Über das Buch:
Eigentlich wollte Mark Wallace nur einem reichen Farmer ein Pferd überbringen. Doch dann haben er und sein Begleiter Jonah Brooks plötzlich die Verantwortung für ein Neugeborenes. Bei der Suche nach einem Zuhause für das Baby begegnet Mark ausgerechnet der Frau, die er vor zehn Jahren beinahe geheiratet hätte.
Katherine Palmer hat sich mit ihrem Schicksal als unverheiratete Frau abgefunden. Voller Hingabe widmet sie sich Kindern, die kein Zuhause haben. Dazu hat sie zusammen mit Eliza Southerland das »Harmony House« gegründet. Sie ahnt nicht, was auf sie zukommt, als Mark vor ihrer Tür steht.
Eliza hat viel hinter sich und weiß, wie es sich anfühlt, ein Außenseiter zu sein. Als der schweigsame Jonah im »Harmony House” auftaucht, ist sie von seinem Mut und seiner Freundlichkeit beeindruckt. Aber was verbirgt sich hinter seinem stillen Wesen? Welches dunkle Geheimnis umgibt ihn? Und wird sie den Mut aufbringen, das herauszufinden?
Über die Autorin:
Für diejenigen, die beim Lesen gerne lächeln, bietet Bestsellerautorin Karen Witemeyer warmherzige historische Romanze mit einem Gespür für Humor, temperamentvolle Heldinnen und Helden. Sie wurde 2019 vom Family Fiction Magazine zur Nr. 1 der beliebtesten christlichen Romanautoren gewählt. Sie ist eine mehrfach preisgekrönte Autorin und glaubt fest an die „Macht“ des Happy Ends. Sie ist eine begeisterte Kreuzstickerin, Teetrinkerin und Gospel-Sängerin. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Texas.
Kapitel 7
Es dauerte dreißig Minuten, bis sie die Einfahrt zum Haus von Georgia Harris erreicht hatten, genug Zeit für Eliza, den Mann an ihrer Seite genau einzuschätzen. Unter normalen Umständen jedenfalls. Aber Jonah Brooks passte so gar nicht in das Bild, das sie sich von Männern gemacht hatte. Leider hatte er kaum etwas gesagt, seit sie Harmony House verlassen hatten, was die Beurteilung natürlich erschwerte. Und diese Tatsache machte sie nervös. Sie musste erst seinem Charakter auf den Grund gehen, bevor sie es schaffte, mit ihm zurechtzukommen.
Aufgewachsen im Süden, ausgebildet im Norden und nach einem eigenständig aufgebauten Leben im Westen hatte Eliza ihr Urteil über Männer bis ins Detail verfeinert und herausgefunden, dass sie die meisten in eine von drei Schubladen stecken konnte.
Die Herrentypen waren davon überzeugt, dass sie die volle Macht hatten. Widersprüche weckten den Tyrannen in ihnen. In ihrer Gegenwart musste man klug agieren, den einen oder anderen Hinweis geben, während man eine Maske der Unterwerfung aufsetzte, damit sie glaubten, dass eine Idee, die man ihnen überstülpte, tatsächlich die ihre sei.
Intellektuelle Typen waren emotionalen Bitten gegenüber unempfänglich und deshalb durfte man ihnen nur mit logischen Argumenten kommen. Noch besser war es, wenn eine Frau ihre Argumente mit Dokumenten belegen konnte, die von einem Mann stammten – Zitate eines Philosophen, Wissenschaftlers oder Historikers hatten sich als am effektivsten erwiesen.
Der Rettertyp fühlte sich stark und brauchte das Gefühl, dass die Frauen in seiner Umgebung auf ihn angewiesen waren. Unabhängige Frauen bedeuteten eine Bedrohung für seine Männlichkeit. Um mit diesem Typen umzugehen, musste man die eigene Stärke verbergen und an die Fähigkeiten und den Beschützerinstinkt des Mannes appellieren. Dieser Typ war empfänglich für emotionales Verhalten – vor allem für Tränen –, doch Eliza hatte bisher nie den Mut, geschweige denn die Fähigkeiten gehabt, jemanden auf diese Weise zu manipulieren.
»Ist das die Einfahrt?«, fragte Mr Brooks und zeigte auf einen überwachsenen Pfad zwanzig Yards vor ihnen.
Wie hatte er diese Einmündung nur so früh entdecken können? Sie selbst kannte diese Stelle nur, weil sie regelmäßig bei Georgia war. Die grasbedeckten Fuhrrillen waren tatsächlich kaum zu sehen und die meisten Menschen fuhren an der Einfahrt vorbei, wenn sie das erste Mal hier waren.
Eliza beäugte Mr Brooks interessiert, während sie das Baby im Arm hielt. »Ja, hier ist die Einfahrt.«
Er nickte und verfiel wieder in Schweigen.
Eigentlich hatte sie Mr Brooks sofort in die Schublade Rettertypen gesteckt, da er darauf bestanden hatte, sie zu eskortieren, und weil er auch den Wagen für sie angespannt hatte. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte er lange gezögert, bis er ihr mit den Ponys geholfen hatte, und es sie erst einmal allein versuchen lassen. Außerdem hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er sie aus einem gewissen Pflichtgefühl dem Baby gegenüber begleitete und nicht weil er befürchtete, sie könne als Frau nicht mit dem Wagen umgehen.
Seine reservierte Haltung gab einem das Gefühl, dass er es vorzog, eine Sache erst gründlich zu durchdenken, bevor er darüber sprach, was bedeuten konnte, dass er auch Charakterzüge des intellektuellen Typs hatte. Andererseits passte seine natürliche Autorität mehr zu dem Herrentypen. Als er gesagt hatte, er würde sie begleiten, hatte sie sofort erkannt, dass er keinen Widerspruch dulden würde. Trotzdem hatte er sie nicht bedrängt oder sie irgendwie eingeschüchtert.
Ganz abgesehen davon war er einer der Reiter, um Himmels willen. Ein erfahrener und versierter Kämpfer. Aus gutem Grund. Doch er war nicht der Anführer der Gruppe. Was bedeutete, dass er anderen das Kommando überlassen konnte. Zumindest anderen Männern. Ob er sich einer Frau beugen würde, musste sich noch herausstellen.
Sie nutzte noch weitere Unterkategorien: Gauner, Feigling, Charmeur. Mr Brooks passte definitiv zu keiner dieser Beschreibungen. Dann gab es noch den anständigen Typ. Freundlich, höflich und immer bereit, eine helfende Hand anzubieten. Den anständigen Typ musste man nicht manipulieren, mit ihm kam man gut zurecht, doch das machte ihn häufig auch schrecklich langweilig. Jonah Brooks war jedoch alles andere als langweilig. Es gab eine Rauheit an ihm. Und dann erst seine Augen. Sie ließen Geheimnisse vermuten, die faszinierten und dazu einluden, sie genauer zu erforschen. Gleichzeitig warnten sie auch davor, auf Abstand zu bleiben.
