Normalerweise war um diese Zeit unten alles still, manchmal war noch Wasserrauschen zu hören, die Klospülung oder der Fernseher. Aber niemals so ein Hin- und-Her-Gerenne. Schranktüren wurden aufgerissen und wieder zugeknallt.
Enrico Rizzi knipste das Licht, das er gerade ausgeschaltet hatte, wieder an, schlug die Decke zurück, zog seine Jogginghose über und ging barfuß vor die Tür, über die Außentreppe einen Stock tiefer in die erste Etage. In der Küche brannte Licht.
»Mamma?«
Ein frischer Kürbis lag im Eingang. Es roch nach Knoblauch und gebratener Pancetta. Und nach Regen. Seit Tagen schon goss es in Strömen. Er stieg über die Schuhe seines Vaters. Auf dem Küchentisch standen schon die Butterbrotdose und die Thermoskanne für morgen bereit und auf dem Stuhl die Aktentasche, außerdem hatte Marta die große rote Mappe hervorgeholt – das sichere Zeichen, dass Monatsanfang war und sie die Strom- und Telefonrechnungen zusammensuchte. Hundertmal hatte er ihr gesagt, dass Daueraufträge und Einzugsermächtigungen das Leben leichter machten, aber da war nichts zu machen. Marta stand lieber auf der Post Schlange.
»Hallo?«, rief er.
Seine Mutter war im Bad, hatte die Medikamente aus dem Schränkchen geräumt und las, mit der Brille auf der Nase, was auf den Verpackungen stand.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Rizzi. »Jemand krank?«
Sie hielt ihm eine Packung mit Schmerztabletten hin. »Sind die noch gut?«, fragte sie.
Rizzi prüfte das Datum auf der Schachtel. »Vorletztes Jahr abgelaufen«, sagte er und warf die Packung in den Müll. »Was ist passiert?«
Wie sich herausstellte, hatte Vito das Pflaumenbäumchen noch spätabends umsetzen wollen, das sie im Frühjahr neben dem Olivenbaum gepflanzt hatten. Sie hatten jedoch unterschätzt, wie stark die Olive, nachdem sie gestutzt worden war, ausschlagen würde. Der Baum war über den Sommer dermaßen in die Höhe geschossen und in die Breite gegangen, dass die Pflaume mittelfristig einfach nicht genügend Licht bekommen würde und in der Folge zu verkümmern drohte.
»Jedenfalls hat dein Vater, als der Regen vorbei war und die Erde schön locker, ein Loch gegraben«, berichtete Marta. »Ich stehe daneben, halte die Lampe und sage noch: Pass auf. Aber er macht einen falschen Schritt nach hinten, verliert das Gleichgewicht, ich versuche, ihn festzuhalten, und bumms, liegen wir auf dem Boden.«
»Kein Drama«, kam Vitos schwache Stimme aus dem Schlafzimmer. »Wahrscheinlich ist es bloß ein Hexenschuss.«
Marta bückte sich und holte die Tabletten wieder aus dem Mülleimer. »Die helfen ihm über die Nacht«, meinte sie pragmatisch, »und dann sehen wir weiter.«
Rizzi nahm seiner Mutter die Packung aus der Hand und steckte sie ein. »Wir rufen jetzt den Arzt.«
»Red keinen Unsinn«, rief Vito. »Wegen einer solchen Lappalie klingeln wir Bruno ganz bestimmt nicht aus dem Bett.«
»Ob es eine Lappalie ist, wollen wir erst mal sehen«, antwortete Rizzi.
»Kein Wort mehr«, kam es aus dem Schlafzimmer.
Marta schaute ihren Sohn mit diesem Siehst-du?-Blick an und erklärte: »Dann werde ich jetzt mal eine Wärmflasche machen.«
»Wo hast du die Schmerzen?«, fragte Rizzi, als er zu Vito ins Schlafzimmer kam. »Ist es die Hüfte?«
»Mach mich nicht kränker, als ich bin«, knurrte Vito. »Mit meiner Hüfte ist alles in Ordnung.«
»Also das Becken?«
»Ich sag doch: Hexenschuss. Mit etwas Wärme kriegen wir das schon wieder hin.«
»Nicht, wenn was gebrochen ist.«
»Es ist aber nichts gebrochen.« Vito versuchte, sich aufzusetzen, und verzog vor Schmerzen das Gesicht. »Junge«, ächzte er, »wer konnte denn ahnen, dass das Biest über den Sommer solche Wurzeln schlägt?«
Rizzi trat näher. »Wir hatten ausgemacht, dass ich mich darum kümmere.«
»Und? Hast du?« Vito streckte seinen Arm zur Decke und ließ ihn kraftlos niederfallen. »Ich weiß, du hast viel um die Ohren«, sagte er, »aber ich kann nicht die ganze Zeit warten und Däumchen drehen, bis du irgendwann mal ein Stündchen Zeit hast. So funktioniert es nicht.«
Rizzi schwieg. Das Problem war ja nicht neu. Er liebte die Gärten, aber er liebte auch seinen Beruf, und der ging im Zweifel vor. Vito wusste das und fand es auch völlig richtig – sagte er jedenfalls. Aber seit die Kräfte seines Vaters nachließen und Rizzi in den Gärten immer öfter für Arbeiten gebraucht wurde, die Vito früher allein und mit links erledigt hatte, wurde die Sache zu einem echten Problem. So ging es auf jeden Fall nicht weiter. Früher oder später mussten sie eine Lösung finden.
Marta schaltete das Deckenlicht an und schob Vito die Wärmflasche unter. »Besser?«, fragte sie – und an ihren Sohn gewandt: »Hast du etwas gegessen?«
»Ja.«
»Was?«
»Mamma, es ist spät.«
»Sind Gina und Francesca nicht bei dir?«
Er schüttelte den Kopf. »Heute ist Mutter-Tochter-Tag.«
»Die beiden fressen dir irgendwann noch die Haare vom Kopf.«
»Hör auf«, sagte Vito. »Und schau ihn dir an: Er hat genug Haare auf dem Kopf.«
Marta stopfte wortlos die Decke um Vitos Füße zurecht, nahm die Gartenhose vom Stuhl und die schmutzigen Socken, und Rizzi wurde klar, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, um seinem Vater klarzumachen, dass sie im kommenden Frühjahr einen Hilfsarbeiter einstellen mussten, der die Arbeiten übernahm, die für Vito zu schwer waren.
