Über das Buch:
Jen Gibbs hat es geschafft: Sie hat sich aus einer kärglichen Kindheit in den Blue Ridge Mountains hochgearbeitet und ist nun Lektorin in einem renommierten Verlagshaus in New York. Eines Tages findet sie ein altes Manuskript auf ihrem Schreibtisch. Unweigerlich zieht sie die faszinierende, mysteriöse Liebesgeschichte um Sarra und Randolph, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Appalachen begegnen, in ihren Bann. Doch die Suche nach dem anonymen Autor führt Jen ausgerechnet an die Orte, die sie eigentlich zu vergessen versuchte …
Über die Autorin:
Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.
Kapitel 8
Das Problem bei einer Obsession ist, dass man sie erst bemerkt, wenn sie schon längst von einem Besitz ergriffen hat. Die Suche nach Evan Hall gestaltete sich so, als jagte ich einen Geist. Sein Verlag hatte nichts mehr mit ihm zu tun und alle Kontakte zu seinem Literaturagenten hatte er schon vor Jahren abgebrochen. Das Studio, das die Zeitreisenden-Filme produzierte, hatte aus den neun ursprünglichen Romanen so viele Filme wie möglich gemacht – außer den ersten paar Folgen alle ohne den Segen des Autors –, doch jetzt war auch das vorbei. Evan Hall wohnte immer noch auf seinem Berg über Looking Glass Gap, wo er laut Aussage seines Managers keine Besuche, die mit Geschäftlichem, Büchern und Verlagen zu tun hatten, duldete.
Selbst Jamie hielt mich für verrückt, weil ich diese Sache weiter verfolgte. „Hast du den Verstand verloren?“, hatte sie gefragt, nachdem ich ihr vier Tage lang vorgejammert hatte, dass ich nicht weiterkäme. „Du bist ganz neu bei Vida House und diese Sache, die du da verfolgst, ist ziemlich aussichtslos.“
Ich wusste, dass sie recht hatte, aber diese Geschichte ließ mich nicht mehr los. Sie zehrte auf eine Weise an mir, die ich nicht erklären konnte. Bei der Teambesprechung am Montag konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich konnte mich nur im Raum umsehen und denken: Wer außer mir weiß etwas über Die Hüterin der Geschichten? Wer von diesen Leuten hat mir das Manuskript auf den Schreibtisch gelegt?
Hatte der geheimnisvolle Unbekannte das Rätsel selbst nicht gelöst?
Wollte er nicht wissen, wie die Geschichte weiterging?
„Vergiss die ganze Sache am besten!“, hatte Jamie mich aufgefordert, als wir am Ende eines langen Dienstags gemeinsam zur U-Bahn geschlendert waren. Ich bin deine beste Freundin und gebe dir einen guten Rat. Ich baue auf dich und deine hohe Provision, die du bei Vida House bekommst, damit du mir Geld leihen kannst, falls meine Zeitschrift schließen muss.
Natürlich gab es nichts, das ich für Jamie nicht tun würde, aber im Moment hatte ich selbst Mühe, das nötige Geld für meine Miete zusammenzukratzen. Dazu kam, dass ich am Dienstag in der Post einen Umschlag mit Eselsohren und einem Absender aus Towash, North Carolina, bekommen hatte. Darin waren eine nette Karte und Bilder vom ersten Schultag gewesen. Ich wusste, was das bedeutete: Eine Bitte um Geld würde nicht lange auf sich warten lassen.
Ich bemühte mich, nicht daran zu denken.
Angesichts meines Kontostandes konnte ich mir keine finanziellen Eskapaden erlauben. Ich sollte beruflich auf Nummer sicher gehen, aber ich hatte bereits beschlossen, dass ich das Manuskript wieder mit zu Vida House nehmen würde – jedoch nicht mit der Absicht, es unauffällig auf den Slush Mountain zurückzulegen. Das Positive an meiner Besessenheit von diesem Manuskript war, dass der Brief meiner Schwester und die Schulfotos fast aus meinem Gedächtnis verdrängt wurden. Fast.
Am Mittwochmorgen brach ich sehr früh zur Arbeit auf. Mitch war bestimmt schon im Büro und brütete über ihrem Kriegsbraut-Projekt. Ich musste sie erwischen, solange es im Büro noch ruhig war.