Mr Brooks schnalzte mit der Zunge und lenkte die Ponys mühelos auf den zerfurchten Pfad, der sie zu ihrem Ziel führen würde. Bessie und Tessie reagierten auf ihn wie zwei verliebte Schulmädchen, die den Neuen in der Stadt beeindrucken wollten. Nicht das kleinste Anzeichen von Sturheit war zu bemerken, als er den Wagen um die Kurve lenkte, anders, als wenn Eliza es tat. Normalerweise brauchte sie zwei oder drei Versuche, um das Gespann von der Straße ins hohe Gras zu lenken. Es hatte den Anschein, als würden sich Bessie und Tessie sogar von einer Klippe stürzen, wenn Mr Brooks die Zügel in den Händen hielt.
In diesem Augenblick wandte er sich ihr zu, genau als ihr Groll am größten war. Er sagte nichts. Weder mit Worten noch mit seinem Gesichtsausdruck. Kein zufriedenes Grinsen, kein Anzeichen von Überlegenheit. Keine Augenbraue, die er überheblich hochzog. Nicht einmal ein höfliches Lächeln, um sie zu beruhigen. Nur ein kurzer, nichtssagender Blick, der ihre Neugier auf ein fast unerträgliches Maß steigerte.
Warum interessierte sie sich so sehr für das Innenleben dieses Mannes? Er war ein Fremder, der in ein paar Stunden seines Weges ziehen und sich nie wieder bei ihr blicken lassen würde. Sie sollte ihn einfach ignorieren und sich auf das Baby konzentrieren, das der Grund für diese Fahrt war.
Eliza richtete sich gerade auf, wandte den Blick nach vorne und wollte sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrieren. Nur dass die Aufgabe friedlich in ihrem Arm schlummerte und gar nicht ihre Aufmerksamkeit brauchte. Sie konnte ihren Gedanken weiter freien Lauf lassen. Warum nur kreisten sie ständig um den Mann, der wenige Zoll von ihr entfernt auf der Bank saß?
Stoisch. Unergründlich. Frustrierend patent. Und viel zu gut aussehend. Nicht dass das Äußere eines Mannes irgendetwas zu bedeuten hatte. Der Charakter war der wahre Maßstab für den Wert eines Mannes. Nur hatte sie bisher noch keinen getroffen, der dabei nicht schlecht wegkam. Ihren Vater eingeschlossen. Trotzdem, ein gut aussehendes Gesicht mit starker Kieferpartie, breite Schultern und ein undurchdringlicher Blick, der neugierig machte, konnten schon eine große Ablenkung bedeuten. Selbst für jemanden wie sie, die es eigentlich besser wusste, als sich durch solch bedeutungslose Oberflächlichkeiten beeindrucken zu lassen.
Mädchen, reiß dich zusammen.
»Was haben Sie gesagt?«
Du liebe Zeit. Hatte sie das etwa laut vor sich hingemurmelt?
Mr Brooks hatte ihr seine viel zu interessanten Augen wieder zugewandt. Eliza wollte ihm aber nicht die Oberhand überlassen. Und einschüchtern würde er sie auch nicht. Er nicht. Und auch sonst niemand.
Sie zwang sich, das Herzklopfen zu ignorieren, und setzte ein Lächeln auf, während sie auf das Haus zeigte, das vor ihnen zwischen den Bäumen aufgetaucht war. »Wir sind gleich da.«
Er hielt ihren Blick einen Moment gefangen, gerade lange genug, um ihr zu bedeuten, dass er sich von ihrem Themenwechsel nicht zum Narren halten ließ. Doch er bohrte nicht weiter nach. Und wirkte auch nicht selbstgefällig, misstrauisch oder amüsiert. Er nickte einfach nur und lenkte den Wagen in Georgias Hof.
Warum passte dieser Mann in keins ihrer Muster? Und warum faszinierte er sie so? Konnte er damit nicht einfach aufhören?
Als er den Wagen anhielt und herumkam, um ihr beim Aussteigen zu helfen, ließen sein selbstsicherer Schritt, seine starken Arme und der durchdringende Blick in seinen braunen Augen nichts Gutes ahnen. Sie befürchtete, dass Jonah Brooks kein Mann war, den man so einfach in eine Schublade stecken konnte. Und das bedeutete, dass sie ihn so schnell wie möglich wieder loswerden musste.
* * *
Jonah wollte Miss Southerland samt Baby vom Wagen heben, doch anscheinend hatte die widerspenstige Frau andere Pläne. Sie reichte ihm den Säugling, drehte sich entschlossen um und kletterte allein herunter. Was vollkommen in Ordnung gewesen wäre, hätte er auch nur die geringste Ahnung gehabt, wie man ein Baby hielt. Hände, die sich eigentlich um die Taille einer Frau hatten legen wollen, umfassten stattdessen ein winziges Bündel, wodurch er das arme Ding hielt, als sei es ein Laib Brot.
Die Kleine riss die Augen auf. Nach einem kurzen, grimmigen Blick verzog sie das Gesicht und fing an zu schreien. Jonah zuckte zusammen.
Nicht fallen lassen. Nicht fallen lassen. Nicht fallen lassen.
Er hatte Angst, sich zu bewegen, und streckte das Baby auf Armeslänge von sich, hoffte, Miss Southerland würde sich beeilen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie heruntergeklettert war. Als sie sich zu ihm umdrehte, hätte er schwören können, Belustigung in ihrer Stimme zu hören, doch er wagte es nicht, seine Augen von dem Baby zu wenden.
»Und, haben Sie in Ihrem Leben schon viele Babys gehalten, Mr Brooks?«
»Das ist das erste«, murmelte er.
Er hasste es, vor dieser dynamischen und tüchtigen Frau so schrecklich inkompetent zu wirken, doch wenn ihre Fassade, die sie auf dem Weg hierher aufrechterhalten hatte, dadurch Risse bekam, dass er sich gründlich vor ihr blamierte, war es ihm nur recht.
»Das hätte ich jetzt gar nicht gedacht.«
Warum machte sie sich über ihn lustig, anstatt endlich das Kind aus seinen ungeschickten Händen zu retten? War das nicht ihr Job? Kinder retten?
Jonah drehte sich um und hielt ihr das Baby mit ausgestreckten Armen entgegen. »Hier.«
Er wagte es, den Blick kurz von dem Baby loszulösen, und sah den amüsierten Blick in ihren Augen.
»Auf gar keinen Fall. Ich habe sie die ganze Fahrt über gehalten.« Sie streifte an ihm vorbei und hielt lange genug inne, um ihm gönnerhaft den Rücken zu tätscheln. »Jetzt sind Sie an der Reihe.«
Er blickte das Baby an. Dann Miss Southerland. Dann wieder das Baby, dessen Schreien seine Panik noch größer werden ließ.
