auch wenn sich vieles verändert hatte, Großvater schon lange gestorben ist und auch viele andere Leute, Nachbarn, ehemalige Klassenkameraden das Dorf verlassen haben, da gab es noch genügend Raum für Erinnerungen. Das Bergholz, Teile des Kammerforstes mit den angrenzenden ausgedehnten Wiesen sind einem Braunkohlentagebau gewichen. Selbst der Verlauf des alten Schnauderbaches ist verlegt worden. Diese Erinnerungen taten mir gut und ich konnte in der Ferne wenig später auf die frischen Bilder zurückgreifen. Dies verlieh mir Kraft.
Im November 1995 war es endlich soweit: der Marschbefehl traf ein. Ich wurde nach Düsseldorf gebracht und stieg in den Intercity Night nach Wien. Am nächsten Morgen traf ich in Wien ein. Die Anblicke der Hinterhöfe Wiens von den Gleisen aus enttäuschten mich. Ich kannte die Stadt nur aus den Hochglanzprospekten der Reiseagenturen. Zwei Tage Einweisung bei der OSZE standen auf der Tagesordnung. Ich wurde gut von Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE betreut. Die Einweisung beschränkte sich auf administrative Belange. Die erwartete inhaltliche Orientierung blieb auch hier aus.
Aber mein Mandat stand ohnehin fest.
Dann flog ich von Wien nach Moskau. Auch dort bin ich von Vertretern der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation wahrgenommen worden. Ich fand in der Botschaft Unterkunft. In der freien Zeit ging ich in die Stadt. Moskau war mir vertraut, obwohl ich viele Jahre nicht dort gewesen bin und die Stadt sich verändert hat. Schließlich nahm ich den Flug Moskau – Grosny. Der Abflug wurde mehrmals verschoben. Dies würde die Lage im Landegebiet erfordern. Ich beobachtete die wartenden Fluggäste. Da waren einige Offiziere der Russischen Armee und der Inneren Truppen. Die Mehrzahl waren jedoch tschetschenische Männer. An dem vielen Gepäck sah man, dass sie zum Zwecke der Versorgung in Moskau weilten. Diese Männer unterschieden sich äußerlich wesentlich von den russischen. Sie waren überwiegend schwarz gekleidet und trugen Hüte. Es fiel auf, dass ihre Schuhe sehr sauber waren. Das war nicht einfach, wo doch die Strassen im November schlammig sind. Ihre Haare und Bärte waren sehr gepflegt.
Es ist ein nasskalter Novembertag, als ich in Grosny ankam.
Der Landeanflug der zivilen Passagiermaschine war atemberaubend. Erst fast über dem Flugplatzgelände leitete der Pilot den Sinkflug ein. Es glich eher einem spiralförmigen Sturzflug. So soll verhindert werden, dass das Flugzeug längere Zeit in niedrigen Höhen über die Steppe fliegt und möglicherweise mit Manpads, den tragbaren Einmann-Fliegerabwehrraketen angegriffen werden könnte.
Beim Rollen waren eine Reihe von Flugzeugwracks zu sehen. Hallen und Gebäude lagen in Trümmern. Auch die Rollbahn war sichtlich beschädigt. Über eine Behelfsleiter verließen wir Passagiere das Flugzeug. Gleichzeitig wurde das Gepäck aus den Ladekammern einfach herunter auf das Flugfeld geworfen. Meine Kisten waren zerbeult, noch bevor ich am Ziel angekommen war. Das Flugzeug rollte zum Start. Die Aufenthaltszeit von Passagierflugzeugen auf dem Flugplatz Grosny sollte so kurz wie möglich sein. Mühselig schleppte ich das Gepäck hinüber zum Abfertigungsgebäude. Da fand eine gründliche Personenkontrolle statt. Alles geschah mit großer Eile, denn die Abenddämmerung stand bevor. Endlich empfängt mich ein Mitglied unserer OSZE – Unterstützungsgruppe. Er stellte sich kurz als Bill vor und half mir, das Gepäck zu tragen.Um das Flugplatzgelände verlassen zu können, mussten wir zunächst etwa 500 m bis zum Checkpoint oder wie die Russen sagen – Blockpost – laufen. Das OSZE – Fahrzeug durfte nicht bis an das Flugplatzgebäude heranfahren. Mit dem Gepäck erweist sich der Fußmarsch nicht gerade als Vergnügen. Als wir endlich am Fahrzeug angelangt waren und die Kisten verladen hatten, wollte Bill schnell losfahren. Da brach unmittelbar neben unserem Fahrzeug ein Schuss. Ich zuckte zusammen, wurde aber durch Bill beruhigt. Es sei hier normal, wenn ein Schuss falle. Wichtig ist, zu wissen, dass die Waffen nicht gegen uns gerichtet seien. Wir konnten noch nicht fahren, denn es näherte sich von der Stadt her ein längerer Konvoi. Da empfiehlt es sich, abzuwarten. Eines der gepanzerten Fahrzeuge hat eine DDR-Flagge gehisst. Sie wird durch die aufgesessenen Mot.-Schützen geschwenkt, als sei es eine ihrer Trophäen.