Als ich am Konferenzraum mit dem Papierberg vorbeischritt und in ihr Büro trat, galt meine ganze Konzentration der Hüterin der Geschichten und wie sehr ich dieses Manuskript als Buch gedruckt sehen wollte.
Mitch saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete, als ich ihren Hoheitsbereich betrat. In ihrem Büro sah es aus wie in einer Folge von „Raus aus dem Messie-Chaos“. Jeder freie Platz im Raum war mit Texten zum Korrekturlesen, mit Covervorschlägen, fertigen Büchern, Stapeln von Korrekturfahnen, Vorschlägen und Manuskripten jeder Form und Farbe gefüllt – zusammengeheftet, mit Spiralbindung, zusammengehalten mit Gummibändern oder mit großen Büroklammern – eben so ziemlich allem außer Isolierband. Aber selbst davon gab es wahrscheinlich irgendwo etwas. Der einzige freie Raum war ein schmaler Pfad von der Tür zum Schreibtischstuhl und vom Schreibtischstuhl zu einem Sideboard, das ebenfalls mit Manuskripten belagert war.
Es gab keine Möglichkeit, sich zu setzen, also blieb ich stehen.
Plötzlich waren meine Handflächen schweißgebadet, wodurch sich der Umschlag in meinen Händen anfühlte, als hätte er im Morgennebel gelegen.
Mitch schaute zuerst gar nicht auf. „Ja?“ Sie klang höflich, aber ungeduldig.
„Ich brauche Ihren Rat zu einem Projekt.“
„Ja?“ Ihr Blick war immer noch auf ihren Bildschirm gerichtet. Ich wartete, bis sie mich ansah.
„Auf meinem Schreibtisch ist etwas aufgetaucht …“ Das Blut wich aus meinem Gesicht, als ich die verbotene Ware herausholte, und mir war leicht schwindelig. Ich hörte Jamies Warnungen. Die Menschen auf diesen Seiten werden dich auch nicht retten, wenn du deine Arbeit verlierst. Und eine Stelle wie bei Vida House findest du nie wieder … Wie sollte ich die Sache erklären? Wie konnte ich es ansprechen, ohne zu klingen, als hätte ich den Verstand verloren?
Aber die Besessenheit ließ mich nicht los und wurde immer stärker.
Mitchs Augen zogen sich zusammen und wanderten langsam nach unten, bis sie an dem Umschlag hängen blieben. Bildete ich es mir nur ein oder war da ein Hauch von Wiedererkennen?
„Mitch, ich weiß nicht, wie das in mein Büro kam, das müssen Sie mir glauben. Ich habe es eines Morgens auf meinem Schreibtisch gefunden, aber der Poststempel ist zwanzig Jahre alt. Ich denke, es kommt von …“
Sie hob die Hand, um mich schnell zu unterbrechen. „Moment. Sprechen Sie nicht weiter. Wann genau haben Sie diesen Umschlag gefunden?“
„Ich habe ihn … schon seit ein paar Tagen. Lange genug, um ein wenig zu recherchieren.“
„Warum?“ Ihre Haltung veränderte sich und zeigte, dass sie deutlich auf Distanz ging, während sie mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg anschaute. „Geben wir Ihnen hier nicht genug zu tun?“
„Ich will das Projekt.“
Sie blinzelte. Dann blinzelte sie noch einmal, senkte das Kinn und bedachte mich mit einem überraschten Blick. „Was? Sie wissen, woher das stammt, nicht wahr? Hier im Haus ist nichts zwanzig Jahre alt und steckt noch in einem Umschlag, es sei denn, es stammt vom …“
„Vom Slush Mountain. Ja, ich weiß.“
Mitchs Blick schoss schnell zur Tür hinter mir und wanderte durch das Büro, über dem immer noch die Stille des frühen Morgens lag. Ihre Hand zuckte nervös, dann nahm sie schwungvoll die Brille ab und tippte damit auf die Stuhllehne. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist, aber ich gebe Ihnen einen guten Rat: Bringen Sie es zurück. Sorgen Sie dafür, dass so etwas nie wieder geschieht.“