»Wie läuft es mit dir und Gina?«, fragte Vito, nachdem Marta verschwunden war.
»Alles bestens.« Rizzi zog sich einen Stuhl heran.
»Das Jahr ist schon wieder fast rum, und ihr habt immer noch keinen Hochzeitstermin.«
»Nicht jetzt, Papà.«
»Wann heiratet ihr? Wann bekomme ich meinen Enkel?«
»Es ist alles nicht so einfach.« Er schenkte seinem Vater ein Glas Wasser ein. »Sie hat mit ihrem Ex einiges durchgemacht und braucht einfach noch ein bisschen Zeit. Ich kann da nicht ständig Druck machen.«
»Du bist jetzt zweiunddreißig. Vor elf Jahren ist dein Junge von uns gegangen. Ich weiß, du trauerst immer noch, das tun wir alle, und die Wunde wird nie verheilen. Damit musst du, damit müssen wir alle leben, solange wir atmen. Aber das Leben geht weiter. Schau dir Matilda an. Wie schnell war sie nach eurer Scheidung wieder verheiratet? Das ging ruckzuck. Ihr Kapitän hat nicht lange gefackelt. Und jetzt hat sie wie viele Kinder?«
»Zwei.«
»Was ich sagen will, Enrico: Du darfst keine Zeit mehr verlieren. Wenn du denkst, Gina ist die Richtige, geh, mach den Sack zu.«
»Das musst du mir nicht erzählen, Papà. Das weiß ich selbst.«
Sein Telefon klingelte. Auf seinem Display leuchtete die Nummer vom Polizeiposten. Es war die Nachtschicht, und Rizzi hatte Bereitschaft. Er nahm das Gespräch an. Ein Notruf, erklärte der Kollege, aus der Via Grotta Azzurra.
»Signora De Lulla?«, fragte Rizzi.
»Bingo. Sie behauptet, es sei jemand im Haus.«
»Einbrecher oder Geister?« Rizzi schaute auf die Uhr. »Es ist okay, ich kümmer mich darum«, sagte er und legte auf.
»Was ist passiert?«, fragte Vito.
»Nichts von Bedeutung.« Rizzi erhob sich. »Das Übliche.«
Dreißig Minuten später hielt er vor dem großen Tor an der Via Grotta Azzurra, verstaute Helm und Regencape unter dem Sattel und holte aus dem Handschuhfach seine Polizeimütze. Es war stockfinster. Die Gartenlampen funktionierten nicht, und das diffuse Licht von der Straßenlaterne drang kaum bis zur Pforte. Rizzi schaltete die Lampe an seinem Telefon ein und leuchtete nach dem Klingelknopf.
Während er wartete, tropfte es ringsum von den Büschen und Bäumen. Wasser gurgelte im Rinnstein, und in der Ferne rauschte das Meer. Der Himmel war schwarz, kein Stern zu sehen, und es roch nach nasser Erde. Rizzi fasste an das schmiedeeiserne Gitter und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass die Pforte nur angelehnt war.
Der gepflasterte Weg zum Haus war mit Laub bedeckt, und nach jedem fünften Schritt kam eine kleine Stufe. Aber er hätte sich auch blind zurechtgefunden, so oft wie er hier schon entlanggegangen war.
In der Stille waren nur seine Schritte auf den nassen Blättern zu hören, das Knacken von Ästen und eine Katze, die greinend ihr Revier verteidigte. Warum Signora De Lulla nach dem letzten Einbruch Alarmanlage und Infrarotkameras installieren ließ und jetzt nicht mal die Bewegungsmelder ansprangen, war ihm ein Rätsel. Und überhaupt: Was nützte das alles, wenn das Tor offen stand und man einfach so hereinspazieren konnte?
Das Haus in seiner ganzen Größe, mit dem Ost- und dem Westflügel, lag im Dunkeln. Vor dem Eingangsportal standen ein Paar gelbe Gummistiefel, zwei Kästen Mineralwasser und eine Tüte mit Lebensmitteln, an der ein Zettel hing. Rizzi leuchtete mit seiner Taschenlampe. Die Lieferung war vom Supermarkt an der Via Pagliaro, und die Beträge auf der Einkaufsquittung waren heute Vormittag um 10.35 Uhr berechnet worden. Auch hier funktionierte die Klingel nicht. Rizzi war unschlüssig, ob er erst noch die Runde ums Haus herum machen sollte, entschied sich aber für die abgekürzte Variante, stieg auf das Mäuerchen, streckte den Arm und fasste in die Regenrinne.
Nachdem er aufgeschlossen und die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, rief er: »Signora De Lulla?«
Er tastete nach dem Lichtschalter, drückte, aber nichts geschah. Kein Strom. Er leuchtete in der Eingangshalle über den Tisch, das künstliche Blumengebinde, die Seidentapete und das riesige Ölgemälde, Signora De Lulla im getupften Kleid, jung und bildschön, aus einer Zeit, als sie noch Ludovica Ferretti hieß und wahrscheinlich am Anfang einer großen Filmkarriere stand.
Rizzi zog die Haustür hinter sich zu und schob links den schweren Vorhang beiseite. Dahinter war die Garderobe, der Platz für den Rollator und, wo der braune Nerz hing, das mit Tapete verkleidete Türchen des Sicherungskastens.
Wie er es sich gedacht hatte: Die Hauptsicherung war herausgesprungen. Er drückte den Schalter nach oben, und augenblicklich flammte in der Halle der riesige Kronleuchter auf, und in der Stille erklang ein Orchester, Streicher, eine Verdi-Ouvertüre.
Rizzi stiefelte über den dicken Teppich ins hellerleuchtete Esszimmer, an dessen Stirnwand das Ölgemälde von Giorgio De Lulla hing, dem schon lange verblichenen Gemahl – mit einem Strohhut in der Hand und einem maliziösen Lächeln. Wenige Monate nach der Hochzeit war er an einem Herzinfarkt gestorben und hatte Signora De Lulla dieses Haus hinterlassen, die Wohnung in Rom und ein paar Wertpapiere. Signora De Lulla pflegte mit dem Sherryglas in der Hand die Legenden, und eine davon war, dass ihre Karriere – von der Tochter eines Fassbauers zum Filmstar – ganz anders verlaufen wäre, wenn ihr nicht dieses Weibsbild aus Pozzuoli in die Quere gekommen wäre, diese Sophia, deren Nachnamen sie sich weigerte auch nur in den Mund zu nehmen.