»Warten Sie!«
Sie warf einen Blick zurück zu ihm, ging jedoch unbeirrt weiter. »Was haben Sie mir vorhin gesagt? Der Allmächtige hat Sie damit betraut, sich um dieses Baby zu kümmern?« Ihre Lippen zuckten. »Ich will mich auf keinen Fall in Ihren göttlichen Auftrag einmischen.« Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht zu dem Säugling, der mit seinen kleinen Füßchen so strampelte, dass sich die Decke löste. »Ich bin mir sicher, Sie haben alles« – ihre Blicke trafen sich wieder – »unter Kontrolle.«
Ihr Rock bauschte sich auf, als sie kehrtmachte und davonging.
Jonah beäugte das Baby. »Sie glaubt, dass wir zwei das nicht schaffen«, murmelte er und plötzlich empfand er ein Gefühl von Entschlossenheit. »Dann beweisen wir ihr doch einfach das Gegenteil.«
Als hätte die Kleine ihn verstanden, hörte sie auf zu strampeln und musterte ihn.
Eine Teamplayerin. Sehr gut.
Vorsichtig schob er seine Hand unter ihr Köpfchen und legte sie sich der Länge nach auf den Unterarm, dann drückte er sie an sich wie einen sehr leichten Sack Kartoffeln und marschierte Miss Southerland hinterher. Er machte lange Schritte und zog an ihr vorbei, bevor sie die Veranda erreicht hatte. Doch sie wollte sich scheinbar nicht von ihm überholen lassen und beschleunigte ebenfalls ihren Schritt, sodass sie das Haus gemeinsam erreichten. Diesen Wettlauf hätte er gern für sich entschieden, doch am Ende siegte seine Höflichkeit. Am Fuß der Verandatreppe blieb Jonah stehen, drehte sich zur Seite und bedeutete Miss Southerland, dass er ihr den Vortritt ließ.
Sie funkelte ihn an.
Dann, ganz plötzlich, war ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt, als sie nicht auf die Treppe hochging, sondern auf ihn zutrat. Sie stand so dicht vor ihm, dass er ihren Duft wahrnehmen konnte. Rosen. Vielleicht von ihrer Seife? Egal, jedenfalls war er abgelenkt. Und plötzlich fielen ihm ihre geschwungenen Hüften auf. Und ihr roter Mund und die vollen Lippen. Was war nur mit ihm los? Sie lächelte ihn nicht an, aber sie wirkte auch nicht mehr so missbilligend. Eher verwirrt. Was würde geschehen, wenn er sie einfach …?
Konzentrier dich auf deinen Auftrag, Brooks.
Im gleichen Augenblick griff Miss Southerland nach Sarah und nahm sie ihm ab. Im Gegensatz zu ihm hatte sie nur ihre Aufgabe im Sinn. Doch als die Haustür mit einem lauten Knarren geöffnet wurde, trat eine Röte auf ihre Wangen und sie zuckte vor ihm zurück.
Vielleicht hatte sie sich doch nicht nur auf ihre Aufgabe konzentriert.
»Eliza Southerland.« Eine untersetzte Schwarze mit Silbersträhnen im Haar trat auf die Veranda. Ihre Augen strahlten fast genauso hell wie ihre gelbe Schürze, die sie über einem grauen Kleid trug. »Hast du dir etwa einen Mann geangelt, ohne mir etwas davon zu sagen? Schäm dich, Mädchen. Und wie unglaublich gut er aussieht!«
Miss Southerlands Wangen waren jetzt dunkelrot. Jonah verbiss sich ein Grinsen.
»Ich habe mir keinen Mann geangelt, Miss Georgia«, widersprach sie mit einer hochmütigen Stimme, die einer Queen alle Ehre gemacht hätte. Fast erwartete Jonah, dass ihrem Kleid eine perlenbestickte Schleppe wuchs, während sie vor ihm die Treppe erklomm. »Ich habe hier einen Säugling, der eine Amme braucht. Sie wissen ganz genau, dass Kinder das Einzige sind, was mich interessiert.«
»Und du weißt ganz genau, was ich von Frauen halte, die sich vor den Möglichkeiten verschließen, die Gott ihnen schenkt, nur weil sie so unglaublich stur sind.«
Miss Southerland zuckte leicht zusammen. »Tja, nur weil Sie bei Katherine recht hatten, heißt das nicht, dass das immer so sein muss.«
Georgia Harris legte Miss Southerland eine Hand auf die Schulter und ihr Gesicht wurde weicher. »Natürlich nicht, Liebes. Ich mache genauso viele Fehler wie alle anderen Menschen auch.« Sie kicherte leise. »Vielleicht sogar mehr, weil ich sehr dazu neige, mich einzumischen.« Ihr Blick fiel auf Sarah. Sie schob den Stoff beiseite, der das Gesicht der Kleinen verdeckte, um sie genauer zu betrachten. »Lasst uns die Süße ins Haus bringen. Ich habe schon eine Amme im Sinn. Tildy James entwöhnt gerade ihr jüngstes Kind. Ich bin sicher, sie ist damit einverstanden, die Kleine eine Zeit lang zu stillen. Dann wird sie vielleicht auch nicht so schnell wieder schwanger. Der Himmel weiß, wie schnell das bei ihr immer geht.«
»Das kommt eben davon, wenn man sich einen Mann angelt«, murmelte Miss Southerland.
Miss Georgia lachte laut auf, während sie auf die Haustür zuging, und schüttelte den Kopf. »Ein Punkt für dich, Liza. Obwohl es nichts Schöneres gibt, als ein Baby in den Armen zu halten, das aus der Liebe zwischen Mann und Frau hervorgegangen ist.« Auf der Schwelle hielt sie inne und ihre Stimme nahm einen verträumten Klang an. »Ich danke Gott jeden Tag für die drei Kinder, die er Abe und mir geschenkt hat. Sie zu haben, ist das Einzige, das mich über den Verlust von Abe hinwegträgt.« Ihre von der Arbeit gezeichneten Hände legten sich um Miss Southerland. »Sich um Kinder zu kümmern, wie du es tust, ist eine göttliche Berufung, Mädchen, aber so ist es auch mit dem Leben als Ehefrau und Mutter. Und in der Bibel habe ich nirgendwo gelesen, dass eine Frau nicht beides haben kann. Halte deine Augen und dein Herz offen, Kind. Mehr will ich ja gar nicht.«
Scheinbar hatten die Frauen ganz vergessen, dass er noch da war. Und ganz sicher würde er sich nicht in eine Unterhaltung über Heirat und Fortpflanzung verwickeln lassen. Langsam zog Jonah sich zurück. Es mochte vielleicht keine göttliche Berufung sein, sich um Pferde zu kümmern, aber dabei fühlte er sich wenigstens sicher. Sicherer jedenfalls, als sich um kleine Kinder zu kümmern.