„Das kann ich nicht“, platzte ich heraus. Der Kopf meiner Vorgesetzten fuhr nach hinten, als hätte ich ihr einen kräftigen Haken mit der Linken versetzt. Ich stammelte weiter: „Es zurückbringen, meine ich. Ich habe ein bestimmtes Gefühl bei der Sache. Ich glaube, ich habe herausgefunden, wer es geschrieben hat. Wenn Sie einfach …“
„Nein! Stopp! Aufhören! Ich will nichts davon hören.“ Sie schwieg einen Moment und ließ mich in der Luft hängen, während sie ihre Gedanken sammelte. „Hören Sie, Jen: Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie die Entscheidung, die Sie jetzt treffen, auf eigene Gefahr treffen. Ich weiß nichts davon. Sie haben mich nicht darauf angesprochen. Und nein, ich will das, was Sie in diesem Umschlag haben, nicht sehen.“ Dann wurde sie weicher und sogar ein wenig mitfühlender. „Ich kann nachvollziehen, dass man sich in ein Projekt verliebt. Sogar blind verliebt. Aber ich rate Ihnen, sich gut zu überlegen, ob es die Sache wert ist.“
Sie wartete, bis ihre Worte zu mir durchdrangen, bevor sie fortfuhr: „Es ist ein Glücksspiel, Jen, und ich bin nicht ganz sicher, was sie dabei zu gewinnen hoffen. Aber falls irgendjemand hier mehr über dieses Manuskript weiß, ist das wahrscheinlich
George Vida. Und falls Ihnen irgendjemand Antworten geben kann, ist das wahrscheinlich auch er. Aber wie ich schon sagte: Überlegen Sie es sich gut. Ich erwarte von Ihnen Großes hier, wenn Sie Ihre eigenen Projekte verwirklichen. Ich bin Ihnen für Ihre Anregungen zur Kriegsbraut dankbar. Sie haben dazu beigetragen, dass es bei der Teambesprechung die richtige Note bekam. George Vida mag Sie. Glauben Sie mir: Er ist nicht zu jedem, der hier anfängt, so freundlich. Aber Sie kennen die Regeln in Bezug auf den Slush Mountain. Ob George Vida Ihnen abkauft, dass dieses Ding einfach auf Ihrem Schreibtisch aufgetaucht ist, weiß ich nicht. Es fällt mir im Moment selbst schwer, das zu glauben, aber … ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum Sie als Neue in unserem Team beschließen sollten, gegen die Regeln zu verstoßen. Sie machen auf mich den Eindruck einer klugen Frau, die weiß, wie dumm das wäre.“
Ich schob den Umschlag in die Aktenmappe zurück. Mir war von Mitchs Bemerkungen ganz unwohl geworden. Sie drehte sich wieder zu ihrem Computer um und gab mir zu verstehen, dass ich ihr Büro verlassen und meine Geheimnisse mitnehmen sollte.
„Danke, dass Sie mir zugehört haben, Mitch.“ Etwas in mir sagte: Sie hat recht. Du weißt, dass sie recht hat. Aber gleichzeitig freute ich mich, dass sie die Tür zu meiner Idee nicht ganz zugeknallt hatte. Sie hatte nur gesagt, dass ich diesen Weg auf eigene Gefahr ginge. „Ich werde es mir noch einmal überlegen.“
„Das würde ich an Ihrer Stelle auch tun. Ich habe Leute gesehen, die von einer Minute auf die andere den Verlag verließen. Das kommt nicht oft vor, aber es kommt vor. Loyalität, Ehrlichkeit, Teamwork. So lautet das Motto von Vida House. Aber George Vida schätzt es auch, wenn jemand einen guten Riecher hat. Die Frage ist, was überwiegt in diesem Fall? Nicht dass ich irgendetwas über diese Sache wüsste! Denn ich weiß nichts davon. Verstehen Sie?“
„Ja, ich verstehe Sie.“
„Falls Sie die Sache weiter verfolgen wollen, würde ich versuchen, George Vida zu erwischen, wenn die Türhüterin nicht da ist.“ Mit der Türhüterin meinte sie natürlich Hollis.