Er ging um den Esstisch herum, der mit Tellern, Besteck und Gläsern für zwölf Leute gedeckt war, die nie kommen würden, und schob die Flügeltüren zum Salon auseinander. Auch hier war alles wie immer. Auf dem Sekretär am Fenster lag eine nicht zu Ende gespielte Patience, und auf dem niedrigen Rauchglastisch standen Gläser und Karaffen mit Sherry, Whiskey und Ramazotti. Die Opernarie erfüllte den Raum, aber von Signora De Lulla war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie schon längst vergessen, dass sie die Polizei gerufen hatte, hatte einen Whiskey gekippt, ein Valium genommen und war schlafen gegangen.
Nur ihr seidener Hausmantel mit den bunten Flamingos lag auf dem geblümten Teppich, und wie er dort lag, so dramatisch ausgebreitet, als hätte hier sonst was stattgefunden, war wieder einmal typisch für Signora De Lulla. Die Musik verstärkte die Dramatik, und Rizzi empfand plötzlich einen großen Widerwillen. Die Vorstellung, dass das alles hier nur für ihn aufgeführt wurde, war nicht witzig und machte ihn wütend. Er ging quer durch den Raum zum Regal und stellte den CD-Spieler aus.
In der plötzlich eingetretenen Stille war zu hören, wie draußen der Wind heulte und der Regen wieder niederprasselte. Die Fensterläden klapperten, Äste kratzten an der Scheibe. Irgendetwas war seltsam. Rizzi stand regungslos vor dem Regal und lauschte.
Dass die Vorhänge sich kaum merklich bewegten, lag am Durchzug und an den alten Fenstern, und die beiden benutzten Rotweingläser auf dem Tischchen vor dem Kamin bedeuteten wahrscheinlich nichts anderes, als dass Roberto Esposito hier gewesen war, der Hausmeister, der täglich ein paar Piniennadeln aus dem Pool fischte, den Gärtner und die Putzfrau triezte, sich hier durchfraß und immer so lange um Signora De Lulla herumscharwenzelte, bis sie ihm ein Extratrinkgeld zusteckte. Dann sah Rizzi, was hier nicht stimmte.
Einen Meter von ihm entfernt lag ein spitzenbesetztes Taschentuch. Rizzi bückte sich und sah im selben Moment die Hand, die über die Armlehne des Fauteuils ragte und leblos nach unten abknickte. An jedem Finger steckte ein Ring, und jeder Nagel war sorgfältig perlmuttfarben lackiert.
Rizzi trat näher und beugte sich über Signora De Lulla, die in ihrem Ohrensessel aussah wie eine große alte Puppe, die man dorthin gesetzt hatte, weil niemand mehr mit ihr spielen wollte, aber die zum Wegwerfen zu schade war. Ihr Nachthemd mit der venezianischen Stickerei lag in hübschen Falten um ihren voluminösen Körper herum und war unter dem Hals mit einer bunten Kordel züchtig zusammengebunden. Ihr schulterlanges, auf wundersame Weise immer noch kastanienbraunes Haar war genauso tadellos frisiert wie auf dem Gemälde in der Eingangshalle. Nur ihr Kopf war hässlich zur Seite gefallen und ihre große Brille mit den bläulich getönten Gläsern verrutscht.
»Signora De Lulla?« Rizzi fasste an ihr Handgelenk. »Hören Sie mich?« Ihre Augen mit den schwarz getuschten Wimpern waren geschlossen, die blassrosa angemalten Lippen zusammengepresst. Der Puls war schwach, aber vorhanden.
Er roch an ihrem Whiskeyglas, das in Reichweite auf dem Glastisch stand, und zückte sein Telefon, um den Notarzt zu rufen.
»Nur zu«, ließ sich ihre Stimme vernehmen. »Genehmigen Sie sich ruhig einen.«
Signora De Lulla rührte sich nicht, ihr Kopf hing immer noch schief zur Seite, nur ihr Mund stand ein wenig offen.
»Was soll das Theater?« Rizzi stellte ihr Glas zurück auf die Tischplatte.
»Ich dachte schon, es kommt niemand mehr«, sagte sie mit schwerer Zunge, schlug die Augen auf und rückte vorwurfsvoll ihre Brille zurecht.
»Und ich dachte schon, Ihnen sei etwas zugestoßen.« Rizzi steckte sein Telefon wieder ein. »Sie können einem vielleicht einen Schrecken einjagen.«
»Es hat schon seinen Grund, warum ich Sie gerufen habe.« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie eine ganze Dienerschar auf Trab bringen. »Bitte schauen Sie nach, Agente. Ich glaube, es ist jemand im Haus.«
»Die Sicherung ist rausgeflogen«, widersprach Rizzi. »So etwas passiert bei Unwetter. Und wo der Sicherungskasten ist, habe ich Ihnen gezeigt. Sie erinnern sich?«
Sie schaute mit glasigem Blick durch ihn hindurch, beschrieb mit der Hand einen Halbkreis und flüsterte: »Vor den Fenstern waren Schatten. Viele Schatten, große Schatten, und ich dachte, sie sind wieder zurück, die Männer.«
»Was haben Sie genommen?«, fragte Rizzi. »Valium?«
»Nur ein halbes«, antwortete sie gekränkt.
»Sonst noch etwas?«
»Brom«, erklärte sie widerwillig.
»Wie viel?«
»Ein paar Tropfen.« Sie seufzte. »Glauben Sie mir doch einfach. Ich bin nicht verrückt. Die Kerle sind da draußen vorbeigeturnt. Ich hatte Angst.«
»In einer mondlosen Nacht gibt es keine Schatten, und was sie gehört haben, war der Wind.« Rizzi betrachtete die alte Dame forschend. »Oder haben Sie den Schalter für die Hauptsicherung am Ende selbst umgelegt?«
»Wie kommen Sie darauf?«, rief sie empört.