Endlich konnten wir fahren. Bereits nach wenigen Metern sind wir am nächsten Checkpoint.
Obwohl unser Fahrzeug weithin mit der Aufschrift „OSZE“ gekennzeichnet ist, werden wir gründlich kontrolliert. Es diene ja nur unserer Sicherheit.
Dann ging es etwas schneller voran. Nach wenigen Kilometern sind die ersten Gebäude der Hauptstadt Tschetscheniens zu sehen – Plattenbauten. Sie sind kaum zerstört. Aber das verdanken sie ihrer Nähe zum Flugplatz. Die Russen haben den Großraum des Flugplatzes nicht systematisch bombardiert.
Unmittelbar an der Peripherie der Stadt – ein weiterer Checkpoint. Wieder wurden wir ganz genau in Augenschein genommen.
Nachdem wir das Plattenbaugebiet und auch das Hauptgebäude des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) passiert hatten, näherten wir uns einer Kreuzung von Hauptstrassen. Hier herrschte am Abend reger Verkehr. Schneller als 40 km/h zu fahren war wegen der schlechten Straßen nicht möglich. Hinter der Kreuzung gelangten wir in ein Stadtgebiet, das älter ist. Die Spuren des Krieges sind hier bereits wesentlich deutlicher. Nach einem weiteren Kilometer begann die Ruinenstadt. Das war sie nun, die Hauptstadt des Grauens. Sie machte ihrem Namen alle Ehre, denn Grosny bedeutet übersetzt „schrecklich“.
Wir näherten uns dem Zentrum der Stadt. Viel hatte ich gelesen und gehört von den Zerstörungen und vom Elend der Leute – der unmittelbare erste Eindruck war schlimmer. Ich vermochte nichts zu sagen. Es war ein Bild des Grauens. Wie viele unschuldige Menschen mochten hier eines qualvollen Todes gestorben sein? Wie viele haben dieses Inferno überlebt und vegetieren nun in den Kellern – ohne Heizung, Wasser und Nahrung?
Endlich sind wir angekommen. Das Büro der OSZE – Unterstützungsgruppe befand sich in einem einstöckigen Gebäude. Um zum Eingang zu gelangen, mussten wir klingeln. Ein weiteres Mitglied der Gruppe öffnete das hohe dunkelblaue Metalltor. Das Tor wies eine Reihe von Durchschüssen auf. Wir fuhren in den kleine Innenhof. Ich sah ein weiteres flaches Gebäude, das zum Grundstück gehörte. Dies waren Unterkunfts- und Bürotrakt zugleich. Im kleinen, aber europäisch anmutenden Büro der Mission konnte man die grauenvolle Welt, deretwegen wir hier sind, vergessen. Hier befanden sich Möbel, Inventar, Computer und Satellitenfernsehempfänger – alles aus Wien herantransportiert.
Der Mission gehörten zwischen vier und neun Entsandte der OSZE – Diplomaten und Offiziere - an. Der Chef war ein Botschafter. Die örtlichen Mitarbeiter – Schreibkräfte, Mechaniker, Kraftfahrer, eine Köchin und Wirtschafter waren Tschetschenen, aber zum Teil auch Russen.