„Danke, Mitch.“
„Danken Sie mir nicht“, murmelte sie. „Vergessen Sie nicht, dass es genauso gut sein kann, dass Sie sich mit dieser Sache Ihr eigenes Grab schaufeln.“
Kapitel 9
Das Flugzeug wackelte und ruckelte wegen einiger Luftturbulenzen. Die Bewegungen weckten mich, kurz bevor der Pilot verkündete, dass wir bald landen würden. Ich blinzelte verschlafen und hätte schwören können, dass ich Freitag knurren hörte. Doch dann erinnerte mich die Ansage des Piloten daran, dass ich inzwischen weit weg von zu Hause war. Ich konnte mich nicht genau an den Grund für meine Reise entsinnen, aber er war im Moment nicht wichtig. Ich wollte einfach noch ein wenig schlafen …
Ich ließ die Augen zufallen und griff nach einer Erinnerung, die, wenn auch nur verschwommen, in meinem Kopf kreiste. Etwas an den Geräuschen und Bewegungen des Flugzeugs erinnerte mich an eine Fahrt in einem wackeligen, quietschenden Wagen über eine holprige Straße. In Gedanken wanderte ich zurück und zurück und immer weiter zurück. Zurück zur Fahrt in einem verrosteten, alten roten Bollerwagen, in dem wir zu viert saßen und einen holprigen Abhang hinuntersausten. Dürre Gliedmaßen und nackte Füße ragten überall heraus.
Lachen und fröhliches Kreischen erscholl. Marah Dianes hohe Stimme übertönte alles andere. Ihre braunen Haare peitschten um Joeys Babygesicht mit den runden Wangen. Und dann fuhren wir plötzlich über einen großen Stein, die Lenkung wurde herumgerissen und es folgte ein wildes Durcheinanderpurzeln. Körper flogen in hohem Bogen in alle Richtungen. Ich sah Schnittwunden, Kratzer, Blut, Tränen. Mama kam aus dem Containerhaus gelaufen und hob im Laufen den Rock über ihren langen, gut geformten Beinen hoch, die sonst nie das Tageslicht sahen, da das nicht erlaubt war.
Das Flugzeug flog holpernd durch die widrigen Luftströmungen und warf dabei meinen Kopf so heftig nach vorne, dass ich endgültig aufwachte. Ich drückte mich wieder nach hinten in den Sitz und kehrte zu der Erinnerung zurück.
Marah Diane stand auf, deutete mit dem Finger auf ihren Bruder und hielt sich das Knie. Joey lag wie eine Puppe im Graben und schrie wie am Spieß, aber er hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen.
„Du bist schuld! Das war deine Idee!“ Marah Dianes Stimme war schrill und scharf wie die hartnäckigen Rufe der Pieper-Waldsänger, die die Stille der Bergluft durchschnitten. Petzen nannten wir diese Vögel, weil sie immer teacher, teacher – Lehrerin, Lehrerin – zu rufen schienen. Ich hasste diese Stimmen: die der Pieper-Waldsänger und die von Marah Diane. Zwischen Marah Diane und mir herrschte ein ständiger Schwesternkampf. Da wir vier Kinder wie die Orgelpfeifen waren, jeweils zwei Jahre auseinander, kämpften wir immer miteinander um Platz und Raum, aber Marah Diane und ich waren am schlimmsten.
Als der Wagen umkippte, galt meine größte Sorge Joey. Er war etwas Besonderes, da er ein Junge war. Solange ich mich erinnern konnte, hatte ich mich immer um das jüngste Kind kümmern müssen. Meine Mutter begann erst jetzt wieder damit, auf uns Kinder zu achten.
Mama lief zuerst zu Joey, an Marah Diane und ihrem aufgeschürften Knie vorbei. Coral Rebecca lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße, unter den dichten weißblonden Haaren vergraben, die ihr ihren ungewöhnlichen Namen beschert hatten. Sie sparte sich die Energie zu weinen. Mit ihren dreieinhalb Jahren rollte sie sich einfach herum, setzte sich auf und betrachtete den angerichteten Schaden. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das war aber gar nicht so leicht, da sie wegen ihrer Haare überall Aufmerksamkeit erregte.
„Es war deine Schuld!“, rief Marah Diane wieder, die es eilig hatte, einen Schuldigen zu finden.
„Niemand ist daran schuld.“ Mama rettete Joseph John aus dem Graben, sah nach, ob er verletzt war, und drehte sich dann mit einem erleichterten Seufzen zu uns anderen herum. Joey hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen. Er war von der Straße geflogen, ohne sich zu verletzen, da er leichter und aerodynamischer war als wir anderen.