»Sie wissen, dass Sie Roberto kontaktieren sollen, Ihren Hausmeister, Signor Esposito, wenn es um technische Dinge geht, nicht uns. Das habe ich Ihnen schon hundertmal gesagt.«
»Ich weiß sehr gut, wen ich wann kontaktieren muss, und Sie hören jetzt auf der Stelle auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.« Beleidigt pflückte sie einen Fussel von ihrem Nachthemd. »Setzen Sie sich endlich, nehmen Sie sich einen Drink, und erzählen Sie mir, wo Agente Savio abgeblieben ist. Wie geht es ihm? Ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Draußen rüttelte der Sturm an den klapprigen Fenstern, und auch der Regen hatte wieder eingesetzt. Rizzi schaute auf die Uhr. »Ich bin im Dienst«, sagte er, »und es ist nach Mitternacht. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Signora De Lulla, aber ich muss morgen früh raus.«
»Agente Savio nimmt sich immer Zeit zum Plaudern«, erklärte Signora De Lulla vorwurfsvoll und versuchte tapfer, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Er ist überhaupt ganz anders als Sie. Charmant und witzig und nicht so kalt und streng wie Sie.«
»Ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag.« Rizzi ließ sich auf der Sofakante nieder. »Und bitte hören Sie mir genau zu. Statt jedes Mal die Polizei verrückt zu machen und mich bei diesem Wetter quer über die Insel zu scheuchen, kontaktieren Sie das nächste Mal einfach Agente Savio direkt und persönlich. Haben Sie mich verstanden? Dann können Sie sich hier mit ihm einen wunderschönen Abend mit Drinks und alten Geschichten machen, und alle sind zufrieden.«
Signora De Lulla nickte, aber vielleicht war es auch nur eine Bewegung mit dem Kopf, während sie ihre Brille abnahm, und die Art und Weise, wie sie das tat, war nicht nur zutiefst gekränkt und beleidigt, sondern so, als hätte er ihr gerade eine Ohrfeige verpasst.
Der Regen prasselte gegen die Scheibe, und Signora De Lulla schneuzte sich leise und vorwurfsvoll in ihr Taschentuch. Rizzi blieb in der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu der alten Dame um.
»Also gut«, sagte er und nahm seine Mütze ab. »Ein Gläschen und eine Geschichte, aber nur eine einzige, und dann ist Schluss.«
»Zu Befehl.« Signora De Lulla machte mit dem Glas in der Hand eine Bewegung und verschüttete dabei etwas von der Flüssigkeit.
Rizzi setzte sich, schenkte sich vom alten irischen Whiskey ein und lehnte sich zurück.
Als er gegen 5.30 Uhr über die Via Grotta Azzurra zurück nach Hause fuhr, hatte der Regen aufgehört, nur der Wind kam noch in Böen vom Meer und drückte ihn in den Linkskurven auf die Gegenfahrbahn. Er hatte die Straße für sich alleine, spürte die Müdigkeit in seinen Gliedern, dachte an Gina und daran, dass er jetzt gerne noch einen Abstecher machen und zu ihr unter die Bettdecke kriechen würde, um dieser sinnlosen Nacht wenigstens in den frühen Morgenstunden noch einen Sinn und etwas Schönes zu verleihen, als in der Dunkelheit, wie aus dem Nichts, zwei grelle Lichter auftauchten.
Statt zu reagieren, umklammerte er mit den Händen den Lenker und hielt die Spur, als könne er nicht glauben, was er sah. Erst als die gellende Hupe ertönte und die Scheinwerfer vor ihm ab- und wieder aufblendeten, riss er den Lenker herum und spürte im selben Moment, wie die kleinen Reifen seiner Vespa die Haftung verloren. Der nasse Asphalt verwandelte sich in Seife, der Roller kam ins Rutschen, und Rizzi sah sekundenlang nur gleißendes Licht.
Er spürte den Windstoß wie eine Bugwelle, die ihn auf die Seite drückte, sein Roller hob vom Boden ab, und er versuchte irgendwie, die Balance zu halten. Er klammerte sich an den Lenker und sah in der Dunkelheit ein Gesicht. Ganz verschwommen tauchte es vor ihm auf, wie eine Gestalt aus dem Jenseits, und er dachte: Wer bist du? Oder ob es ein Traum war oder am Alkohol lag.
Im nächsten Moment bekamen die Reifen wieder Haftung, und die Bremsen griffen so hart, dass er beinahe kopfüber über den Lenker geflogen wäre.
Dann stand er, die Füße auf dem Boden, während der Motor tuckerte und vibrierte, und schaute keuchend über seine Schulter zurück. Welcher Verrückte raste hier mitten in der Nacht so halsbrecherisch über die Insel – und mit welchem Ziel?
Die Rücklichter waren in der Dunkelheit verschwunden, hatten sich im Nichts aufgelöst, waren einfach weg, als handele es sich um eine Einbildung oder ein Traumbild.
Ohne weiter zu überlegen, kuppelte er, wendete und fuhr zurück. Sein Scheinwerfer streifte in der Kurve die Böschung, aber etwas war merkwürdig. Wo die Leitplanke endete, fehlte ein Begrenzungspfosten. Nur der Stumpf stand noch da. Er fuhr auf die Seite, stellte die Vespa am Straßenrand ab, ließ den Scheinwerfer angeschaltet, holte aus dem Handschuhfach seine Taschenlampe und leuchtete die Böschung hinunter.
Das felsige Gelände mit den halbhohen Bäumen, niedrigen Palmen und Ginsterbüschen war unübersichtlich, und das Licht seiner Taschenlampe reichte nicht aus, um die Fläche als Ganzes zu erfassen und auszuleuchten. Was da unten in der Dunkelheit lag, konnte alles Mögliche sein, ein Kühlschrank, eine Waschmaschine oder was die Leute hier sonst noch alles in der freien Natur an Sperrmüll entsorgten.
Mit der Taschenlampe in der Hand machte er sich Schritt für Schritt an den Abstieg, rutschte auf dem unbefestigten Untergrund und versuchte, sich irgendwo festzuhalten und nicht die Balance zu verlieren, bis er auf einem Felsvorsprung anlangte und stehen blieb.
Unter ihm, verkeilt zwischen zwei Steinbrocken, lag ein Fahrzeug, eine dreirädrige Ape. Die Ladefläche mit den beiden Hinterrädern stand fast senkrecht in der Luft, während vom Vorderrad und der Fahrerkabine nicht viel zu erkennen war. Nur eine Rauchsäule stieg dort auf. Er ahnte, dass es sich um das Fahrzeug handelte, das ihm vorhin entgegengekommen war und ihn von der Straße gedrängt hatte. Er zückte sein Telefon.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Kollege von der Wache sich meldete.
»Wir brauchen einen Rettungswagen«, sagte Rizzi und beschrieb mit knappen Worten die Situation.
»Verletzte?«, fragte der Mann am anderen Ende.