Bevor ihm jedoch die Flucht gelang, wandte sich Miss Georgia zu ihm um und musterte ihn mit einem Blick, der einem Scharfschützen alle Ehre gemacht hätte. »Kommen Sie ins Haus, Mister«, sagte sie. »Ich habe Kaffee auf dem Herd und frisches Brot im Ofen.«
Jonah nahm den Hut vom Kopf, eine höfliche Geste, die seinen Rückzug verdecken sollte. »Vielleicht gleich, Ma’am.« Sobald sich die Unterhaltung um ein weniger heikles Thema drehte. Vielleicht um Komantschen. »Ich muss mich um die Pferde kümmern.«
»Mhm.« Skepsis war ihr anzusehen, doch sie bedrängte ihn nicht. »Ich schicke Samuel, damit er Ihnen hilft.«
»Vielen Dank.« Er war ihr dankbar, dass sie ihn entkommen ließ, mehr noch als dafür, dass sie ihm Hilfe schickte. Das wusste sie mit Sicherheit auch.
Samuel entpuppte sich als ein etwa zehnjähriger Junge, einer von Miss Georgias acht Enkeln, der immer wieder mehrere Wochen am Stück bei ihr verbrachte. Um die Einsamkeit fernzuhalten, erklärte Samuel, der die redselige Art seiner Großmutter geerbt zu haben schien.
Es gab keinen Grund, die Ponys auszuspannen, da sie die Rückfahrt antreten würden, sobald sie das Baby abgegeben hatten. Daher holte Samuel einen Eimer Wasser für die Tiere, während Jonah zum zweiten Mal das Zaumzeug kontrollierte, mit dem schon beim ersten Mal alles in Ordnung gewesen war. Außerdem beäugte er die Hinterachse und die Risse im Holz. Das alles gefiel ihm ganz und gar nicht. Wenn die Achse brach, könnte eine der Frauen von Harmony House bei der nächsten Fahrt mitten im Nirgendwo stranden. Bei dem Gedanken, dass Eliza ganz allein unterwegs wäre mit nichts als ihrem Stolz als Schutz, zog sich ihm der Magen zusammen. Der Wagen musste dringend repariert werden.
»Was sind Sie für einer, Mr Brooks?«
Jonah richtete sich auf und bemerkte erst jetzt, dass Samuel die ganze Zeit weiter vor sich hin geplappert hatte. »Was?«
»Ein Revolverheld oder ein Gesetzeshüter?« Der Junge zeigte auf die Pistole an seiner Hüfte. »Mama sagt immer, dass ich um solche Männer einen großen Bogen machen soll.«
»Hört sich an, als wäre deine Mama eine ziemlich kluge Frau.« Problemen aus dem Weg zu gehen, egal aus welcher Richtung sie kamen, war immer eine gute Idee. »Ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin ein Reiter. Vor Jahren war ich in der Kavallerie. Dann bin ich mit Hauptmann Hanger geritten. Jetzt bin ich im Ruhestand, denke ich. Aber ich trage immer noch eine Waffe.« Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich aus Gewohnheit.«
»Sie sind ein Buffalo Soldat?« Die Bewunderung in der Stimme des Jungen war Jonah unangenehm.
Als kleiner Junge war er genauso gewesen, hatte Männer angebetet, die ihrem Land mit Mut und Aufopferungsbereitschaft dienten. Männer, die aussahen wie er. Die sein Erbe teilten.
Doch nachdem er die Hässlichkeit des Krieges kennengelernt hatte, die Brutalität und Ungerechtigkeit, wollte Jonah nicht als eine Art Held angesehen werden. Nicht nach den Gräueltaten, die am Wounded Knee stattgefunden hatten.
»Jetzt bin ich kein Soldat mehr, Junge.« Jonah klopfte Samuel auf den Rücken und machte sich noch einmal daran, nach Tessie und Bessie zu schauen, obwohl die beiden alten Tiere nicht die Kraft gehabt hätten, ihr Zaumzeug zu lösen, auch wenn ihnen plötzlich aus unerfindlichen Gründen der Sinn danach gestanden hätte.
»Aber Sie waren einer.« Der Junge gab nicht auf und lief ihm hinterher wie ein Hündchen. »Vielleicht können Sie ja die Kinderdiebe stoppen.«
Jonah fuhr herum. »Die was?«
»Die Kinderdiebe.« Samuel blinzelte ihn an, in seinen Augen stand nichts als Aufrichtigkeit. »Rawley hat mir von ihnen erzählt. Sie kommen aus dem Wald, wenn niemand es sieht, und klauen Jungen, die alt genug sind, um allein unterwegs zu sein, aber zu klein, um sich zu wehren. Wenn ein Junge erst mal geschnappt ist, sieht man ihn nie wieder. Nie.«
»Samuel Crawford Harris! Was habe ich dir übers Geschichtenerzählen gesagt?« Georgia Harris stand mit in die Hüfte gestemmten Armen hinter ihrem Enkel und musterte ihn böse.
»Aber Oma, das ist die Wahrheit!«
Seine Hartnäckigkeit blieb. Sie hob eine Augenbraue. »Hast du denn mit eigenen Augen gesehen, wie ein Kind geschnappt wurde?«
»Nein, aber Rawley …«
»Rawley ist ein Vagabund, der mit einer Bande von Nichtsnutzen in Zugwaggons durchs Land reist und Unfug redet. Wahrscheinlich hat er sich die Geschichte nur ausgedacht, um dir Angst zu machen.«
Samuels Gesichtsausdruck blieb stur. »Das würde er niemals tun. Er ist mein Freund.«
»Obwohl deine Mutter dir den Umgang mit ihm verboten hat?« Sie drohte ihm mit erhobenem Zeigefinger. »Muss ich ein ernstes Wort mit deinem Vater reden, wenn er morgen kommt, um dich abzuholen?«
Aller Widerstand verschwand aus der Haltung des Jungen wie Wasser durch ein Sieb. »Nein, Oma.«
Miss Georgia nickte zufrieden und ihr Lächeln trat wieder auf ihr weiches Gesicht. »Das ist mein braver Junge. Und jetzt lauf ins Haus und schneid dir eine Scheibe Brot ab, weil du Mr Brooks so gut geholfen hast. Im Schrank steht Marmelade.«
Mit hängenden Schultern kehrte Samuel zum Haus zurück. Dabei kam er an Miss Southerland vorbei. Sie runzelte die Stirn und legte den Kopf schief, während sie ihm hinterherschaute, machte jedoch keine Anstalten, sich einzumischen.