Aerodynamisch. Dieses Wort hatte ich erst eine Woche zuvor in der dritten Klasse in Towash gelernt. Wir hatten über die Apolloflüge zum Mond gesprochen. Es erschien unmöglich, dass Menschen auf dem Mond gestanden hatten, noch bevor ich geboren wurde. Der Mond erschien von den Bergen North Carolinas aus so klein.
„Kommt, wir bringen das wieder in Ordnung. Es ist ja nichts Schlimmes passiert.“ Mama stand mit Joey in den Armen da, nahm Marah Diane an der Hand und schaute sie mit ihren sanften, tröstenden Augen an. Ich hatte das im Laufe der Jahre vergessen: Wie sanft sie gewesen war und dass sie nichts von dem verriet, was zu Hause schiefgelaufen war, während Papa auf den Feldern arbeitete, im Wald die Coonhounds für die Waschbärenjagd abrichtete oder sich irgendwo als Tagelöhner verdingte – falls es Arbeiten gab, die er annehmen konnte. Denn der Sohn eines Diakons der Heiligen Brüder von Lane’s Hill durfte nicht einfach irgendeine Arbeit verrichten. Ich war damals stolz darauf gewesen, dass mein Großvater eine besondere Stellung in der Gemeinde innehatte.
Ich war auch stolz darauf gewesen, dass meine Mutter mit ihren dunklen Haaren und leuchtenden Augen sehr schön war. Über ihre Schönheit war sogar in der Gemeinde geflüstert worden, obwohl das nicht gerne gesehen wurde, weil die Schönheit einer Frau nur dazu diente, einen Mann zur Sünde zu verführen. Genauso, wie meine Mutter nach Ansicht der Gemeindeglieder meinen Vater verführt hatte. Er hatte eine Frau geheiratet, die nicht aus der Gemeinde der Heiligen Brüder stammte, was sehr kritisch gesehen worden war und ihm wahrscheinlich den Weg versperrt hatte, jemals Diakon zu werden. Die Ehe war zwar geduldet worden, da meine Mutter in die Gemeinde eingetreten war. Dennoch war immer deutlich betont worden, dass ihre Ehe unrein wäre und dass auch Mama selbst unrein sei.
Das Flugzeug setzte zum Landeflug an und riss mich unsanft aus meinen Erinnerungen. Von meiner Mutter waren so wenige Erinnerungen übrig geblieben, dass mir ein Blick auf jene Jahre wie ein Porträt erschien, aus dem einzelne Teile herausgeschnitten worden waren. Es war frustrierend. Und ein wenig beunruhigend.
Warum setzt eine Frau sechs Kinder in die Welt und verschwindet dann, ohne ein Wort zu sagen, und lässt nie wieder etwas von sich hören? Auf diese Frage wusste ich immer noch keine Antwort. Ich hatte es vor Jahren aufgegeben, meine Mutter zu suchen oder sie verstehen zu wollen.
Meine Augen waren trocken und schwer und ich brauchte eine Weile, bis ich klar sehen konnte. Ich hörte Freitag wieder knurren, als das Flugzeug über die Landebahn rollte. Etwas bewegte sich neben meinem Fuß und ein kurzes Kläffen ließ mich in die Höhe fahren. Ich schaute nach unten und sah Freitag, der in der gepolsterten Transportbox unter dem Sitz saß. Ich hatte sie mir in einem Anflug von Verzweiflung in letzter Minute von Jamies Mutter ausgeliehen, nachdem ich niemanden gefunden hatte, der sich für ein paar Tage um den Hund kümmern konnte.