Die ersten Tage der Mission waren geprägt vom Kennenlernen der örtlichen Besonderheiten, der Kontaktpartner und der Arbeitsmethoden im Office.
Ich begleitete so oft als möglich die erfahrenen Missionsmitglieder bei ihren Fahrten in die Stadt oder deren Umgebung. Zu Fuß besuchten wir die nahe gelegenen Basare. Wir passierten große teilweise zerbombte fünfstöckige Ziegelhäuser. Die Keller waren in der Regel nicht zerstört. Von der Strasse aus konnten wir durch die Kellerfenster sehen, dass da unten Leben war. Da wohnten Familien. Die ungenutzten Keller dienten als Mülldeponien. Ein Eldorado der Ratten und anderen Ungeziefers. Es gab keine regulär funktionierende Müllabfuhr. Auch zwischen den Ruinen häuften sich die Müllberge. Spontan wurde der Müll mit LKWs aus der Stadt gefahren. Er türmte sich kilometerweit beiderseits der großen Zufahrtsstraßen wie ein Wall wogegen auch immer.
An den Nachmittagen ging ich oft hinüber zum Prospekt des Sieges oder besser zu den Resten der einstigen Alleenpromenade. Da war ein verrosteter Kiosk für Zigaretten, Zeitungen, Zeitschriften und allerlei Papierkram. Die Verkäuferin war Armenierin. Sie versuchte durch den Betrieb des Kioskes ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eigentlich war sie bereits im Rentenalter. Aber alle Dokumente, an Hand derer sie ihre Rentenanrechte nachweisen sollte, sind verbrannt. Alles hatte sie verloren. Grosny war ihre Heimat. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, wenn die Tschetschenen sie vertreiben würden. Sie lebte nebenan im Keller eines zerbombten Hauses. Ich brachte ihr regelmäßig etwas Brot und Käse oder Wurst vom Basar. Sie erinnerte mich irgendwie an meine Mutter.
Staatlichen Einzelhandel gab es nicht mehr. Die Gebäudesubstanz der ehemaligen Kaufhäuser und Geschäfte war zerstört.
Die Basare waren das Herz der Stadt. Hier konnte man alles erwerben: Obst, Gemüse, Fleisch, orientalische Gewürze aber auch Baustoffe, Werkzeuge, Ersatzteile für Autos. Offen wurden auch Kleinwaffen aller Art einschließlich Munition angeboten. Die Preise sind verhandelt worden. Diebe oder Spekulanten hatten keine Chance, denn es herrschte ein gut organisiertes Sicherheitssystem. Dieses wurde durch private Unternehmen betrieben. Überhaupt boomte das Sicherheitsgeschäft. Manch einer konnte sich Bodygards leisten.
Ich bewunderte die Energie und den Fleiß der Händler. In der Morgendämmerung kamen sie mit Pferdekarren zum Basar und bauten ihre primitiven Stände auf. Dann mussten sie den ganzen Tag lang um einen guten Absatz kämpfen. Im Winter hatten sie der Kälte, im Sommer der Hitze zu widerstehen. Und immer wieder kam es zu Anschlägen im Bereich des Basars. Mit Bombenanschlägen wollten die Bojewiki – die Kämpfer – zeigen, dass die russlandtreue tschetschenische Regierung vor der eigenen Haustür nicht Herr der Lage war.