»Ich beschreibe Ihnen den Weg zu Tildys Haus«, sagte Miss Georgia, doch Jonah hörte nur mit halbem Ohr zu. Sein Blick war immer noch auf Samuel gerichtet.
Als der Junge die Veranda erreicht hatte, ergriff er das Geländer und drehte sich noch einmal zu Jonah um. Sah ihn direkt an.
Ein Schauer durchfuhr Jonah. Märchen oder nicht, er konnte den Jungen nicht im Stich lassen.
Er nickte bestätigend. Samuel nickte ebenfalls.
Die Reiter hatten gerade einen neuen Auftrag bekommen.
Kapitel 8
Mark lehnte an der Hauswand und sah den Kindern beim Spielen zu. Kate ging ihm aus dem Weg. Schon seit Stunden. Nachdem er sich um die Pferde gekümmert hatte, hatte er sie in der Küche aufgesucht, wo sie Kartoffeln geschält hatte. Er hatte ihr seine Hilfe angeboten in der Hoffnung, etwas Zeit mit ihr verbringen zu können, damit sie sich ihm öffnete. Mit ein paar unverfänglichen Fragen über ihre Familie hatte er anfangen wollen. Hatte selbst von den Neuigkeiten erzählen wollen, die er dem letzten Brief seiner Mutter entnommen hatte. Hatte in Erinnerungen schwelgen wollen. Und dann hätte er sich vorsichtig auf das unbekannte Terrain begeben, das zwischen Vergangenheit und Gegenwart lag.
Doch sie hatte sich unversehens vor ihm zurückgezogen, hatte ihm die Schale mit Kartoffeln in die Arme gedrückt, sich für seine Hilfe bedankt und war dann verschwunden. Einfach so! Ohne eine Erklärung. Nur eine Entschuldigung hatte sie gemurmelt, dass sie die Babysachen im Schrank wieder auffüllen müsse. Als wäre das so eine dringende Angelegenheit gewesen. Das Abendessen war seiner Ansicht nach viel wichtiger, doch er hatte sie gehen lassen müssen, war zurückgeblieben, um einen Berg an Kartoffeln zu schälen.
Den hatte er heldenhaft erobert, ganz versessen darauf, die Maid mit seiner Messerkunst zu beeindrucken. Er war sogar so weit gegangen, die Kartoffeln klein zu schneiden und in den dafür bereitgestellten Topf mit Wasser zu legen. Alles umsonst. Kate war nicht zurückgekommen. So lange konnte das Auffüllen von Babysachen ja nicht dauern. Oder gehörte dazu, dass man per Hand neue Babydecken strickte. Ja wohl nicht. War also alles nur eine Ausrede gewesen.
Die Kate Palmer, die er einmal gekannt hatte, hätte einen Gast nicht sitzen lassen, vor allem nicht einen alten Freund, den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie wäre freundlich und gastfrei gewesen, hätte auf die Gefühle anderer Rücksicht genommen. Vielleicht manchmal ein bisschen zu viel Rücksicht, dachte er und runzelte die Stirn bei der Erinnerung daran, wie sie seinen Antrag vor all diesen Jahren abgelehnt hatte, weil sie ihm nicht zumuten wollte, seine Zukunft zu opfern, um ihren guten Ruf zu retten. Als wäre eine gemeinsame Zukunft mit ihr eine Art von Bestrafung gewesen.
Dass sie ihn mit dem Berg von Kartoffeln allein gelassen hatte, bedeutete höchstwahrscheinlich, dass er ihr Angst gemacht hatte. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Waren schlummernde Gefühle in ihr erwacht, wie es bei ihm geschehen war, oder war alles nur von seiner Seite ausgegangen? Vielleicht hatte sie seinen Antrag gar nicht aus so noblen Motiven heraus abgelehnt, wie er immer vermutet hatte. Vielleicht hatte sie einfach nur seine Gefühle schonen wollen und dabei die Tatsache überspielt, dass sie nie vorgehabt hatte, ihr Leben mit dem seinen zu verbinden. Hatte sie von Anfang an eine ruinierte Reputation einem Leben als seine Ehefrau vorgezogen?
Glücklicherweise rettete ihn ein Streit unter den Kindern davor, diesen deprimierenden Gedanken weiterzuverfolgen.
»Das ist meins!«, schrie Ted und stampfte mit dem Fuß auf. »Gib es mir zurück, Ruby!«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und reichte das hölzerne Pferd an den kleinen Jungen hinter sich weiter. »Du hast lange genug damit gespielt. Miss Katherine hat uns gesagt, dass wir teilen sollen. Schon vergessen?«
Mark drückte sich von der Hauswand ab und ging langsam auf die Kontrahenten in der Mitte des Hofes zu.
»Ich bin aber noch nicht fertig!« Ted griff nach dem Spielzeug und nahm es Quill weg, der daraufhin sofort anfing zu schreien.
Ruby versuchte ebenfalls, das Holztier zu packen, doch Ted flitzte davon und wusste wohl, dass Ruby ihn mit ihrem lahmen Bein niemals würde einholen können. »Das sage ich Miss Katherine!« Sie schleuderte ihm die Drohung hinterher, doch Ted drehte sich nur um und streckte ihr die Zunge heraus.
»Stopp, Partner.« Mark schnappte sich Ted mit einem Arm von hinten. »Ein Gentleman streckt einer Dame niemals die Zunge heraus.« Vorsichtig, aber bestimmt trennte er den Jungen von dem Spielzeugpferd. »Und er weigert sich auch nicht, mit seinen Freunden zu teilen.«
Ted trat um sich und traf Mark schmerhaft am Knie. »Das ist gemein! Ich bin dran.«
»Ich sag dir was. Warum spielen wir nicht einfach alle zusammen etwas anderes?« Mark ging zu einer kleinen Ulme hinüber, um deren Stamm die Wäscheleine gewickelt war, die sich über den Hof zur Veranda spannte. Er hob das hölzerne Pferd über den Kopf und stellte es in eine Astgabel.
Ted hörte auf zu zappeln und legte den Kopf in den Nacken, während er seinen Häscher kritisch musterte. »Was für ein Spiel denn?«
»Man nennt es Kavallerie.«
»Und wie spielt man das?« Die Frage kam von Ruby, die langsam mit einem Zwilling an jeder Seite auf sie zukam. Quill schniefte noch immer und rieb sich mit der freien Hand über die tränennassen Augen.