Schlagartig erinnerte ich mich an alles: mein Gespräch mit
George Vida, der auf meine Theorie in Bezug auf Evan Hall mit Skepsis, aber auch mit Interesse reagiert hatte. Der Chef hatte mir das Manuskript aus den Händen genommen, um sich selbst ein Bild zu machen. Am nächsten Morgen schon hatte Hollis die Dienstreise für mich gebucht und noch am selben Tag wurde ich auf eine Art Zeitreise geschickt, zurück an den Ort, an den ich nie hatte zurückkehren wollen. In die Blue Ridge Mountains mit ihren schmerzlich schönen Bergen und Tälern, den vertrauten Geräuschen und Gerüchen und den abgelegenen Orten, in denen eine unbeschreibliche Not herrschte.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich zwei Dinge gelernt: Erstens, wenn George Vida etwas wollte, scheute er keine Kosten und Mühen, um es zu bekommen. Er wollte wissen, ob dieses Manuskript von Evan Hall war, und falls es von ihm war, wollte er es haben. Zweitens, kleine Hunde sind bei vielen Flügen in einer Transportbox erlaubt, solange die Box unter den Sitz passt. Das ist keine große Sache. Meine Mutter macht das ständig, hatte Jamie beharrt. Nimm ihn einfach mit. Ich bringe dir sogar ihre Transportbox für den Hund. Das war ihre Art, mit ihren Schuldgefühlen umzugehen, weil sie nicht hatte einspringen wollen, als klar wurde, dass die Kinder auf dem Gang nicht auf Freitag aufpassen konnten. Jamies Schwester hatte einen Hochzeitstermin festgelegt und sie planten, am Wochenende Kleider kaufen zu gehen.
Und so waren Freitag und ich gemeinsam zu dieser Reise aufgebrochen, die uns tausend Meilen von zu Hause fortbrachte. Völlig ungleiche Partner, die auf Gedeih und Verderb zusammenhalten mussten. Freitag war alles andere als begeistert.
Ich hörte ein verdächtiges Geräusch und es wurde schnell klar, dass Freitag gerade etwas von sich gegeben hatte, das auf beengtem Raum mit vielen Menschen unentschuldbar ist.
„Igitt!“, kreischte das kleine Mädchen vor mir. „Mama, er hat es wieder gemacht.“
Die Mutter warf einen finsteren Blick zwischen den Sitzen nach hinten, während sie aufstand und es nicht erwarten konnte, aus dem Flugzeug zu stürmen, sobald sich die Türen öffneten.
Schamesröte zog an meinem Hals hinauf und meine Ohren glühten.
„Was geben Sie diesem Tier zu fressen?“ Der Mann Mitte dreißig auf der anderen Seite des Ganges verzog scherzhaft das Gesicht. Wir hatten uns ein wenig unterhalten, bevor ich eingeschlafen war. Er flog nach Kitty Hawk, um bei einer Strandhochzeit seine Jugendliebe zu heiraten. Eine wunderbare Geschichte.
„Tut mir leid. Freitag kommt nicht viel aus dem Haus.“
„Den Grund dafür kann ich mir denken“, grinste er, dann hielt er die Schlange auf dem Gang hinter sich auf, damit ich Freitags Box unter dem Sitz herausziehen konnte.
Freitag knurrte, erneut stieg ein widerlicher Lufthauch nach oben und das Kind auf dem Nachbarplatz stöhnte: „Ich will hier raus!“
Jamie könnte etwas erleben! Aus ihrem Mund hatte es so einfach geklungen, den Hund im Flugzeug mitzunehmen, fast, als wäre es ein lustiges Abenteuer für Hund und Besitzer. Aber bei Freitag war nichts einfach.
Mein Sitznachbar berührte mich am Arm. „Hey, vergessen Sie Ihre Aktentasche nicht.“
Ich warf einen erschrockenen Blick auf meine Tasche, packte sie und hängte sie mir über die Schulter. Meine Nerven lagen heute blank. Die Gründe dafür steckten in dieser Aktentasche. Der eine Grund war das angefangene Manuskript von Die Hüterin der Geschichten und der andere ein zweiter Umschlag von Coral Rebecca. In diesem Umschlag steckten keine Schulfotos und netten Grußkarten. Ich hatte noch nicht einmal den Mut aufgebracht, ihn aufzumachen, sondern ihn nur in meine Aktentasche gesteckt und mitgenommen.
Ich fühlte seine erdrückende Last, während ich den Gang entlangging. Meine Schwester hatte keine Ahnung, dass ich soeben nur wenige Stunden von zu Hause gelandet war. Ich war auch immer noch nicht sicher, ob ich es ihr sagen wollte. Es wäre viel leichter, einfach zu kommen und zu gehen und nie ein Wort darüber zu verlieren.
Ich dachte über diese Möglichkeit nach, während ich Freitag und mein Gepäck durch den langen Gang schleppte.