»Mit Sicherheit!« Rizzi schrie fast. »Beeil dich. Und sag denen, wir brauchen eine Blechschere, Bolzenschneider – das ganze Gerät.« Bevor er auflegte, erklärte er noch, dass oben an der Straße sein Roller parkte, dort, unterhalb davon, sei die Unfallstelle. Dann steckte er sein Telefon ein und suchte nach einem Weg, wie er näher an die Ape herankommen könnte. Die dornigen Zweige machten ein Durchkommen unmöglich. Er hätte eine Gartenschere oder wenigstens Handschuhe gebraucht.
Schemenhaft sah er eine Gestalt in der Fahrerkabine, vornübergebeugt, über dem Lenkrad.
»Hallo«, rief er. »Hören Sie mich?«
Er musste einen größeren Bogen machen und versuchen, von der anderen Seite einen Zugang zu finden.
Er rutschte mehr, als dass er kletterte, riss sich an den rauhen Oberflächen der Steine die Handflächen auf und sah erst jetzt, wie tief sich die Ape zwischen die Felsen gebohrt hatte. Endlich befand er sich in der Senke, auf einer Höhe mit dem Unfallwagen, sah aber von der Fahrerkabine nicht viel mehr als das Dach und eine Delle mit einem scharfen Knick darin. Sich zwischen Felsen und Fahrerkabine zu zwängen, um dann irgendwie die Tür zu öffnen, würde nicht funktionieren. Dafür war der Zwischenraum zu klein.
Er legte sich auf den Bauch und robbte langsam nach vorne. »Hören Sie mich?«, rief er noch einmal. Er war ganz nah an der Windschutzscheibe, sah aber nichts als zerborstenes Glas. »Können Sie mich verstehen?«
Er zerrte an seiner Uniformjacke, zog den Ärmel über die Hand, machte die Hand zur Faust und schlug auf die Windschutzscheibe ein, aber die kaputte Scheibe zu durchbrechen war in der liegenden Position ein Ding der Unmöglichkeit. Er strampelte mit den Beinen, robbte sich zentimeterweise nach vorne und schränkte dadurch nur seine Bewegungsfreiheit noch mehr ein. Endlich bekam er im Geröll einen spitzen Stein zu fassen und schlug mit aller Kraft genau dort auf die Scheibe ein, wo sie einen Sprung hatte, keuchte vor Anstrengung und sah im Loch einen dunklen Haarschopf, der wie eine verwuschelte Perücke über dem Steuer lag.
»Sind Sie verletzt?«, rief er.
Er beseitigte mit dem Ärmel die Splitter, streckte die Hand aus, bis er das Gesicht der jungen Frau berühren und einen Finger an ihre Halsschlagader legen konnte.
Vielleicht war es Einbildung, aber er glaubte ein leises Atmen zu hören.
»Ganz ruhig«, sagte Rizzi. »Der Rettungswagen ist unterwegs. Er wird jeden Moment hier sein.«
Er strich mit zwei Fingern vorsichtig die Haare beiseite, und mit der Morgendämmerung legte sich ein Schimmer über Gesicht, Lippen, Wangen und zwei zusammengewachsene Augenbrauen.
»Elisa«, flüsterte Rizzi.
Aus ihrem Mundwinkel sickerte Blut. »Kein Unfall«, wisperte sie. »Es war …« Ihre Augenlider flatterten.
»Schau mich an!«, bat Rizzi. »Elisa, hörst du mich?«
Vögel zwitscherten, der Morgen graute, aber der Blick aus den grünen Augen war leer, die Frau tot.
An der Straße hatten sich Schaulustige versammelt, Anwohner in Pyjama und Nachthemd, mit einer Jacke darüber. Michele Pellicano von der Inselzeitung war auch schon eingetroffen und machte eifrig Fotos. Rizzi war zu erschöpft, ließ ihn gewähren, er tat ja auch nur seine Arbeit, und ging hinüber zu seiner Kollegin, Antonia Cirillo, die dabei war, die Unfallstelle abzusperren.
Er begrüßte sie und überreichte ihr die Tüte mit dem Ausweis der Verstorbenen. »Das muss auf die Wache«, sagte er. »Ich kümmere mich so lange um die Angehörigen.«
Cirillo schob die Tüte in ihre Jackentasche unter dem Regencape und bemerkte: »Soweit ich erkennen kann, gibt es keine Bremsspuren.«
Rizzi schaute über den Asphalt, während am Straßenrand ein Streifenwagen hielt und Ispettore Luigi Lombardi ausstieg.
Der Chef vom Polizeiposten gestattete dem Journalisten ein Foto, wandte sich dann mit ausgebreiteten Armen an die Leute, die neugierig und betroffen um den Rettungswagen herumstanden, und rief: »Signore e signori, gehen Sie nach Hause. Die Vorstellung ist vorbei.« Er klatschte in die Hände, wandte sich ab und ließ die Leute stehen, die sich jedoch nicht von der Stelle rührten und stumm beobachteten, wie die Männer vom Bergungsdienst mit Koffern, Lampen und Werkzeug den Abhang heraufkamen, gefolgt von den Sanitätern mit dem Zinksarg. Fast zwei Stunden hatte es gedauert, bis die Rettungskräfte mit ihrem Gerät das Dach des Unfallwagens mit einer Blechschere so weit aufgeschnitten hatten, dass man die Kabine wie eine Konservenbüchse öffnen und das Unfallopfer herausholen konnte.
Der Ispettore in der gebügelten Uniform begrüßte die erschöpften Männer der Bergungstruppe, die bleichen Rettungssanitäter und Rizzi in seiner schmutzigen Jacke und Hose, während der Sarg verladen und die Türen des Leichenwagens geschlossen wurden.
»Wer ist der Tote?« Michele Pellicano holte Zettel und Stift heraus. »Jemand von der Insel?«
»Kein Kommentar«, erwiderte Rizzi und bat Ispettore Lombardi mit einer Handbewegung auf die Seite.