Mitte Dezember 1995 wurden Bill und ich eingeladen zur Familie von Zaurbeck in ein Dorf unweit der zweitgrößten tschetschenischen Stadt Gudermes. Zunächst zögerten wir, diese Einladung anzunehmen, weil in der Stadt Kämpfe stattfinden sollen. Wir nahmen an und fuhren mit einem Überlandbus in Begleitung von Zaurbeck. In der Kälte fiel es nicht schwer, unser Äußeres dem der Einheimischen anzupassen. Wir trugen dunkle Winterjacken und zogen die Pelzmützen besonders weit ins Gesicht. Im Haus der Eltern Zaurbecks wurden wir mit einem zünftigen Abendessen begrüßt. Dem schlossen sich lange Teegespräche an. Anschließend konnte ich nicht einschlafen. Aus der Stadt Gudermes waren die Detonationen der Einschläge der Artilleriegeschosse zu hören. Am nächsten Tag, so ist schon beim Tee beschlossen worden, sollten wir gemeinsam mit Zaurbecks Eltern in die Stadt Gudermes fahren. Es gab da eine Zufahrt, die nicht kontrolliert wurde. Die Eltern hatten aus ihrer Stadtwohnung bei ihrem letzten Aufenthalt nicht alle Dokumente mitführen können. Sicher ist sicher – man sollte in diesen Tagen alle Papiere immer bei sich führen. Wir sollten so Einblick in die Lage erhalten.
Auf der Hauptstrasse kamen uns lange Konvois Lastkraftwagen und Traktoren entgegen - Flüchtlinge aus dem umkämpften Gudermes und den umliegenden Dörfern. Wir nahmen Kontakt zu einigen der Flüchtlinge auf. Sie sprachen von unglaublichen Ereignissen, die sich in ihrer Stadt in den letzten Stunden zugetragen haben sollten. Die Bombardierungen und Artillerieangriffe hätten die meisten Wohnungen zerstört.
Wir verließen die Hauptstrasse und gelangten unbemerkt durch ein verlassenes Industriegebiet in die Stadt. Es bot sich uns ein Bild des Schreckens, das ich nie vergessen werde. Das war also die Hölle – ein von Menschenhand geschaffenes Inferno. Strassen und Gebäude waren stark beschädigt. Hier und da brannte es. Fahrzeuge auf den Strassen waren ausgebrannt. Die Gasleitungen entlang der Strassen brannten. An einigen Ecken lagen Leichen. Abgerissene Gliedmaßen lagen herum. Einwohner waren kaum zu treffen. Überall aus den Kellern der Häuser waren Schreie zu hören. Es waren die Schreie der Verletzten, die nicht versorgt werden konnten. Sanitätsfahrzeuge konnten auf Grund der Trümmer auf den Strassen nicht durch kommen. Mir dröhnte der Kopf. In mir war alles aufgewühlt. Mein Hals war wie abgeschnürt. Keiner von uns vermochte ein Wort zu sagen. Die Bevölkerung ist aufgerufen worden, zu Hause zu bleiben – anderenfalls würde für ihre Sicherheit nicht garantiert werden können. Nach tagelangem Beschuss der Stadt mit Artillerie sowie Bombenangriffen waren russische Infanteristen von allen Seiten eingerückt. Die russischen Infanteristen, die überall zu sehen waren, hatten noch mit sich selbst zu tun. Sie nahmen vereinzelte zivile Fahrzeuge nicht wahr. Wir gelangten ohne Kontrolle in die Nähe der Wohnung der Eltern von Zaurbeck. Die letzten 400 Meter mussten wir zu Fuß gehen, denn die Trümmer versperrten den Weg. Wie durch ein Wunder war das Gebäude, in dem sich die Wohnung von Zaurbecks Eltern befand, nicht so stark zerstört. Nachdem die Papiere und Dokumente eingepackt waren, sahen wir zu, so schnell als möglich die Stadt zu verlassen. Alles geschah noch im Durcheinander der Besetzung der Stadt. Die Infanteristen wagten sich nicht, die Häuser zu stürmen. Niemandem war klar, ob die Bojewiki, die tschetschenischen Kämpfer noch in der Stadt waren oder diese verlassen hatten. Ich sah, wie vereinzelt russische Soldaten in Kellerfenster hinein schossen. Schreie ließen darauf schließen, dass sich die Leute in den Kellern verschanzt hatten. Ihre Wohnungen waren durch die Bombardierungen der letzten Tage stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie hatten Angst, in die oberen Etagen zu gehen. Das hätte ihnen aber mehr Schutz vor dem Beschuss mit Schützenwaffen gegeben. Diese Lektionen haben die Bewohner Grosnys bereits hinter sich. Während der Bombardierungen soll man sich in den Kellern aufhalten und dann, wenn die Infanterie einrückt – in den oberen Etagen. Die Einschüsse mit Schützenwaffen von der Strasse aus gehen so in die Decke.