Der Flughafen in Charlotte hatte sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Allerdings erschien er mir jetzt viel kleiner. Als ich nur einen Tag nach meinem Collegeabschluss in Clemson nach New York City aufgebrochen war, hatte der Flughafen riesig gewirkt. Ich war damals das erste Mal in einem Flugzeug und sogar in einem Flughafen gewesen.
Wilda hatte mir genaue Anweisungen gegeben, bevor ihr Sohn, Richard, meine Reisetasche – meinen ganzen Besitz – aus dem Kofferraum geholt und sie mir vor dem Eingang zum Flughafen gereicht hatte. Ich hatte innerlich eine Todesangst ausgestanden, war aber äußerlich so still gewesen wie ein kalter Wintermorgen. Clemson war eine Sache, aber New York war mir damals wie die andere Seite der Erde erschienen. Ich hatte zu Wildas großem Haus am Honey Creek laufen wollen. Mein Versteck. Meine Zuflucht.
Aber ich wusste, dass sie das nicht zulassen würde. In meinen drei Jahren in Clemson hatte sie nur einmal angeboten, mich nach Hause zu holen. Nur für die Beerdigung meines kleinen Bruders. Mehr hätte ich nicht verkraftet. Joey hätte nicht mit dreizehn Auto fahren sollen, aber er hatte es getan, und dann war er tot gewesen. Meine Großmutter hatte mir Vorwürfe gemacht. Sie hatte geschimpft, dass das nicht passiert wäre, wenn ich da gewesen wäre und auf ihn aufgepasst hätte.
Danach hatte es Wilda für besser gehalten, dass ich Abstand zu meiner Familie hielt. Damit hatte sie zweifellos recht gehabt. Meine Familie hatte sich nicht für meinen Collegeabschluss oder meine Pläne interessiert zu studieren und in New York ein Praktikum bei einem Verlag zu machen. Niemand aus Lane’s Hill hatte es für nötig gehalten, sich von mir zu verabschieden, aber Wilda hatte mit zitterndem Kinn vor dem Flughafen gestanden, als ich allein in die große Halle gegangen war.
Ich konnte sie auch jetzt noch im Geiste dort stehen sehen, mit Richard an ihrer Seite, der unbeholfen mit seinem guten Arm gewinkt hatte, bis ich durch die Türen verschwunden war. Plötzlich wünschte ich mir, dass sie draußen stehen und auf mich warten würden, um mich bei meiner Rückkehr zu begrüßen.
Sie waren natürlich nicht da.
Richard ist wahrscheinlich inzwischen auch schon gestorben. Dieser Gedanke beschäftigte mich, während Freitag und ich uns unseren Weg zum Mietwagenschalter bahnten. Richard hatte schon damals gesundheitliche Probleme gehabt. Da Wilda nur ein halbes Jahr, nachdem ich nach New York gegangen war, gestorben war, hatte ich keine Ahnung, was aus ihrem Haus, den Gärten und dem Obstgarten geworden war. Wahrscheinlich gehörten sie jetzt jemand anderem.
Die Realität holte mich ein, als ich am Schalter für die Mietautos stand und dem Mitarbeiter die Papiere reichte, die mir Hollis mitgegeben hatte.
„Ach, Sie wollen nach Looking Glass Gap.“ Er zog das letzte Wort unnatürlich in die Länge und schaute mich mit hochgezogener Braue an. „Sie wollen ins Kriegerlager? Dazu haben Sie aber viel zu wenig Gepäck. Wo ist Ihr Kostüm?“
„Ich glaube, ich habe es an.“ Meine verständnislose Miene entlockte ihm ein Lachen.
„Sie schreiben also nur für die Presse über die Kriegerwoche?“ Er unterstrich seine Vermutung mit einem Kopfnicken.