»Komm schon, Enrico.« Pellicano schnalzte mit der Zunge. »Ein paar Informationen brauche ich.« Er folgte Rizzi und Lombardi an die Absperrung. »Hätte der Unfall verhindert werden können, wenn die Straße besser gesichert gewesen wäre?«
Lombardi drehte sich um. »Hör auf mit dem Unsinn, Michele«, sagte er. »Schreib, was du schreiben musst, aber übertreib nicht, verstanden?« Dann wandte er sich an Rizzi: »Also, Agente. Was haben wir?«
Rizzi hielt das Flatterband hoch, damit sein Chef darunter hindurchschlüpfen konnte, und sagte, nachdem sie ein paar Schritte gegangen und außer Hörweite waren: »Bei der Verunglückten handelt es sich um Elisa Constantini.«
»Elisa Constantini?«, wiederholte Lombardi ungläubig und nahm betroffen seine Mütze ab. »Warum? Ich dachte, sie lebt auf dem Festland. Wieso kurvt sie hier nachts bei uns durch die Gegend?« Er schaute Rizzi empört an, als erwarte er von ihm Aufklärung.
»Ich weiß es nicht, Ispettore«, erklärte Rizzi matt.
»Wo war sie noch mal hingezogen?«, fragte Lombardi und schaute ziellos über Disteln und Kakteen, Steine und die Ape oder das, was von ihr übrig geblieben war.
»Benevent«, erklärte Rizzi. »So steht es jedenfalls in ihrem Ausweis.«
»Kinder?«
»Zwei«, antwortete Rizzi.
Lombardi fluchte leise.
Rizzi berichtete, wie er gegen 5.30 Uhr von einem Einsatz bei Signora De Lulla kam und ihm auf der Via Grotta Azzurra eine Ape entgegenraste, hupend und mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Wie er von der Straße gedrängt wurde, das Fahrzeug in der Dunkelheit verschwand und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war. Dass ihm die Sache merkwürdig vorkam, er zurückfuhr, den abgeknickten Begrenzungspfosten und kurz darauf die verunglückte Ape zwischen den Felsen entdeckte.
»Vielleicht war sie betrunken oder auf Droge.« Cirillo war hinzugetreten und wickelte den Rest des Absperrbands um eine Rolle.
»Oder haben wir es am Ende mit einem Suizid zu tun?« Lombardi schaute ratlos in den Himmel. Das Morgenrot war verschwunden und einem Hochnebel gewichen, der sich zu einer geschlossenen Wolkendecke auswachsen oder zu einem wolkenlosen Himmel werden konnte, während das Blaulicht auf dem Dach des Rettungswagens kreiste.
»Dann hätte sie wohl kaum gehupt und die Scheinwerfer aufgeblendet«, gab Cirillo zu bedenken.
Die Fahrbahn begann an den Rändern und in der Mitte zu trocknen. »Es war kein Unfall«, sagte Rizzi. »Das waren ihre letzten Worte, bevor sie …« Rizzis Stimme versagte. Er musste sich räuspern, um den Satz zu beenden: »Bevor sie gestorben ist.«
»Hat sie das wirklich gesagt?« Lombardi fuhr sich nervös mit der Hand durchs Gesicht.
»Bist du dir sicher, dass du dich nicht verhört hast?«, fragte auch Cirillo und mutmaßte: »Vielleicht hat sie gemerkt, dass mit ihrer Ape etwas nicht stimmt, und das Hupen war ein Hilferuf.«
»Gut möglich«, erklärte Rizzi.
Lombardi hob die Hand. »Wir sollten nicht anfangen zu spekulieren, Agenti«, mahnte er. »Zuerst müssen die Spezialisten aus Neapel ran und das Unfallopfer und den Wagen untersuchen, dann wissen wir mehr.« Der Ispettore zog seine Uniformjacke straff. »Wir müssen die Angehörigen benachrichtigen«, murmelte er, »bevor sie es über andere Kanäle erfahren.« Er wandte sich zum Gehen. »Sie übernehmen das, Rizzi, und Agente Cirillo wird Sie begleiten.« Er bückte sich, kroch unter dem Flatterband hindurch und wurde von Michele Pellicano mit Blitzlichtgewitter erwartet.
Das Haus der Familie Constantini befand sich auf der anderen Seite der Insel, in Capri-Stadt, an der Via Castiglione, und war mit dem Motorroller unter normalen Umständen in weniger als dreißig Minuten zu erreichen. Der schmucklose, weiß angestrichene Kasten, der über die Jahre und Jahrzehnte vom alten Marcello immer mal wieder um einen Raum oder eine Kammer erweitert worden war, lag, von der Straße aus gesehen, etwas erhöht. Früher hatten hier einmal drei Generationen unter einem Dach gewohnt, die Großeltern und die Eltern mit den Kindern Raffaella und Elisa. Aber das war lange her. Jetzt wohnte hier nur noch eine Person: Raffaella Constantini.
Rizzi betätigte den Klingelknopf am Tor, als auch Cirillo angefahren kam, einen Halbkreis drehte, ihre Vespa neben seiner parkte und ohne Eile aufbockte. Aus Rizzis Sicht ergab es keinen Sinn, dass sie hier im Doppel auftraten, um einer völlig ahnungslosen Raffaella Constantini mitzuteilen, dass ihre kleine Schwester tödlich verunglückt war. Er hätte das lieber alleine gemacht.
»Alles okay?«, fragte Cirillo, als sie neben ihn trat und die Polizeimütze auf ihren Haaren zurechtrückte.
»Ich glaube, du brauchst mal ein paar Fahrstunden«, sagte Rizzi und drückte noch einmal auf den Klingelknopf.
»Wie bitte?«
»Damit du lernst, wie man sich in den engen Serpentinen in die Kurven legt.«
»Ich komme ganz gut zurecht«, erklärte Cirillo knapp, »aber danke für den Tipp.«
»Kann ich Ihnen helfen?«, rief jemand vom Haus herüber. Ein junger Mann in Boxershort und T-Shirt stand oben auf der Auffahrt.
»Guten Morgen«, sagte Rizzi. »Wir müssen mit Signora Constantini sprechen.« Er legte eine Hand auf die Klinke. »Es ist dringend.«
Der Mann verschwand hinter dem Haus, kurz darauf ertönte der Summer, und Rizzi drückte das Tor auf.
Sie gingen die betonierte Auffahrt hinauf, die sich in schlechtem Zustand befand und voller Risse und Sprünge war. Unter einem windschiefen, halbverfallenen Dach parkte zwischen gestapelten Orangenkisten eine alte Ape, fast ein Museumsstück, die wahrscheinlich dem alten Marcello gehört hatte. Es sah aus, als hätte der Alte persönlich die Ape dort noch zu Lebzeiten rückwärts reingefahren, und seitdem stand sie dort und verrottete, und genau so war es wahrscheinlich auch.