Auf dem gleichen Weg – durch das verfallene Industriegebiet – konnten wir die Stadt verlassen. Wie wir später erfuhren ist noch am gleichen Tag Gudermes völlig isoliert worden. Die Inneren Truppen hätten einen dichten Ring um die Stadt errichtet, so dass kein Mensch mehr rein oder raus konnte.
Zwei Tage später beschlossen wir, mit einem Team er OSZE – Gruppe offiziell – auf Antrag - gemeinsam mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) nach Gudermes zu fahren. Es ging darum, sich ein Bild von der humanitären Lage zu machen, um Hilfe einleiten zu können. Ich war dabei. Auf der Strasse nach Osten kamen uns keine Flüchtlinge mehr entgegen. Die Straßen waren menschenleer. Wir gelangten an die ersten Straßensperren noch weit vor Gudermes. Über der Stadt waren Rauchsäulen zu sehen.
Die Posten hatten strengen Befehl, niemanden passieren zu lassen – in beiden Richtungen. Ab mittags des auf die Einnahme der Stadt folgenden Tages wurde eine großräumige Abriegelung befohlen. In der Stadt waren Hunderte von Untergrundkämpfern, die sich heftige Gefechte mit den russischen Truppen lieferten. Der Großteil der Bevölkerung befand sich noch in der abgeriegelten Stadt. Der Gefechtslärm war weithin hörbar. Wir teilten uns. Mit einem Fahrzeug blieben die Vertreter des Roten Kreuzes mit einem unserer Leute an der Zufahrt stehen und mit einem anderen Fahrzeug fuhren ein Teil unserer Gruppe zum Hauptquartier der Russischen Truppen nach Chankala.
Da es dem Trupp des IKRK nicht gelang, Zufahrt zur Stadt zu bekommen, wollten wir das Problem mit dem Befehlshaber der Russischen Truppen besprechen. Im Hauptquartier Chankala bei Grosny angekommen, baten wir um einen Termin beim Kommandierenden General. Der sei unabkömmlich, da er im Gefechtsstand die Kämpfe koordinieren würde, lautete die Antwort. Wir baten, warten zu dürfen, bis der General wenige Minuten Zeit finden würde. Gegen 22.00 Uhr erschien er im Besprechungsraum. Er war ein kleiner Mann, der eine gewisse Ruhe und Autorität ausstrahlte. Sein Äußeres war sehr gepflegt. Er sprach ruhig und überlegt. Wir teilten ihm mit, dass das IKRK keine Zufahrt nach Gudermes erhalten hätte, um sich ein Bild von der humanitären Lage machen zu können. Der General entgegnete, dass sich „Banditenverbände“ in der Stadt festgesetzt hätten und russische Patrouillen bekämpfen würden. Die „Banditen“ hätten den Forderungen, die Stadt zu verlassen, nicht Folge geleistet. Die Handlungen seiner Truppen seien unausweichlich nötig gewesen, um die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. Im Übrigen liege damit die Gesamtverantwortung für die entstandene Lage auf Seiten der „Banditen“.
Wir unterbreiteten dem General den Vorschlag, einen Sicherheitskorridor zu bilden, auf dem die Zivilbevölkerung die Stadt verlassen könne. Dies lehnte er strikt ab mit dem Hinweis, dass auf diese Weise auch viele „Banditen“ entkommen und sich ihrer Verantwortung entziehen würden. Unsere Verweise auf die Genfer Konventionen, die die Streitkräfte zum Schutz der Nichtkombattanten verpflichten, wies der General ebenfalls zurück. Die Genfer Konventionen würden sich auf Kriegshandlungen zwischen Staaten beziehen. Hier im Nordkaukasus sei aber kein Krieg und damit würde auch das Kriegsvölkerrecht keine Anwendung finden.
Weitere Versuche unsererseits, ihn auf die Schiene zu bringen, die Zivilbevölkerung trotzdem von der Humanität der Operation der Russischen Truppen zu überzeugen, waren nicht zielführend. Er rief seine Sekretärin. Die junge, sehr schöne Russin im Range eines Leutnant bekleidete uns zu unserem Fahrzeug.