„Krieger … was?“
Er stützte die Hände theatralisch auf die Theke. „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nicht so aussehen, obwohl man das natürlich nie genau sagen kann. Ganze Familien kommen hier durch. Väter, Mütter, kleine Kinder. Manchmal tragen sie ihre Kostüme schon hier im Flughafen. Manchmal bleiben sie inkognito, bis sie zum Looking Glass Lake kommen. Aber meistens habe ich einen guten Blick für die Zeitreisenden. Es ist Kriegerwoche. Eine ganze Woche lang ist ein großes Lager aufgebaut. In jedem Frühling und Herbst. Fantreffen. Einige glauben wirklich, sie bräuchten keinen Rückflug zu buchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn Sie nur zu einem ruhigen Urlaub hier sind, sollten Sie Ihre Reisepläne vielleicht ändern und etwas anderes buchen. Vielleicht den Pisgah-Nationalforst oder die Highlands? Übrigens, möchten Sie gegen einen kleinen Aufpreis nicht lieber ein Auto mit Allradantrieb? Man weiß um diese Jahreszeit nie, wie das Wetter wird und welche Straßenverhältnisse einen erwarten.“ Er bewegte eine Hand vage durch die Luft und deutete auf irgendeine Bergstraße in weiter, weiter Ferne.
Ich merkte, wie mein Lächeln langsam erlosch. Ich hatte ausgerechnet eine Woche erwischt, in der ein großes Fantreffen stattfand? Hollis hatte diese Reise gebucht. Sie hatte erwähnt, dass die Hotels voll seien und sie die letzte Hütte in der ganzen Stadt, draußen am Looking Glass Lake gebucht habe. Kein Wunder, dass sie kein anderes Zimmer gefunden hatte! In Looking Glass Gap herrschte wahrscheinlich Chaos und die ganze Stadt platzte vor Zeitreisenden-Fans aus allen Nähten.
Das war mit Abstand die ungünstigste Zeit, um Evan Hall sprechen zu wollen. Er hatte sich bestimmt auf seinem Familienanwesen außerhalb der Stadt verschanzt, um dem Massenansturm zu entfliehen, während Reisebusse vor seinem Tor standen und unermüdliche Fans hofften, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der diese ganze Welle ins Rollen gebracht hatte. Ich hatte ein paar Fotos in Fan-Blogs im Internet gesehen.
„Oh, Mann! Das ist nicht gut.“ Meine Chancen, hier etwas zu erreichen, lagen wahrscheinlich bei null. Ich hätte einen klareren Kopf behalten sollen, als George Vida mich losschickte. Ich hätte um eine oder zwei Wochen Zeit bitten sollen, um die Situation genauer auszuloten und eine Strategie zu entwickeln. Aber ich hatte befürchtet, dass er seine Meinung ändern würde. Oder dass ich meine Meinung ändern würde. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde einer von uns sicher zur Vernunft kommen.
„Ich dachte, das große Treffen wäre immer im Frühling.“ Meine Panik wuchs. Von dieser Dienstreise hing so viel ab. Wie konnte ich zu George Vida zurückkehren und ihm gestehen, dass ich absolut nichts erreicht hatte?
„Im Frühling ist die Wilde Woche. Im Herbst die Kriegerwoche. Sie beginnt immer am dritten Donnerstag im Oktober. Jedes Jahr“, klärte mich der Mann auf.
Das Manuskript fühlte sich plötzlich an wie ein tanzendes Nilpferd, das an meine Schulter gekettet war.
„O-kay. Okay …“ Denk nach, denk nach! Ich ließ meinen Blick über den Gang des Flughafens wandern und bemerkte plötzlich einen Freibeuter aus dem achtzehnten Jahrhundert, der einen Umhang und Stiefel, die bis über die Knie reichten, aus seiner Reisetasche holte und die Sachen anzog. Ein Stück weiter glaubte ich, Abraham Lincoln und seine Frau Mary Arm in Arm zur Tür hinausgehen zu sehen.
„Soll ich Ihnen vielleicht die Angebote unserer Partnerhotels heraussuchen? In einer anderen Stadt?“ Der Angestellte rümpfte die Nase und schnupperte. „Was riecht hier so?“
Freitag, der neben meinem Gepäck stand, machte sich wieder bemerkbar.
„Keine Ahnung.“ Wo war die gute Fee mit dem Zauberstab und den Glaspantoffeln, wenn ich sie brauchte? Sie hätte Freitag in ein Wesen mit guten Umgangsformen verwandeln können. Zum Beispiel in einen Lakaien. „Ich nehme das Auto, das für mich reserviert wurde. Wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit dort sein will, sollte ich jetzt fahren.“
Der Mann reichte mir meine Papiere. „Dann viel Glück! Einen schönen Aufenthalt in Looking Glass Gap!“