Raffaellas Fiat stand direkt an der Treppe, vor dem Eingang. Sie gingen ums Haus herum, um die Ecke, hinter der auch der Mann verschwunden war, und gelangten auf eine Terrasse, auf der Klappstühle standen und ein Tischchen mit Aschenbecher. Rizzi war seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen, zuletzt wahrscheinlich als Teenager. Die Zitronenbäume im Garten waren verschwunden, und die Schiebetür an der Hausrückseite hatte es hier früher auch nicht gegeben. Der Eingang stand offen und führte in eine hellerleuchtete Wohnküche. Wie es aussah, hatte Raffaella nach dem Tod ihres Vaters einiges verändert, alles sah größer und moderner aus, als Rizzi es in Erinnerung hatte. Auf einem langen, mit Papieren übersäten rustikalen Holztisch standen leere Weingläser, ein aufgeklappter Laptop und eine Schale Milchkaffee. Von dem jungen Mann oder Raffaella war nichts zu sehen.
Irgendwo klappte eine Tür, kurz darauf waren Schritte auf der Treppe zu hören, und Raffaella betrat den Raum.
»Erri, du?«, rief sie überrascht. Sie trug einen Kimono, verschmierte Wimperntusche und ein Frotteeband, das die Haare aus dem Gesicht hielt. »Was ist los?«
Rizzi machte einen Schritt auf sie zu. »Es tut mir so leid, Raffaella.«
»Um Himmels willen.« Sie wich zurück und zog den Gürtel ihres Kimonos fester. »Was ist denn passiert?«
»Es geht um deine Schwester«, erklärte Rizzi mit rauher Stimme. »Elisa war auf der Via Grotta Azzurra unterwegs. Es fällt mir nicht leicht, es dir zu sagen« – er verstummte, senkte den Kopf und erklärte: »Sie ist von der Straße abgekommen.«
»Stopp, warte.« Raffaella hob die Hand. »Bevor du weitersprichst: Elisa ist gestern Nachmittag abgereist. Sie hat das aliscafo um 16.20 Uhr genommen und ist danach mit dem Zug weiter nach Benevent. Josh hat sie zum Schiff gebracht. Josh!« Sie begann, fahrig zwischen den Blättern auf dem Tisch zu kramen, und rief: »Wo ist meine Brille?«
»Raffaella.« Rizzi rückte einen Stuhl zurecht. »Bitte setz dich.«
»Wie spät ist es?«, fragte Raffaella geschäftig. »Sie hat doch um zwölf einen Termin in Benevent. Josh? Komm mal bitte!«
»Setz dich!«, wiederholte Rizzi.
Etwas in seinem Ton ließ Raffaella erschrocken aufschauen. »Erri«, stammelte sie und sank langsam auf den Stuhl, »du machst mir Angst. Was soll das?«
»Es besteht leider kein Zweifel.« Rizzi verstummte, suchte nach den richtigen Worten, als Cirillo sich einschaltete.
»Ihre Schwester«, sagte sie, »war mit Ihrer Ape unterwegs.«
»Ape? Welche Ape?«, rief Raffaella mit schriller Stimme.
»Als sie auf der Via Grotta Azzurra die Kontrolle über das Fahrzeug verlor«, fuhr Cirillo fort, »und den Abhang hinunterstürzte. Es tut uns unendlich leid, Signora Constantini. Elisa ist tot.«
Raffaella starrte Cirillo verständnislos an, schaute dann zu Rizzi, als erwarte sie, dass er ihr bestätige, dass diese fremde Frau in ihrer Küche wohl den Verstand verloren hatte.
Aber Rizzi schwieg, drehte hilflos die Mütze in seiner Hand und sagte: »Raffaella, ich bin untröstlich. Mein herzliches Beileid.«
Raffaella presste ihre Hand vor den Mund. Dann fing sie an zu schreien.
Sie hatte Papiere, Gläser und Laptop vom Tisch gefegt, Cirillo das Glas Wasser aus der Hand geschlagen, das sie ihr reichen wollte, und war weinend zusammengebrochen.
Cirillo rief den Arzt an, schilderte ihm in knappen Worten die Situation und bat ihn zu kommen. Der junge Mann, Josh, stand wie gelähmt in der Tür, unfähig, etwas zu tun, und betrachtete die Szene wie einen Film, von dem er nicht glauben konnte, dass er sich wirklich vor seinen Augen abspielte, während Rizzi versuchte, Raffaella einfach nur festzuhalten und irgendwie zu beruhigen.
Nachdem der Arzt in weniger als fünfzehn Minuten zur Stelle war und Raffaella Constantini eine Beruhigungsspritze gab, standen die Männer um die Frau herum, als wäre sie ein wildes Tier, das man nicht aus den Augen lassen durfte.
Cirillo verließ den Raum, ging nach draußen auf die Terrasse und atmete tief durch. Etwas Würziges lag in der Morgenluft, Lorbeer wahrscheinlich, und die Sonne gewann langsam an Kraft. Cirillo liebte ihren Beruf, aber diesen Teil ihrer Arbeit hasste sie: das Überbringen schlechter Nachrichten, den ahnungslosen Empfänger in ein schwarzes Loch stoßen, sein Leben in ein Davor und Danach teilen und dann wieder verschwinden. Und hier auf der Insel, wo so wenig Leute lebten, schien alles eine noch größere Wucht zu haben. Oder lag es daran, dass ihr Kollege persönlich betroffen war? Jeder kannte jeden, alle waren miteinander verbandelt, und falls doch mal jemand außen vor war, kannte er dafür garantiert jemanden, der mittendrin stand.
»Auf Wiedersehen, Agente«, rief der Dottore im Vorbeigehen.
»Auf Wiedersehen, Dottore«, grüßte Cirillo zurück.
Der Arzt wurde von Josh zum Tor hinunter begleitet. Der junge Mann hatte sich inzwischen eine Jeans übergezogen und trug eine schwarze Hornbrille, die ihn fast noch jünger erscheinen ließ. Der Arzt redete auf Josh ein, schien ihm ausführliche Instruktionen zu geben, verabschiedete sich schließlich, stieg in sein Auto und fuhr davon, natürlich mit dem obligatorischen Hupen. Josh schloss die Pforte und kam zurück, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
»Ich kann es noch gar nicht glauben.« Der junge Mann blieb vor Cirillo stehen und schaute ratlos ins Leere. »Sie war gestern noch hier, bestens gelaunt. Das ist wie lange her? Gerade mal zwölf Stunden! Und jetzt soll sie tot sein?« Er schüttelte den Kopf, als wäre in dieser Aufzählung ein logischer Fehler. »Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt«, fuhr er fort und zog ein kleines silbernes Etui aus seiner Hosentasche. »Mein Name ist Josh Wilcox.« Er überreichte ihr eine Visitenkarte.