»Nun«, setzte Mark an, »als ich in der Armee war, war ich Trompeter. Es war mein Job, das Horn zu blasen.«
Abner, der neben der Scheune irgendetwas aus Steinen und Holzstöcken gebaut hatte, drehte sich neugierig zu ihnen um und kam ebenfalls zu ihnen. »Sie meinen, wie ein Kampfruf?«
»Jep. Aber es gab eine Vielzahl von verschiedenen Rufen. Die meisten waren dazu gedacht, den Soldaten zu sagen, was sie tun und wo sie hingehen sollen. Eine Melodie sagte den Männern, dass es Zeit war aufzustehen; eine andere befehligte sie zum Stall, um sich um ihre Pferde zu kümmern; wieder eine andere rief sie zum Essen oder zu ihren Drillübungen; dann gab es noch den Ruf zur Bettruhe; und der letzte – der Zapfenstreich – sagte ihnen, dass alle Lichter gelöscht werden mussten und man nicht mehr reden durfte. Wie wäre es, wenn ich euch diese Signale beibringe und wir ausprobieren, wie viele davon ihr euch merken könnt?«
Ted verknautschte sein Gesicht und sah Mark in die Augen. »Aber Sie haben ja gar keine Trompete dabei.«
Mark grinste. »Doch. In meiner Satteltasche. Sollen wir sie holen?«
Ein Chor aufgeregter Stimmen begleitete ihn auf seinem Weg zur Scheune.
Mark hatte Cooper und Augustus vorhin schon die Satteltaschen abgenommen und sie in ein Regal neben dem Eingang gestellt. Es dauerte nicht lange, die Klappe zu öffnen und den gesuchten Gegenstand hervorzuholen.
»Das ist ja nur ein Bündel alter Klamotten«, sagte Ted empört.
Mark lachte und hockte sich hin, um dem Jungen einen besseren Blick zu gewähren. Er wickelte das Instrument aus den verschiedenen Kleidungsstücken und zeigte ihm das glänzende Metall. »Als ich noch in der Armee war, habe ich mir die Trompete natürlich umgehängt, damit ich sie immer griffbereit habe. Aber seit ich ausgeschieden bin, bleibt sie in meiner Tasche. Zum Schutz wickle ich sie ein.«
Er nahm das Instrument in die Hand, wischte einen Fingerabdruck vom Schallstück und stopfte die Anziehsachen zurück in die Satteltasche. Es war nicht die Konzerttrompete, die er früher einmal beim Boston Symphonieorchester zu spielen gehofft hatte, doch diese hier transportierte seine Erinnerungen und die Musik. Er hing an diesem Instrument und hatte es der Armee abgekauft, als er seinen Dienst quittiert hatte. Mark hatte sie keinem anderen Trompeter überlassen wollen, der sie vielleicht nur als ein Stück Blech ansah.
»Und jetzt«, sagte er und richtete sich auf, »lasst uns mit dem Spiel beginnen!«
Mark legte die Lippen ans Mundstück und ließ die wohl eindrücklichste Melodie erklingen, die er in seinem Repertoire hatte. Gleichzeitig streckte er dramatisch den linken Arm aus, zackig wie einen Kavalleriesäbel.
Abner war der Erste, der laut schrie. »Angriff!«
Die anderen stimmten in seinen Ruf ein, während sie aus der Scheune flitzten und sich über den Hof verteilten.
* * *
Was für ein Feigling musste man sein, um sich hinter Babykleidung zu verstecken? Katherine seufzte, schüttelte den Kopf und schloss die Schranktüren. Sie hatte den Stapel mit Windeln durchgezählt. Es waren fünfzehn Stück. Auch nach viermal Zählen war keine einzige Windel dazugekommen.
Sie richtete sich aus der Hocke auf. Er war doch nur ein Mann, um Himmels willen. Ein alter Freund. Man ließ seine Freunde nicht einfach so allein dastehen. Jedenfalls nicht, ohne einen sehr guten Grund dafür zu haben. Als er da so plötzlich vor Charme sprühend und lächelnd in der Küchentür gestanden hatte, hatte sie sich einfach nicht zu helfen gewusst und hatte den Rückzug angetreten. Aber sie war eine erwachsene Frau, die jetzt wieder das Kommando übernehmen musste. Ihr war klar, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hatte.
Zeit, diesen Fehler zu korrigieren.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand, und war erschrocken. Der kleine Zeiger näherte sich ja schon der fünf. Gütiger Himmel! Eine Stunde? Ihre Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, hätte sie von dieser Unhöflichkeit erfahren. Sie hatte das Haus ein paarmal verlassen, um nach den Kindern draußen zu sehen, doch hatte sie dabei stets die Vordertür gewählt, um die Küche zu meiden. Mittlerweile war Mark jedoch bestimmt nicht mehr dort. Höchstwahrscheinlich hatte er die Kartoffeln wenige Minuten nach ihrem Verschwinden stehen lassen. Doch wo war er jetzt? Sie hätte ihn gehört, wäre er im Haus herumgelaufen. Doch auch im Hof hatte sie ihn nicht entdeckt. Vielleicht hatte er sich zu seinem Pferd in die Scheune gesellt. Das würde ihn bestimmt nicht einfach so allein stehen lassen.
Sie seufzte tief, dann ballte sie die Fäuste, hob das Kinn und streckte entschlossen die Schultern nach vorn. Kein Herumjammern mehr. Wenn sie es schaffte, sich engstirnigen Stiftungsleitern und voreingenommen Bankiers zu stellen, konnte sie auch mit Mark Wallace Konversation betreiben.
Kaum zwei Schritte hatte sie gemacht, als sie die durchdringenden Töne einer Trompete über das Grundstück schallen hörte. Kurz, abgehackt. Sofort zu erkennen. Eine Melodie tiefer Noten gefolgt von einigen hohen, die sich dann wieder absenkten. Katherine lief in die Küche und blickte aus dem Fenster, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Kinder aus der Scheune strömten. Mark bildete die Nachhut, eine Trompete in den Händen.
Er spielte immer noch und ihr Herz machte einen freudigen Satz. Als er zur Armee gegangen war, hatte sie befürchtet, er würde der Musik den Rücken zuwenden. Gott hatte Mark mit einer unglaublichen musikalischen Gabe beschenkt. Die Befürchtung, dass sie ihm diese unbeabsichtigt gestohlen haben mochte, hatte sie noch Monate nach seinem Weggang deprimiert. Die zurückgebliebenen Schuldgefühle waren es wahrscheinlich auch gewesen, die sie heute zur Flucht getrieben hatten. Doch sie hätte es besser wissen müssen. Eine gottgegebene Gabe konnte einem Mann nicht genommen werden. Oder einer Frau. Man konnte sie vielleicht verleugnen oder unterdrücken, doch niemals würde man sie einem Menschen nehmen können. Der Herr hatte Mark einfach eine andere Möglichkeit gegeben, sie zu gebrauchen.
So, wie er es jetzt gerade bei ihren Kindern tat. Sie saßen ihm zu Füßen, schenkten ihm ihre gespannte Aufmerksamkeit, während er die Trompete wieder an die Lippen führte und eine andere Melodie spielte. Eine, die so schnell die Tonleiter auf und ab wanderte, dass sie das Gefühl hatte, sie müsse sich in Bewegung setzen.