So mussten wir unverrichteter Dinge zurück zu unserem Office fahren. Gut dass wir im gepanzerten Landrover unterwegs waren, denn nächtliche Fahrten durch die tschetschenische Hauptstadt haben ihre besonderen „Reize“. Da werden spontane Feuergefechte ausgetragen. Die nächtliche Ausgangssperre wird nicht eingehalten, weil die Polizei sich selbst fürchtet, auf die Strassen zu gehen.
So fuhren wir zügig zurück: Der schwere gepanzerte Landrover donnerte durch die Schlaglöcher. Im Nachtquartier angekommen konnte ich lange keine Ruhe finden. Ich wurde die Bilder von Gudermes nicht los. Mich lähmte unsere Machtlosigkeit.
Am nächsten Morgen einigten wir uns, einen Bericht über unsere Bemühungen an die OSZE zu senden.
An den Folgetagen meldeten sich neue Augenzeugen, denen eine Flucht aus Gudermes gelungen war. Sie berichteten von unglaublichen Massakern in der Stadt. Die Blockade wurde nicht gelockert. Auch Frauen, Kindern und Alten wurde es noch immer nicht ermöglicht, die Kampfzone zu verlassen.
Die größte Enttäuschung für uns war jedoch die Untätigkeit der OSZE. Da war keine Reaktion auf unseren Bericht und da waren auch keine diplomatischen Aktivitäten in Richtung Russland zu bemerken. Und Weihnachten nahte.
Ich entschloss mich, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium der Verteidigung einen eigenen nationalen Bericht zu senden. Darin äußerte ich die Bitte um Weisung und Erteilung weiterer Handlungsanweisungen. Jedoch – nichts geschah. Telefonische Nachfragen blieben ohne Ergebnis. Keiner der Referenten und Beamten wollte sich festlegen.
Das offizielle Moskau bestritt, dass es in Tschetschenien Krieg führen würde. Dort sei eine Operation gegen kriminelle Subjekte im Gange. Die Verantwortung für eventuelle schwierige Lagen tragen allein die „Banditen“. Den Kräften der Russischen Föderation würde es gelingen, die Ordnung wieder her zu stellen.
Deutlich war an den Folgetagen zunächst eine Abkühlung des Verhaltens der russischen Seite zu unserer Gruppe zu spüren. Und dann war der Aufbau des psychischen Druckes gegen uns nicht zu übersehen. Auf Grund der Feiertage verließen der Chef der Mission und etwa die Hälfte der anderen Entsandten Grosny in Richtung Heimat. Fünf Offiziere blieben. Tags wurde mit dem örtlichen Personal Routinedienst gemacht. In den Nächten waren nur wir Ausländer in der Mission. Für unsere Sicherheit stand eine Infanteriegruppe der Inneren Truppen zu unserer Verfügung. Ein gepanzertes Kampffahrzeug BMP 60 stand etwa 40 Meter vor der Einfahrt zu dem durch uns angemieteten Hof – direkt an der Strasse. Unmittelbar vor dem Tor war ein Posten dieser Infanteriegruppe platziert.
In den Vorweihnachtstagen waren fast jede Nacht Schießereien vor unserem Tor zu hören. Die Aussage der Russen am nächsten Tag war immer, dass sie von Banditen angegriffen worden seien. An einem Tag stellten wir in einem der Strasse zugewandten Büroraum Einschüsse fest - durch das Doppelfenster in die Decke. Tags darauf bei der Auswertung mit dem russischen Gruppenführer konnten wir ihm nachweisen, dass die Flugbahn der Projektile so verlief, dass die Abschussstelle etwa vier Meter vor dem Fenster sein musste. Sollte es also dem „Banditen“ gelungen sein, bis unmittelbar an unser Gebäude heran zu kommen oder sind die Schüsse von den Russen selbst abgegeben worden?
Wenn Gäste uns sprechen wollten, war vereinbart, dass der russische Posten klingelt, damit öüö