Happy Fruits, las Cirillo auf dem zitronengelben Kärtchen. Josh Wilcox. Sales Manager.
Sein Telefon meldete den Eingang einer Nachricht.
»Klingt nicht gerade italienisch, Ihr Name«, bemerkte Cirillo.
»Ich bin aus Manchester«, erwiderte er zerstreut und starrte mit gerunzelter Stirn auf das leuchtende Display. »Mein Kollege sagt, es sieht so aus, als wäre Elisa gestern Nachmittag tatsächlich nicht mit aufs Schiff gegangen.« Er berichtete, zwei Mitarbeiter und er hätten sich hier am Wochenende bei Raffaella auf Capri zu einem Workshop versammelt. »Es geht um Crowdfarming«, erklärte er. »Schon mal gehört? Wir ernten selbst und liefern direkt an den Verbraucher.« In der Abgeschiedenheit, sagte er, könnten sie manche Dinge besser überlegen und aufschreiben als drüben auf der Zitronenplantage, in Sorrent.
»Und Elisa Constantini war auch dabei?«, fragte Cirillo.
Wilcox schüttelte den Kopf. »Sie hat mit der Firma nichts zu tun und war bloß zu Besuch. Aber als ich Jerôme und Sarah runter zum Hafen gefahren habe, weil sie das 16.20-Uhr-aliscafo kriegen wollten, kam sie mit. Sie wollte auch zurück.«
»Nach Benevent.«
»Nehme ich an.«
Cirillo beobachtete, wie Wilcox mit beiden Daumen auf seinem Smartphone eine Nachricht schrieb. »Wie gut kannten Sie Elisa Constantini?«, fragte sie. »Was hatten Sie für einen Eindruck von ihr?«
»Sie war nett.«
»Nett«, wiederholte Cirillo und schaute in den blassblauen Himmel. »Was heißt das? War sie zurückhaltend, oder was ist in Ihren Augen nett?«
»Also, zurückhaltend war sie auf keinen Fall.« Wilcox steckte das Telefon wieder ein. »Ehrlich gesagt, kannte ich sie gar nicht und habe sie, wenn überhaupt, immer nur zwischen Tür und Angel gesehen.«
»Und was sagen Ihre Kollegen? Wieso ist sie gestern Nachmittag nicht mit aufs Schiff?«
»Sarah und Jerôme? Sie meinen, sie habe noch etwas zu erledigen gehabt.«
»Und was?«
»Keine Ahnung.«
Cirillo betrachtete Wilcox von der Seite, sein vorspringendes Kinn und das bisschen Bartwuchs, und musste für einen Moment an Oscar denken, der sich mit sechzehn nun auch versuchte, einen Bart stehen zu lassen, wie auf dem Selfie zu sehen war, das er ihr, nach mehrmaliger Aufforderung, geschickt hatte. Sie seufzte still, verscheuchte den Gedanken an ihren Sohn und fragte: »Wie lange sind Sie schon mit Raffaella Constantini zusammen?«
Überrascht schaute er sie von der Seite an. »Wir sind nicht zusammen«, erklärte er. »Sie ist meine Chefin. Unser Verhältnis ist rein freundschaftlich-professionell.«
»Okay. Und wieso sind Sie als Einziger hiergeblieben, während Ihre Kollegen zurückgefahren sind?«
»Weil ich angefangen habe, die Ergebnisse unseres Brainstormings in Form zu bringen.« Er grinste schief. »Einer muss ja die Drecksarbeit übernehmen.«
»Und Raffaella?«
»Ist das ein Verhör?«
»Antworten Sie doch einfach.«
»Hat gekocht. Reste aufgewärmt. Mir über die Schulter geguckt. Warum wollen Sie das so genau wissen?«
»Dann hätten Sie doch mitkriegen müssen, dass Elisa zurückkam und mit der Ape wieder losgefahren ist.«
Es dauerte eine Sekunde, bis Wilcox schaltete. »Jetzt verstehe ich.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht zurückgekommen, jedenfalls nicht hierher, das weiß ich hundertprozentig. Das hätten wir mitbekommen, jedenfalls ich. Wir waren bis Mitternacht in der Küche und sind danach ins Bett.« Er nickte mit dem Kinn nach oben, in den ersten Stock. »Raffaellas Zimmer geht nach hinten raus, meines zum Hof. Ich kriege also mit, wenn jemand über die Auffahrt kommt oder auf der Straße zwei Polizisten stehen.«
»Aber mit wessen Ape war sie dann unterwegs?«
»Keine Ahnung.«
In diesem Moment ging die Haustür auf, und Rizzi kam heraus. Wilcox sprang auf. »Wie geht es Raffaella?«, fragte er. »Kann ich irgendetwas tun?«
»Natürlich, Agente.«
»Sie können sich auf mich verlassen.«
Rizzi verabschiedete sich von Wilcox mit Handschlag, während Cirillo den jungen Mann um die Koordinaten der beiden Mitarbeiter bat, die mit Elisa Constantini aufs Schiff gehen wollten, Jerôme Dubois und Sarah Neumann, und speicherte die Namen mit den dazugehörigen Rufnummern in ihrem Telefon.
Rizzi holte seinen Helm unter dem Sattel hervor. »Raffaella hat mich bereits darauf hingewiesen.«
»Was soll ich dazu sagen?« Er setzte seinen Helm auf. »Wir müssen so schnell wie möglich den Halter ausfindig machen. Und wenn ich die Sache richtig einschätze, wird der Staatsanwalt den Besitzer wegen fahrlässiger Tötung drankriegen.«
»Sie hat keine Ahnung.«
»Ich weiß selbst, wie ich meinen Job zu machen habe.« Rizzi schloss den Lederriemen unter seinem Kinn und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
»Ich habe in der Situation da unten nicht daran gedacht. Zufrieden?« Er startete den Motor. »Es war eine Extremsituation.«
Rizzi schaute auf die Uhr. »In zwei Stunden beginnt unser Dienst, dann reden wir weiter.« Ohne eine Antwort abzuwarten, kuppelte er und fuhr los.