Er hörte auf zu spielen und gab einige Erklärungen ab, die sie nicht hören konnte, doch als die Kinder sich plötzlich alle auf den Boden legten und die Augen schlossen, konnte sie sich vorstellen, was der Ruf zu bedeuten hatte. Er spielte den Ruf noch einmal und die Kinder sprangen auf, taten so, als würden sie ihre Bettdecken ausschütteln, dann reihten sie sich nebeneinander auf und salutierten.
Ein fröhliches Lachen entschlüpfte ihr. Das Wecksignal.
Katherine biss sich auf die Lippen und wandte sich vom Fenster ab. Er war so gut darin, Späße zu machen und um sich herum gute Laune zu verbreiten. Selbst mit Kindern gelang es ihm. Er würde eines Tages ein wunderbarer Vater sein. Ein Ziehen in der Magengrube trieb ihr unerwartete Tränen in die Augen, doch sie blinzelte sie weg. Sie musste Kartoffeln schälen.
Doch da hatte sie sich gründlich geirrt. Der Arbeitstisch war sauber. Keine Kartoffeln, Schalen oder auch nur ein benutztes Messer lagen herum. Nur der Topf. Sie schaute hinein. Dieser Mann. Natürlich hatte er seine Aufgabe mehr als erfüllt. Nicht nur dass er die Kartoffeln zusätzlich auch noch in Stücke geschnitten und ins Wasser getan hatte, er hatte auch alle Arbeitsflächen sauber gewischt. Er verdiente keine Frau, die so verängstigt war, dass sie ihm aus dem Weg ging. Zumindest schuldete sie ihm einen angemessenen Dank.
Entschlossen marschierte Katherine zur Hintertür, die hinaus auf den Hof führte, wo Mark gerade ein Spielzeugpferd aus der Ulme nahm. Wie es überhaupt dorthin gekommen war, konnte sie sich nicht erklären.
»Das nächste Hornsignal ist der Ruf zu den Pferden.« Er ging den halben Weg zur Scheune und zeichnete dabei mit dem Absatz seines Stiefels ein Rechteck in den Staub und platzierte das Pferd in die Mitte davon. »Wenn ein Kavallerist aufwacht, ist es seine erste Pflicht, sich um sein Pferd zu kümmern.«
Er hob die Trompete, spitzte die Lippen und blies. Sie hatte diesen Appell noch nie gehört. Die Melodie ging in einer Tonleiter in die Höhe, blieb aber immer wieder auf einem Ton stehen, auf dem dann ein unfassbar schneller Rhythmus gespielt wurde, der von beeindruckenden technischen Fähigkeiten zeugte. Vielleicht war Mark heute sogar noch besser als damals, als er sich fürs Orchester beworben hatte.
Sie blieb stehen, da sie das Spiel nicht unterbrechen wollte. Außerdem genoss sie es, ihn zu beobachten. Ihm beim Musizieren zuzuhören. Sich an die glücklichen Zeiten zu erinnern, die sie gehabt hatten. Ihr Lachen. Ihre Musik.
»Wenn ein Soldat diesen Ruf hört, beeilt er sich, zur Pferdestange zu laufen, den Bereich hinter seinem Pferd auszumisten und sein Tier zu füttern, zu tränken und zu striegeln. Wenn ihr also diesen Appell hört, tut ihr so, als würdet ihr eine Mistgabel in der Hand halten. Ja! Genauso, wie Abner es macht.«
Schnell imitierten alle Kinder Abner.
Mark ließ den Ruf zu den Pferden erschallen und die Kinder eilten zu dem Holzpferd um nach Leibeskräften imaginären Schmutz wegzuschaufeln.
»Exzellent! Jeder von euch wäre der perfekte Kavallerist. Der nächste Ruf war immer mein Lieblingsappell, weil er bedeutet, dass es Zeit zum Essen ist.« Mark klopfte sich auf den Bauch. »Mmmmh.«
Die Kinder kicherten. Katherine grinste.
»Wo esst ihr normalerweise zu Abend?«, fragte Mark die Versammelten.
»In der Küche!«, rief Quill und zeigte mit seinen Fingern genau auf die Stelle, wo Katherine stand.
»In der Küche. Natürlich.« Marks Blick schwenkte in Richtung Haus und blieb an Katherine hängen. Einen Augenblick lang schwieg er, dann sah er ihr fest in die Augen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder den Kindern zuwandte. »Wenn ihr den nächsten Ruf hört, lauft ihr zu Miss Katherine und tut so, als esst ihr eine Schüssel« – er blickte wieder zu ihr und zwinkerte ihr zu – »Kartoffeln.«
Katherines Gesicht erwärmte sich, doch sie hielt seinem Blick stand und nickte ihm zustimmend zu. Sie verdiente diesen kleinen Seitenhieb.
Das Spiel dauerte noch etwa eine halbe Stunde. Mark spielte verschiedene Appelle – den Weckruf, den Ruf zu den Pferden, den Essensruf und den Zapfenstreich –, während die Kinder seine Anweisungen pantomimisch darstellten. Zuerst gab es sehr viel Verwirrung. Die Kinder warteten eigentlich immer auf Abner und imitierten das, was er tat. Aber mit der Zeit wuchs ihre Selbstsicherheit und sie versuchten sich gegenseitig darin zu übertreffen, wer die Appelle am schnellsten erkannte und ausführte.
Mark beendete das Spiel mit einem letzten Ruf zum Zapfenstreich. Der klagende Laut scholl durch die Abendluft, als die Kinder sich auf den Boden legten und so taten, als würden sie schlafen.
Ruby war die Erste, die sich wieder aufrichtete. »Können Sie auch Lieder spielen? Vielleicht ›Unterm Holderbusch‹?«
Mark setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. »Wenn ich meine Ventiltrompete hätte, schon.« Er wedelte mit den Fingern über dem Mittelstück seines Instrumentes. »Sie hat … Knöpfe, so könnte man sie nennen. Wenn man die Knöpfe auf verschiedene Weise drückt, kann man jede Note eines Liedes spielen. Aber
Signaltrompeten wie diese hier können nur fünf unterschiedliche Töne spielen.« Er legte sich die Trompete in den Schoß und grinste Ruby an. »Aber wir können das Lied ja zusammen singen!« Er holte vernehmlich Luft und stimmte eine stürmische Interpretation von »Unterm Holderbusch« an.
Danach wünschte sich jedes Kind ein Lied und Mark gab es zum Besten. Vor allem bei seiner melodramatischen Darbietung von Teds Wunschlied »Home on the Range« mimte er den trauernden Cowboy so komisch, dass die Kinder eher lachten als mitsangen.
Katherine summte mit und wiegte sich hin und her. Dabei merkte sie gar nicht, wie der Gesang sie mehr und mehr in ihren Bann zog. Ehe sie sich versah, stand sie direkt hinter Mark.
Als Abner sich von seinem Lachanfall erholt hatte, lächelte er sie an. »Welches Lied wünschen Sie sich, Miss Katherine?«
»Ach, ich weiß nicht …«
»Ich aber!« Ohne ihr einen Einwand zu erlauben, reichte Mark Abner seine Trompete und sprang auf die Füße. »Es geht ein Vögelein im Morgenschein … und ein Brünnlein klar …«
Sie schüttelte den Kopf. Das konnte er nicht ernst meinen.
Seine Augen tanzten herausfordernd und bettelten gleichzeitig, als er ihr die Hand hinhielt. »Sing mit mir, Kate. Die Kinder werden sich freuen.«
Dieses Lied hatten sie schon vor zehn Jahren in Westfield zu einer Schulaufführung zum Besten gegeben – eine jugendliche Torheit. Die bei ihr den Eindruck erweckt hatte, Mark und sie würde etwas ganz Besonderes verbinden. Und die sie kühn gemacht hatte, viel zu kühn für ihren Geschmack. Doch wie sehr hatte sie es geliebt, mit ihm zu singen.
Singen. Händchen halten. Sich wie ein verliebtes Pärchen verhalten. Sie hatte jede Sekunde davon genossen. Damals hatten sie bei Mark zu Hause geprobt, damit seine Mutter sie auf dem Klavier begleiten konnte. Marks anziehendes Lächeln, sein Flirten, wann immer seine Mutter den Raum verlassen hatte. Seine weiche Stimme, die perfekt mit der ihren harmonierte und die Noten fand, die nicht einmal auf dem Liedblatt niedergeschrieben waren. Als würden ihre Stimmen miteinander verschmelzen.
Es waren die zwei besten Wochen ihres Lebens gewesen.
»Singen Sie, Miss Katherine«, riefen die Kinder. »Bitte singen Sie!«
Sie starrte auf Marks ausgestreckte Hand, dann schaute sie ihm in die Augen.
»Komm schon, Kate, um der alten Zeiten willen.«
Was war schon dabei? Schließlich war es ja nur ein Lied.
»Na gut.«
Die Kinder jubelten, doch es war die Freude in Marks funkelnden Augen, die die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen ließ.
Zehn Jahre und sie konnte sich noch immer nicht gegen die Wirkung dieser Augen wehren. Am besten forderte sie ihr Schicksal nicht auch noch dadurch heraus, dass sie ihn berührte.
»Wenn wir das wirklich machen wollen«, sagte sie und wirbelte mit wehendem Rock weg von seiner ausgestreckten Hand, »können wir ihnen auch gleich die ganze Darbietung zeigen.«
Mark tippte sich an den Hut. »Ja, Ma’am.« Er ging einige Schritte in die andere Richtung, bevor er sich wieder umdrehte und sie ansah. Dann richtete er sich auf, nahm eine schauspielerhafte Pose ein und machte einen Schritt in ihre Richtung.
»Wär ich ein Vögelein, grüßt ich im Morgenschein, Liebchen, dich schon«, sang er in fehlerfreier Tonlage, obwohl er keine Begleitung hatte.
Sie machte ebenfalls einen Schritt in seine Richtung, sah aber überallhin, nur nicht in seine Augen. »Sitzend auf deiner Hand, säng ich zu dir gewandt, lieblichen Ton, lieblichen Ton.« Dabei streckte sie ihm die Hand entgegen, wie sie es damals auch getan hatte.
Mark zuckte mit den Augenbrauen. Ihr Publikum lachte begeistert.
Im zweiten Teil war es an ihr, die Strophe zu eröffnen. »Wär ich ein Röschen klein, wollt ich recht duftend sein, atmen um dich.«
»Nimmer mich wehren wollt, Dörnchen nicht stechen sollt, pflückest du mich, pflücktest du mich«, führte er ihren Gesang in perfekter Harmonie weiter, als hätte es diese zehn langen Jahre nie gegeben.
Mark ging noch einen Schritt auf sie zu und bot ihr seinen Arm an. Bevor er gemeinsam mit ihr in die letzte Strophe einstimmte, summte er den Instrumentalteil, der jetzt eigentlich gekommen wäre. An dessen freudigem Ende fasste er sie um die Taille und wirbelte sie zur Freude der Kinder einmal im Kreis herum.
Arm in Arm kamen sie zum Stehen und stimmten die letzte Strophe an, die sie schon immer zweistimmig zum Besten gegeben hatten. »Wär ich ein Brünnlein klar …« Katherine nickte Mark zu und senkte lächelnd die Lider. »böt ich dir Kühlung dar, frischen Genuss.«
Nun würde das große Finale folgen, bei dem Mark sich hinknien und sie auf seinem Bein Platz nehmen würde.
»Nahte dein Mund sich mir, quöll ich zur Lippe dir, weich wie ein Kuss, weich wie ein Kuss.«
Diese Zeile ließ Katherine innerlich zusammenzucken, doch sie hoffte, dass niemand ihr etwas anmerkte. In einer großen Geste ging Mark auf ein Knie, doch obwohl sie darauf gefasst gewesen war, traf sie plötzlich die Erinnerung an einen ganz anderen Augenblick, als er vor ihr auf die Knie gegangen war, und sie verfehlte ihre finale Sitzposition auf seinem Bein. Während Marks kräftiger Tenor noch die letzte Note des Liedes aushielt, rutschte sie nach hinten und fiel quietschend rücklings in den Staub. Mark versuchte noch, sie festzuhalten, doch dabei gingen sie beide zu Boden.
»Kate? Alles in Ordnung?« Mark richtete sich auf und suchte besorgt ihr Gesicht ab.
Sie musste lachen. Es brach geradezu aus ihr heraus, zuerst nur als zaghaftes Kichern, dann ergriff es immer mehr von ihr Besitz, bis ihr schließlich die Tränen in den Augen standen. Auch Mark stimmte mit ein und die Kinder ebenfalls. Minutenlang wurde Katherine von Lachsalven geschüttelt, bis ihre Bauchmuskeln schmerzten und sie kaum noch Luft bekam. Doch das war ihr egal. Das Lachen fühlte sich einfach unglaublich gut an. Es wusch die unnötigen Sorgen weg, die sie an die Vergangenheit banden, und erlaubte ihr, sich über die Gegenwart zu freuen.
Eine Gegenwart, in der es Mark und die Kinder gab. Es mochte nur dieser eine kurze, wertvolle Augenblick sein, doch sie würde ihn in sich aufnehmen und in ihrem Herzen für die Zeiten aufbewahren, in denen die Einsamkeit wieder von ihr Besitz ergreifen würde.